Letzte Woche war ich in Ostende. Viele finden diesen Ort schrecklich. Ein touristischer Rummelplatz, dem man seine ruhmreiche Geschichte nicht mehr ansieht. Vor hundert Jahren war es ein mondänes Seebad, hier vergnügte sich halb Europa. Ich mag Ostende, weil ich hier zum ersten Mal das Meer sah. Am Weg von Schärding nach London. Ostende das war für mich als Kind die große weite Welt. Machte doch der Wien-Ostende Express täglich in meinem Heimatstädtchen Halt. Als Kind hatte ich mir immer gewünscht, einmal dort hinzukommen, wo dieser sagenhafte Zug endete. Ein Zug, der ganz anders war, als jene Züge, die auf dieser Strecke normalerweise verkehrten.
Auch als Abgeordneten in Brüssel packt mich noch hin und wieder die Sehnsucht nach diesem Ort. So auch in der letzten Woche vor der Sommerpause. Seeluft macht den Kopf frei und öffnet den Horizont. Diesmal war meine Begegnung mit Ostende anders. Ich konnte meinen Kopf nicht freikriegen. Eine Installation, von der Kommunalverwaltung an der Strandpromenade angebracht, zeigte ein Bild, auf dem Soldaten zu sehen sind, die die Stadt 1944 befreiten. Ich dachte an Stefan Zweig, der diesen Augenblick wohl gerne erlebt hätte. Zweig war oft an diesem Strand und im nahegelegen De Haan. Auch im Sommer 1914. Er berichtet (1) vom ausgelassenen Leben in diesen Tagen. „ Aber plötzlich schob sich etwas Neues dazwischen. Plötzlich sah man belgische Soldaten auftauchen, die sonst nie den Strand betraten. Maschinengewehre wurden – eine sonderbare Eigenheit der belgischen Armee – von Hunden auf kleinen Wagen gezogen.“
Zweig berichtet auch, wie lächerlich ihm und seinen Künstlerfreunden, mit denen er in einem Strandcafe saß, dieses martialische Gehabe vorkam und wie verärgert ein belgischer Offizier reagierte als die Tischgesellschaft einen der Hunde zu streicheln versuchte. Die meisten betrachteten diese Szene als „dummes Herummarschieren“, so auch Zweig. „Mir schien es völlig absurd, daß, während Tausende und Zehntausende von Deutschen hier lässig und fröhlich die Gastfreundschaft dieses kleinen, unbeteiligten Landes genossen, an der Grenze eine Armee einbruchsbereit stehen sollte.“ Wenige Tage später geschah das Unerwartete. Österreich-Ungarn erklärte Serbien den Krieg und setzte damit eine allen Beteiligten im Voraus bekannte Kettenreaktion in Gang. Zweig, der immer noch nicht an das Unvorstellbare Glaubende war glücklich, noch ein Zugticket nach Wien zu bekommen: „Denn dieser Ostendeexpreß wurde der letzte Zug, der aus Belgien nach Deutschland ging…….Wir standen in den Gängen, aufgeregt und voll Ungeduld….niemand vermochte ruhig sitzen zu bleiben oder zu lesen….Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: ich fuhr in den Krieg.“
Die Passagiere dieses letzten Zuges wurden unvermutet zu Zeugen des völkerrechtswidrigen Einmarsches des Deutschen Reichs in Belgien. Zweig beschreibt, wie sehr die Menschen in den Bahnhöfen in Deutschland und Österreich, an denen der Zug hielt bereits von der Kriegsbegeisterung erfasst waren und dass es ihm selbst schwerfiel, davon nicht unbeeindruckt zu bleiben. Mit Sicherheit hat der Ostende-Express damals auch in Schärding angehalten und Zweig wird wohl den alten Männern meiner Kindheit begegnet sein, die damals als junge Freiwillige wohl ebenso kriegsbegeistert waren. Solche ganz und gar unsommerliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, auf der Strandpromenade in Ostende, heuer im Juli 2014. Und ich fragte mich, ob wir nicht auch jetzt – hundert Jahre danach – ganz nahe am Abgrund dahin spazieren.
Sollte man nicht die Ereignisse rund um die Ukraine, um Gaza, in Syrien, im Irak und in Libyen als Menetekel dräuenden Unheils sehen? Sollten wir nicht alles daran setzen, dass sich politische Vernunft durchsetzt. Dass Diplomatie und Staatskunst zum Zuge kommen. In Europa bestehen dafür gute Voraussetzungen. Wir haben in der Tat viel aus unserer unheilvollen Geschichte gelernt. Vielleicht sollten wir in dieser angespannten, historisch aufgeladenen Situation auf den australischen Historiker Christopher Clark hören, der mit seinem Bestseller „Die Schlafwandler“ eine für die gegenwärtige politische Lage sehr hilfreiche Geschichte des Ersten Weltkriegs verfasst hat. Und wir sollten auch beachten, was er in seiner Rede bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele vor wenigen Tagen sagte. Er meinte, wir könnten eine Wiederholung dieser schrecklichen Dinge verhindern, indem er auf das europäische Einigungswerk verwies, das zwar gegenwärtig „eine schlechte Presse“ habe: „Aber wer die EU wie ich von außerhalb betrachtet …. sieht in ihr einen Akt transnationalen politischen Willens, der zu den größten Errungenschaften der Geschichte der Menschheit gehört.“ Das sollte uns nicht zur Selbstzufriedenheit verführen. Aber wir sind immerhin auf halbem Weg.
Stefan Zweig und seine Freunde, die mit ihm den Sommer 1914 auf dem Strand von Ostende verbrachten, die würden sich vor Fassungslosigkeit die Augen reiben, könnten sie erleben, was sich in diesen hundert Jahren verändert hat. Sie, die damals von einem Geeinten Europa geträumt hatten, würden wohl auch die hässlichen Bauten in Kauf nehmen, die heute den Strand verunzieren. Und auch, dass es keinen Ostende–Express mehr gibt.
1) Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Erinnerungen eines Europäers, 38. Auflage, Frankfurt am Main 2010, S. 251 ff.
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Ende der 1980er-Jahre war ich gemeinsam mit Barbara Prammer in der SPÖ Sektion Keferfeld tätig. Es war eine der kritischsten Sektionen der wahrlich nicht unkritischen Linzer Bezirksorganisation. Leidenschaftlich wurde über Wichtiges und weniger Bedeutsames diskutiert, immer unter grundsätzlicher Perspektive. Das konnte gar nicht anders sein – fanden die monatlichen Sitzungen doch unter einem Porträt von Bruno Kreisky statt, das er der Sektion Keferfeld persönlich gewidmet hatte.
Barbara Prammer, die sich nicht nur in frauenpolitischen Fragen engagierte, bei denen sie schon in frühen Jahren bundespolitisch wahrgenommen wurde, gehörte zu jenen realistischen Stimmen, die zum einen die Notwendigkeit der Bewahrung unserer damaligen Sozial- und Umweltstandards vertraten. Gleichzeitig war ihr klar, dass dies nicht möglich war, wenn der Blick auf die kleine Welt der Sektion, des Bezirkes oder der Republik beschränkt blieb. Nur wer in der Lage sei mitzureden, könne auch negative Entwicklungen hintanhalten. Sie war Neuem und Ungewöhnlichem gegenüber offen und hatte gegenüber Fremdem keine Berührungsängste. Ängste, die in der damaligen Sozialdemokratie noch viel stärker ausgeprägt waren als gegenwärtig. Ihr besonderes Engagement galt etwa der Unterstützung des Freiheitskampfes des sahaurischen Volkes. Das brachte neue Akzente in das vom retrospektiven Blick auf die glorreiche Geschichte und von der Bewältigung der aktuellen Stadtteilprobleme geprägte Sektionsleben.
Barbara wurde zu einer Leitfigur der österreichischen Sozialdemokratie, die weit über das Land hinaus Anerkennung und Beachtung findet. Sie hat ihre Grundsätze beibehalten, oftmals mit bewundernswerter Beharrlichkeit. Allerdings war sie keine Traditionalistin. Wie kaum jemand in der Funktion als oberste Parlamentarierin Österreichs hat sie politische Debatten losgetreten oder Reformen angestoßen. Mit der Gründung der Demokratiewerkstatt im Palais Epstein hat sie den bisher wichtigsten Beitrag zur in Österreich sträflich vernachlässigten Politischen Bildung geleistet.
Barbara Prammer war eine große Frau, die sich gewünscht hätte, dass wir mutig sind. Mut ist auch das, was wir jetzt brauchen, um den schweren, viel zu frühen Verlust umzugehen. Es liegt an uns, ihr Andenken zu bewahren und mutig die Zukunft zu gestalten. Genauso wie sie es gewollt hätte.
Dieser Text (adaptiert) ist in der Festschrift zum 60-jährigen Geburtstag von Barbara Prammer erschienen.
In diesen Tagen gab es wichtige personelle Weichenstellungen im Europäischen Parlament. Neue Abgeordnete kamen und alte gingen. Momente des Abschiednehmens, der Freude und Neugierde, aber auch viel Enttäuschendes, mitunter Ärgerliches. Hektische Tage also.
Mir ließ dennoch ein Thema keine Ruhe: Die Situation in Ungarn. Nicht nur wegen meiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Nachbarland. Auch hier gibt es viele neue Gesichter. Plötzlich habe ich es mit zwei ungarischen Delegationen in meiner Fraktion zu tun. Von meinen früheren Fraktionskollegen ist niemand mehr dabei. László T?kés, bislang als rumänischer Abgeordneter in den Reihen der EVP tätig, vertritt nun Ungarn, ohne freilich seinen Wohnsitz dorthin gewechselt zu haben. Viktor Orban hat ihn angeblich dazu ermutigt. Mir sind diese Vorgänge nicht egal.
Ungarn, das war und ist etwas Besonderes für mich. Für die meisten Menschen in Österreich ist das wahrscheinlich genauso. Ungarn ist uns allen nahe, obwohl wir es gar nicht wirklich kennen. Ungarn, das ist gemeinsame Geschichte, die wir freilich nie begriffen haben.
Ich versuche mich zu erinnern, wann ich zum ersten Mal mit Ungarn konfrontiert wurde. Es war im Zusammenhang mit dem Aufstand 1956. Fernseher gab es noch keinen. Ich war gerade in die Volksschule gekommen und begierig, meine Lesekenntnisse an allem Gedruckten zu erproben. Die Zeitungen waren voll von Berichten über Ungarn, mit vielen unheilvollen Bildern. Alles in Schwarz-Weiß. Ich erinnere mich noch genau an diese Eindrücke und daran, dass ich es als Erstklassler nicht schaffte, einzelne Namen in der Zeitung zu buchstabieren.
Einer davon wird wohl Imre Nagy gewesen sein, der später, in der Studentenzeit, zu einem meiner Helden werden sollte. In einer Reihe mit Alexander Dubcek und anderen, die versuchten hatten, Sozialismus und Demokratie in Einklang zu bringen. Nagy war in jenen kritischen Tagen ungarischer Ministerpräsident und verantwortlich dafür, dass sich Ungarn vom Warschauer Pakt lossagte. Vergebens, wie wir wissen. Er bezahlte dafür mit dem Leben, wurde hingerichtet und verscharrt. Für mich als Sozialdemokrat war er kein Konterrevolutionär, wie für viele Linke damals, vielmehr war er ein Freiheitskämpfer. All die Jahre hegte ich Sympathie für jene, die versuchten, unter den fürchterlichen Bedingungen des Stalinismus und seiner Nachfolgeregime die Fahne der Demokratie und Geistesfreiheit hochzuhalten. Als Präsidenten der österreichischen Volkshilfe erfüllt es mich mit großem Stolz, dass meine Vorgänger ganz vorne mit dabei waren, die aufständischen Nachbarn aktiv zu unterstützen und ihnen als Flüchtlinge Asyl zu gewähren. Das war ganz in der großen humanitären Tradition der österreichischen Sozialdemokratie. Damals war das noch so etwas wie ihr Alleinstellungsmerkmal.
Ungarn, das war für uns in Österreich der ständige Versuch, das starre Korsett des Kommunismus zu lockern. Mit allen Mitteln, nicht immer mutig, oft phantasievoll, auf jeden Fall nachhaltig. Es war logischerweise an der österreichisch-ungarischen Grenze, wo der Eiserne Vorhang Risse bekam. Das war nicht zuletzt auch eine Folge der vielfältigen Kontakte, die im Lauf der Jahre als Konsequenz der Entspannungspolitik aufgebaut werden konnten. Ich habe in diesen Jahren viele Menschen kennen und schätzen gelernt. Und alle haben wir uns gemeinsam gefreut, als die Freiheit, für die die Aufständischen damals gekämpft hatten, endlich Wirklichkeit wurde. Und alle haben wir von einer leuchtenden Zukunft für die Völker, die den Donauraum besiedeln, geträumt.
Die Welt schien offen zu stehen, für alle. Überall Chancen. Die Öffnung der Grenzen veränderte den Charakter der Beziehungen. Nun waren Dinge möglich, von denen man bis zu diesem Zeitpunkt nur geträumt hatte. Es geschah auch bisher Unvorstellbares. Ungarn wurde zum ergiebigsten Handelspartner. Eine richtige Goldgräberstimmung kam auf. Nicht immer waren es Win-win Situationen. Oft zogen unsere ungarischen Nachbarn den Kürzeren und fühlten sich über den Tisch gezogen – wie etwa im Fall der Fremdwährungskredite. Solches Vorgehen bereitete schließlich auch den Boden für die populistischen Manöver Victor Orbans.
25 Jahre, nach dem sich die Außenminister Ungarns und Österreichs, Horn und Mock, in einem wahrhaft symbolischen Akt mit der Schneidezange an den Eisernen Vorhang herangemacht hatten, ist die Bilanz dieser neuen Ära ernüchternd. Die Euphorie ist verflogen und beide Nachbarn praktizieren die Kunst des Wegschauens. Darin haben wir ja jahrhundertelange Übung. Diese historische Erfahrung lehrt uns auch, dass im österreich-ungarischen Verhältnis auf eine Phase der Ignoranz zumeist Verwerfungen folgten. Danach sieht es auch gegenwärtig aus. Anders als 1956 oder 1989 besteht kein Gleichklang der Entwicklung. Die Interessen bewegen sich nicht aufeinander zu. Sie entfernen sich mit zunehmender Geschwindigkeit. In dieser neuen Ungleichzeitigkeit liegt das Problem unserer künftigen Beziehungen. Zwar leben wir in einem gemeinsamen Raum ohne Grenzen und in einem Binnenmarkt, der genau den Wohlstand und das gute Leben ermöglichen könnte, von dem die Menschen einst träumten. Doch die ungarische Politik hat sich aus diesen zugegebenermaßen schwierigen Fragen zurückgenommen. Sie lebt in immer stärkerem Ausmaß vom Rückgriff auf die (unbewältigte) Vergangenheit.
Das begann schon damals, als das offensichtliche Ende des „Gulaschkommunismus“ eingeläutet wurde, bei der spektakulären Umbettung der sterblichen Überreste von Imre Nagy und seiner Gefährten im Juni 1989. Ich erinnere mich noch gut an diesen Akt, der damals große mediale Aufmerksamkeit fand und auch an einen jungen, unrasierten Mann im offenen Hemd, Victor Orban, der so gar nicht zu den übrigen Akteuren, allesamt Teil der herrschenden Nomenklatura, passte. Er vertrat die oppositionelle Jugend, forderte freie Wahlen und den Abzug der sowjetischen Truppen. Das war sein Eintrittsticket in die ungarische Politik. Zunächst als Suchender. Die ersten Gehversuche machte er als Liberaler, bis er schließlich in der christdemokratischen Parteienfamilie – nicht immer zu deren Begeisterung – seinen endgültigen Platz fand. Ursprünglich hatte er sogar versucht, bei den Sozialdemokraten zu ankern. Orbans Antrieb ist nicht so sehr ideologischer Natur, es ist sein ausgeprägter Machttrieb, der sich ideologische Positionen nach dem Opportunitätsprinzip zu eigen macht. Orbans Ultima Ratio heißt Orban.
Nur schwer verkraftete er, dass er 2002 schon nach einer Amtsperiode aus dem Amt des ungarischen Ministerpräsidenten gewählt wurde und auch 2006 nicht reüssieren konnte. Gegen die verhassten Sozialisten setzte er daher auf eine gnadenlose Oppositionspolitik, verteufelte Ferenc Gyurcsány wegen dessen „Lügenrede“ und begann auf dem Klavier des Nationalismus zu spielen, auch um den Preis, damit die rechtsradikale Jobbik ins politische Spiel zu bringen. Es wurde viel über Gyurcsánys Geheimrede geschrieben. Weniger bekannt ist, dass Orban, ein Jahr vor seinem triumphalen Wahlsieg in einer geschlossenen Veranstaltung versprach, „statt „dualem Parteihader“ seine Partei im „zentralen politischen Kraftfeld“ für die kommenden 15 bis 20 Jahre „zum allein herrschenden Machtfaktor“ machen.“
Dieser Vorgang ist seit 2010 im Gang. Europa, das zunächst der Entwicklung in Ungarn sehr kritisch gegenüber stand, scheint sich damit abzufinden. Und es sollte genau hinhören, was Orban sagte, als er vor wenigen Wochen die Festrede zur Wiedererrichtung eines Denkmals für István Tisza hielt, Ungarns Ministerpräsident von 1903-1905 und 1913-1917. Dieser hatte posthum vor allem während der Horthy Diktatur große Popularität erlangt. Orban nutzte seinen Auftritt für eine große Rede, in der er, ähnlich wie 1989, versuchte, das Land in der politischen Landschaft zu verorten: War das damals die westliche Demokratie, so ist das nunmehr eine krude Referenz an die große Vergangenheit. Was und wie er das sagte, sollte uns allen zu denken geben. Es sollte uns nachdenklich machen, weil es als Kampfansage gegen all das konzipiert ist, was wir gemeinhin als europäische Wertegemeinschaft betrachten. „Heute, wo selbsternannte Demokraten die Demokratie vor uns beschützen wollen und uns heftig im Namen eines wolkigen Konzeptes von `Europäertum` kritisieren, einfach, weil wir nicht bereit sind, zu akzeptieren, was uns Brüsseler Bürokraten im Namen Europas sagen, auch heute können wir uns auf das berufen, was István Tisza schon sagte: `Wir bekennen offen, dass wir auf nationalen Fundamenten stehen.“ Und er fährt fort: „Uns interessiert aber der ganze menschliche Fortschritt nicht, wenn er nicht mit einem Vorteil, dem Wohlstand und der Größe der ungarischen Nation verknüpft ist. Warum soll einer zerfallenden, liberalen Epoche nicht eine Ära des Wohlstands und der nationalen Inspiration folgen? Und warum soll es unmöglich sein, dass die Vorsehung uns erwählt hat, uns, die Ungarn von heute, das zu erreichen?“
Orban hat nicht zufällig Tisza zum Säulenheiligen erkoren. Tisza konnte seine nationale Rolle vor allem deshalb entfalten, weil er sie in Budapest u n d Wien spielte. Er wusste, dass der ungarische Einfluss dann am größten war, wenn er einerseits lautstark die ungarischen Interessen beschwor und sich andererseits unentbehrlich in Wien machte. Eine klassische Schaukelpolitik. Man braucht nur Wien durch Brüssel ersetzen. Und Tisza durch Orban, dann bekommt man eine Idee, was sich in unserem Nachbarland gegenwärtig abspielt und dass es Europa und schon gar nicht den österreichischen Nachbarn egal sein kann. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, mich in den Sommerwochen, auf die ich mich schon riesig freue, in die österreichisch-ungarische Geschichte zu vertiefen.
Während des EU Wahlkampfes war viel vom Freihandel die Rede. Das ist gut so. Auf diese Weise wurde klargemacht, dass es nicht egal ist, unter welchen Rahmenbedingungen Güter und Dienstleistungen gehandelt werden. Selten hat in der letzten Zeit ein politisches Thema so viele Menschen in Bann gezogen. Wahrscheinlich auch deswegen, weil berechtigte Ängste im Spiel sind. Sogar Frau Merkel, eine glühende Verfechterin des Freihandelsabkommens mit den USA, die dessen Chancen normalerweise in den buntesten Farben darzustellen versucht, musste darauf Bezug nehmen. „Mit mir wird es kein Chlorhuhn geben“, tönte sie – als ob das das einzige Problem im Zusammenhang mit TTIP wäre. Das Problem ist viel grundsätzlicher.
In der Tat würde ein Freihandelsabkommen, wie es zur Zeit in Diskussion steht, die Geschäftsgrundlage der westlichen Gesellschaften grundlegend verändern. Erklärtes Ziel der Initiatoren ist ja der vollständige Abbau außertariflicher Handelshemmnisse. In letzter Konsequenz stellen daher alle sozial- oder umweltpolitischen Regelungen, denen Güter oder Dienstleistungen auf Grund nationalstaatlicher Gesetzgebung unterliegen, ein potentielles Hindernis dar. Vereinfacht zusammengefasst, besteht die Essenz des Freihandels darin, die Spielräume der Politik, vor allem jene der Parlamente, auf ein Minimum zu reduzieren. Selten wird das so ausgesprochen. Da wird von Zukunftschancen schwadroniert und neue Arbeitsplätze werden im Übermaß versprochen.
Dieser Tage ist mir aber ein erstaunlicher und enthüllender Artikel in die Hände gekommen. Im Wirtschaftsteil des bürgerlichen Leitmediums Deutschlands, der FAZ. Das ist kein unwesentliches Medium. Und auch der Autor ist keine unwesentliche Figur. Handelt es sich dabei doch um den Leiter der Wirtschafts- und Finanzredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Rainer Hank. Ein bekennender Neoliberaler, dem die Frau Merkel oft zu wenig tough agiert und der den Sozialstaat primär als Kostentreiber sieht. Sein Kommentar „Demokratie ist überbewertet“ vom 8. Juni 2014 hat es in sich. Er bringt unverblümt auf den Punkt, warum bestimmte Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks so großes Interesse haben, dieses Projekt zu finalisieren: „Freihandel soll verhindern, dass Demokratien die Allgemeinheit schädigenden Blödsinn beschließen.“
Deshalb hat er auch kein Problem mit den Investorschutzklauseln: „Tatsächlich wertet der „Investitionsschutz“ damit den Rechtsstaat als höheres Gut im Vergleich zur Demokratie, die stets in Gefahr ist, zufällige Mehrheiten protektionistisch zu bedienen.” Geht’s noch, ist man versucht, zu fragen. Rechtsstaat als höheres Gut? Wie kann man diesen überhaupt in Vergleich zur Demokratie setzen. Bedingt sich das eigentlich nicht wechselseitig? Offensichtlich nicht in dieser verqueren neoliberalen Logik. Hier soll sich Demokratie vielmehr selbst beschränken und den Märkten ausliefern, an diese binden. Dann würde alles gleichsam automatisch gehen: „Demokratische Selbstbindung an den Freihandel setzt .. darauf, dass – im Vergleich zur demokratisch gepamperten Klientelwirtschaft- am Ende alle Menschen sich besser stellen werden und ihre Freiheit gleichermaßen entfalten können.“
Ich möchte das nicht, nicht nur, weil so etwas gegen unser demokratisches Grundverständnis verstößt, sondern, weil es vor allem falsch ist und sich das versprochene Paradies nicht einstellen wird. Als demokratisch gewählter Volksvertreter werde ich in den nächsten fünf Jahren alles daran setzen, zu verhindern, was diese neoliberalen Apologeten fordern. Nicht die Demokratie muss sich dem Freihandel unterordnen. Umgekehrt muss es sein. Und wir brauchen auch keine marktkonforme Demokratie, sondern demokratisch kontrollierte Märkte.
Ich mag sie die Briten. Schon seit meiner Jugend. Ihre Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen, den Sportsgeist, den sie an den Tag legen, um ein Argument durchzubekommen und die Fairness, die sie dem Unterlegenen entgegenbringen. Ich mag ihren Pragmatismus, der darauf basiert, das Wesentliche sehen zu können und ich mag ihren Durchhaltewillen. Auch die Bereitschaft, zu gewissen Eigenheiten zu stehen und bestimmte Traditionen hochzuhalten, finde ich liebenswürdig. Ich mag ihren Humor. Ich bin mit Monty Python großgeworden. Die Poesie der Songs der Beatles hat mich mein Leben lang begleitet. Ohne Hey Jude, Strawberry Fields oder Norwegian Woods wäre mein Leben um vieles grauer geworden.
Meine erste politische Manifestation war, dass ich mein Jugendzimmer mit einem Union Jack schmückte. Über die Musik der Beatles wurden viele aus meiner Generation quasi zu Briten. Lange Haare als Zeichen des Protests gegen alles Zackige, Schroffe, Verzopfte und Unaufrichtige.
1966 war ich zum ersten Mal in England. Damals war es ein Schock für mich, zu erfahren, warum manche Menschen Probleme damit hatten, dass Deutsch meine Muttersprache war. Wenig später machte mir der Song „Mr. Churchill says“ der Kinks deutlich, wie sehr wir es diesen britischen Eigenschaften zu verdanken haben, dass die Nazis besiegt wurden. „We shall fight them on the beaches, on the hills and in the fields“ hatte dieser 1940 im britischen Unterhaus der Welt versprochen. Deswegen mag ich sie besonders, die Briten.
Ich habe in meinem Leben viele Britinnen und Briten kennen und schätzen gelernt. Diese Begegnungen haben mein Leben bereichert. Ich bin sogar zu einem Liebhaber des britischen Biers geworden. Das heißt sehr viel für jemanden, der im bayerisch-österreichischem Grenzgebiet aufgewachsen ist. Doch Spaß beiseite. Ich werde nicht müde werden, immer wieder zu betonen, wie wichtig mir die Briten sind. Sie gehören zu Europa. Sie haben unsere Zivilisation und unser kulturelles Erbe ganz wesentlich bereichert. Demokratie und Parlamentarismus etwa oder die Gewerkschaftsbewegung. Die Fabian Society, der so wichtige Persönlichkeiten wie Sidney und Beatrice Webb, George Bernard Shaw oder H.G.Wells angehörten, hat maßgeblich die Politik der europäischen Sozialdemokratie geprägt und die Grundlage für das „Goldene Zeitalter des Wohlfahrtsstaates“ gelegt. An der von den Fabiern gegründeten London School of Economics konnte William Beveridge seine bahnbrechenden Sozialreformen vorbereiten.
Es ist keineswegs so, dass auf den britischen Inseln nur neoliberales und konservatives Denken beheimatet wären. Das Vereinigte Königreich ist ein offenes Land. Die Meinungsfreiheit hat einen hohen Stellenwert. Im Lauf der Geschichte hat es vielen auf dem europäischen Kontinent Verfolgten Asyl gewährt, etwa Karl Marx oder Sigmund Freud. Und weil das Vereinigte Königreich ein so wesentlicher Pfeiler meines Europas ist, möchte ich es auch nicht verlieren. Europa würde Wesentliches fehlen. Darum ärgert es mich auch, wenn in diesen Tagen im Zusammenhang mit dem mehr als eigenwilligen Verhalten der Regierung Cameron immer wieder die Rede davon ist, Großbritannien würde ja eigentlich nicht zu Europa gehören. Das ist falsch.
Ich ärgere mich aber vor allem über das Verhalten David Camerons Europa gegenüber. Seit seiner Kür zum Vorsitzenden der Tories 2005 spielt er auf dem Klavier antieuropäischer Ressentiments. Sein wesentliches Versprechen war damals, die Tories aus der Umklammerung der proeuropäischen Volkspartei zu befreien. Vor allem störte ihn deren föderalistische Orientierung. Ganz im Sinne der bei den britischen Konservativen seit Margaret Thatcher äußerst populären Föderalismusphobie hatte er schon zehn Jahre zuvor getönt, dass Tony Blair eine „federal pussy cat“ wäre. Sich selbst stilisierte er zum britischen Löwen. Diesen Eindruck versucht er seither zu erwecken – und zwar bei den verschiedensten Gelegenheiten. Noch als Oppositionsführer wollte er den EU-skeptischen Präsidenten Vaclav Klaus dazu animieren, die Unterzeichnung des vom tschechischen Parlament ratifizierten Lissabon Vertrages bis zu den britischen Wahlen hinauszuzögern, um dessen Inkrafttreten zu verhindern. Am Höhepunkt der Eurokrise widersetzte er sich dem Ansinnen eines Fiskalpakts. Freilich nicht, weil er sich vom damit verbundenen Austeritätsdogmatismus absetzen wollte. Ihm ging es darum, die Londoner City von künftigen Regulierungen auszunehmen. Ein besonderer Dorn im Auge war ihm dabei die Finanztransaktionssteuer. Als sich schließlich elf Mitgliedsstaaten auf deren Einführung einigten, blockierte er dieses Vorhaben mit einer Klage beim EuGH.
Wenn es darum geht, die Sonderstellung des Finanzplatzes London zu sichern, dann sind alle Mittel recht. Da ruft man auch europäische Gerichte an, deren Einmischung man bei anderer Gelegenheit man sonst gerne populistisch anprangert. So im Fall des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Einige seiner Urteile, wie etwa die Unrechtmäßigkeit der Abschiebung eines radikalen Islamisten, dem in Jordanien Folter droht, missfielen der britischen Öffentlichkeit. Cameron setzte sich an die Spitze des Unmutes und drohte mit dem Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Da machte es auch nichts aus, dass es damals nach dem Krieg ausgerechnet ein britischer Konservativer, Winston Churchill, gewesen war, der mit großem persönlichem Einsatz dafür gekämpft hatte.
Cameron ist nicht Churchill
Cameron ist nicht Churchill. Prinzipien und Grundsätze sind nicht seine Sache. Nicht zu Unrecht nannte ihn daher die Labour Party „Dave the chamelon.“ Sein persönliches Erfolgsrezept besteht darin, Stimmungen aufzugreifen und sich von ihnen tragen lassen – wie ein Surfer; bis die nächste Welle kommt. Wenn man geschickt ist, kann man das eine Weile praktizieren. Zum eigenen Wohlbefinden und auch zum Staunen des Publikums. Irgendwann aber kommt die große Welle, die selbst den besten Athleten überrollt. Cameron ist drauf und dran, von einer solchen erfasst zu werden. Seit dem Beginn seiner politischen Laufbahn hat es ihm ja immer besonderen Spaß bereitet, auf der Welle antieuropäischer Ressentiments zu reiten. Je heftiger diese werden, um so lauter brüllt er. Dann ist er in seiner Lieblingsrolle, der des britischen Löwen. Dieses Gebrüll könnte aus seiner Angst herrühren, von der rechtspopulistischen Welle der europhoben UKIP in die Tiefe gezogen zu werden. Da hat er freilich nicht ganz Unrecht. Ein Löwe sollte sich eben nicht auf ein Surfbrett wagen.
Seit geraumer Zeit ist das Vereinigte Königreich in diesem europhobischen Zustand, der von einer elementaren Gewalt und mit einem Tsunami vergleichbar ist. Das ist vielmehr als der auf den Britischen Inseln traditionell populäre Euroskeptizismus, der von einer maßlosen und an der systematischen Verbreitung von Unwahrheiten getriebenen Boulevardpresse aufgeschaukelt wird. Das wäre schon zu viel des Negativen.
In Großbritannien findet unter dem Schlachtruf, das wahre Großbritannien zu retten, gerade die Zerstörung britischer Verhaltensweisen und Institutionen statt. Noch weiß niemand, wo und wie das enden wird. UKIP treibt die beiden Großparteien vor sich her. Noch halten, dank des speziellen Wahlrechts, die institutionellen Dämme. Aber H. M. Fundamentalopposition setzt den Ton. Britische Urtugenden, wie Pragmatismus und Nützlichkeitsdenken, Toleranz oder Gelassenheit stoßen auf wenig Akzeptanz beim Wahlvolk. Zum ersten Mal könnte die traditionelle Dichotomie Tories vs. Labour verloren gehen. Dies vor allem, weil UKIP von der Unzufriedenheit mit beiden Lagern profitiert. Sie ist eben nicht nur eine Gruppierung wildgewordener ehemaliger Tories mit breiter Mittelklassenunterstützung. Sie kann auch, wie das die letzten Nachwahlen gezeigt haben, mit wachsender Unterstützung aus der Arbeiterschaft rechnen. „Britain’s most working-class party“ haben das die beiden Politologen M.Godwin und R.Ford genannt.
Nigel Farages Botschaft ist einfach. Sie verfängt sich vor allem bei älteren Modernisierungsverlierern: In den 1960-er und 1970-er Jahren, also vor dem EU Beitritt, wäre es doch den Menschen in Großbritannien besser gegangen. Das stimmt zweifelsohne und es bestätigt die Erfahrung vieler. Freilich liegt da ein großes Missverständnis vor. Es war nicht der Beitritt zur damaligen EWG, der das Land ruinierte. Es war Margaret Thatchers abenteuerliche Rosskur, die sie dem Land verordnete. Das Vereinigte Königreich wurde zum Vorzeigemodell für neoliberale Reformen und deren vorprogrammiertes Scheitern. Hier wurde der experimentelle Beweis geliefert, dass solch marktradikales Geschwätz nicht dazu taugt, entwickelte Staaten zu steuern. Thatcher und ihre Epigonen haben Großbritannien zurückgeworfen. Das Land, einst Hort der Industrialisierung und Vorreiter sozialreformerischer Politik liegt heute im europäischen Mittelfeld. Weit davon entfernt, für irgendwen ein Vorbild zu sein.
Das Land hat nicht nur seine technologische Spitzenreiterrolle eingebüßt und ist in der Realwirtschaft, der Produktion, zurückgefallen, weshalb man ja auch die City of London mangels eigener Industrie euphemistisch zur Finanzindustrie hochstilisiert. Das Land ist heute sozial zerrissen wie zuletzt im 19.Jahrhundert und die Ungleichheit hat sichtbare Ausmaße angenommen.
Thatchers Erbe wiegt schwer
Großbritanniens Schwäche ist, dass es sich so einseitig der Sache des Marktliberalismus verschrieben hat und es an der Einsicht mangelt, dies als das eigentliche Problem zu sehen. Alle relevanten Parteien fühlen sich als Erben Thatchers. Die Eiserne Lady hatte Blair sogar einmal als „her greatest achievement“ bezeichnet, was diesem auch sehr geschmeichelt haben soll. Wenn es also an der nötigen Distanz zu einer verfehlten Politik fehlt, weil kein Problembewusstsein vorhanden ist, dann ist es auch nicht verwunderlich, wieso ein Ersatzthema wie die Mitgliedschaft zur EU eine so überragende Bedeutung erlangt. Alles Schlechte kommt von Brüssel, ist die simple und einfache Botschaft. Noch dazu, wenn dieses Brüssel, immer stärker unter dem Einfluss des britischen Marktradikalismus stehend, auch tatsächlich für bestimmte Entwicklungen verantwortlich gemacht werden kann. Wie im Fall der Zuwanderung aus den neuen Mitgliedsstaaten. Die meisten Staaten hatten auf Übergangsregelungen gesetzt. Großbritannien hingegen konnte nicht genug kriegen von billigen Arbeitskräften und lieferte der UKIP eine Steilvorlage. Die britischen Rechtspopulisten fordern – mit großem Erfolg beim Wahlvolk – eine drastische Begrenzung der Einwanderung. Dazu müsse das Land sofort aus der EU austreten.
Natürlich stimmt das so nicht. Es war Großbritannien, das auf der Basis europäischer Gesetzgebung die Probleme selbst verursachte. Das blinde Vertrauen darauf, deregulierte Arbeitsmärkte würden automatisch zum bestmöglichen Ergebnis führen hat die gegenwärtigen Probleme verursacht, die noch dazu maßlos übertrieben werden. Das ist die Situation in Großbritannien. Die EU als der Sündenbock und der Rückzug auf die Nation als der Ausweg aus allen Problemen. Viele Menschen sind nicht gegen die EU, sie sind äußerst unzufrieden mit ihrer persönlichen Lage. Der Tagesspiegel berichtete über den erfolgreichen Wahlkampf der UKIP: „Die Menschen sind nicht zu dem Treffen gekommen, um über Europa zu diskutieren, es geht ihnen um die sozialen Probleme. Viele kommen in Tränen zu uns und erzählen von Hausschulden und ihrer Not…“ heißt es in dem Bericht.
Auf diesem Hintergrund wird das britische Volk, wenn es nach dem Willen Camerons geht, demnächst über seine Mitgliedschaft zur EU entscheiden. Eine nur mehr schwer zu deutende Gemengelage, in der die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation den Ton setzt. Überall Menschen, die das Gefühl haben, zu kurz gekommen zu sein oder etwas zu verlieren. Das alles sind Voraussetzungen für eine Denkzettelabstimmung. Genau das braucht das Vereinigte Königreich in der gegenwärtigen Situation aber nicht. Im Interesse Großbritanniens und der anderen Mitgliedsstaaten wäre es durchaus sinnvoll, wenn das Land mit sich ins Reine kommen und ganz nüchtern die Vor- und Nachteile einer Mitgliedschaft abwägen könnte. So wie es einer Nation von Kaufleuten eigentlich anstünde. Das würde uns allen gut tun.
Wenn die Briten einen nationalen Sonderweg beschreiten möchten, dann sollten wir sie ziehen lassen. Wenn sie sich für den Verbleib in der Union entscheiden sollten, dann müssten sie auch klar und deutlich Ja zum europäischen Projekt sagen.
So einfach wird die Sache freilich nicht werden. Nigel Farage wird den Menschen einreden, dass nur ein Austritt aus der EU ihre Probleme lösen wird, Dave the Chamelon wird irgendeine Mogelpackung vorbereiten und Labour wird sich mit aller gebotenen Vorsicht für Europa erklären.
Über die wirklichen Probleme, an denen Großbritannien und ganz Europa leidet, wird niemand reden. Niemand wird darauf hinweisen, dass alles begonnen hat mit einer Regierungschefin, die die Märkte zur zentralen Steuerungsinstanz machte und die den Menschen erfolgreich einreden konnte: „There is no such thing as society“. Ja, eigentlich würde ich mir ein Referendum wünschen, nicht nur in Großbritannien, bei dem es um die folgende Frage geht: Wollt ihr von den Märkten fremdbestimmt werden oder eure Geschicke selbst in die Hand nehmen.
Der EU-Wahlkampf biegt in die Zielgerade. Noch eine knappe Woche. Dann werden wir das Ergebnis wissen. Gelohnt hat es sich auf jeden Fall. Ich bin jetzt seit Mitte Februar im Dauerstress und habe nichts unversucht lassen, die Menschen von der Notwendigkeit eines Kurswechsels in Europa zu überzeugen. Ich konnte mit Zehntausenden Menschen in Kontakt treten – auf Großveranstaltungen, in Kleingruppen und im persönlichen Gespräch auf der Straße, in Betrieben oder Einkaufszentren.
Es war eine positive Überraschung zu erleben, wie sehr die Menschen an sachlicher Information interessiert sind und wie sie es wertschätzen, dass ich auf ihre Sorgen eingehe. Eine ältere Frau sagte unlängst zu mir: „Sie reden ja ganz normal und nicht so wie man es auf den Plakaten liest.“ Vielleicht war es gut, dass mir kein Geld für großflächige Plakate und auch sonst wenig Mittel zur Verfügung standen. Es war ein Low-Budget-, eigentlich ein No-Budget-Wahlkampf.
Umso schöner, dass wir überall wahrgenommen wurden, nicht nur in Oberösterreich. Darüber freue ich mich, wie ein kleines Kind. Ja, es ist möglich, politische Überzeugungsarbeit zu leisten. Das Rezept ist einfach: Man muss den Menschen respektvoll zuhören und versuchen, ihre Fragen zu beantworten. Natürlich braucht es dafür auch ein Narrativ, einen Begründungszusammenhang, auf den man sich beziehen muss. Aber den hätte die Sozialdemokratie ja eigentlich schon immer gehabt.
Oft wurde ich gefragt, woher beziehst Du denn Deine Energie? Das Gefühl, bei den Menschen anzukommen, gibt mir die Kraft. Die Arbeit am Infostand verleiht Flügel, würden die Werbefritzen vielleicht texten. Ich will, dass diese Energie nicht am Wahltag verpufft. Ich will sie in das neugewählte Europäische Parlament tragen. In den nächsten fünf Jahren stehen uns wichtige Auseinandersetzungen bevor: TTIP &Co, die Regulierung der Finanzmärkte, ein grundrechtskonformer Rechtsrahmen für den Datenschutz, eine menschlichere Flüchtlingspolitik oder die Abwehr nationalistischer und antidemokratischer Experimente in den Mitgliedsstaaten.
Wir brauchen einen neuen Politikstil, der die Beteiligung der Menschen zur Grundlage hat. Nicht nur vor den Wahlen, sondern permanent. Vom herkömmlichen Politikbetrieb werden die Fragen der Menschen leider allzu oft nur als störend empfunden. Das ist der Grund für die um sich greifende Politikmüdigkeit und legt den Boden für das Zerstörungswerk der Populisten. In den letzten Wochen haben wir unter Beweis gestellt, dass die Menschen nicht politikmüde sind.
Im Zuge meines EU-Wahlkampfs, der tatkräftig von der SPOÖ und vom österreichischen Pensionistenverband unterstützt wird, ist eine kleine politische Bewegung entstanden: Offen für alle, die an konstruktiven Änderungen interessiert sind, proeuropäisch und an den Grund-und Menschenrechten orientiert, generationenübergreifend und alle, die in Österreich leben, miteinbeziehend. Viele Menschen unterschiedlicher Herkunft, aus allen Bevölkerungsschichten unterstützen mich. Sie opfern ihre Zeit und stellen sich freiwillig zur Verfügung. Sie organisieren Infostände, verteilen Infomaterialien oder nehmen das Telefon zur Hand. Ich freue mich sehr darüber und ich bin überaus dankbar. Natürlich für die Hilfe, aber vor allem dafür, dass wir gemeinsam den Beweis liefern, dass Politik etwas bewirken kann.
Heute sehen wir in Linz und Oberösterreich wieder etwas, was wir schon seit Mitte der Siebziger Jahre beobachten können. Produktionsstandorte in Europa, die zu Arbeit und Wohlstand gebracht haben, werden immer mehr in die sogenannten „billigeren“ Regionen und Schwellen- und Entwicklungsländer verlegt. Viele Regionen, die in der Nachkriegszeit zu den führenden Industrieregionen Europas zählten, sind heute nicht mehr in Europa vorhanden. Als Konsequenz kam es zu einem starken Rückgang der Beschäftigtenzahlen. Im Jahr 1994 habe die regionale Bedeutung der Linzer Stahlindustrie und die mit der Stahlkrise verbundenen sozialen Auswirkungen analysiert (Studie über die Bedeutung der VOEST-Alpine für OÖ). Neben der Beschäftigungsaspekt weist die VOEST-Alpine sehr starke regionale Verflechtungen auf und stärkt die Industrieregion als Ganzes. Am Beispiel der VOEST-ALPINE in Linz wird deutlich, dass Europa eine neue Industriepolitik braucht.
Wird es auch in Zukunft ein wertneutrales Internet geben, das die diskriminierungsfreie Übertragung von Inhalten garantiert oder droht uns ein Zwei-Klassen Internet, bei dem die Bestbietenden auf der Überholspur fahren dürfen? Ein Schicksalstag für das Internet und die Demokratie.
Und das 25 Jahre nach der Einführung des WWW. Erstmals stellt ein Parlament die Grundsätze des offenen und freien Internets in Frage. Auch wenn der Begriff leider noch nicht in der breiten Öffentlichkeit angekommen ist, sollte allen klar sein, dass das Prinzip der Netzneutralität das Fundamentalprinzip des Internets ist. Im Kern geht es bei der Netzneutralität darum, dass Telekommunikationsunternehmen, wie die Telekom Austria, Vodafone oder die Deutsche Telekom nicht darüber entscheiden sollten, welche Daten bei ihren Kunden ankommen und welche nicht. Das gilt sowohl für die herkömmliche Festnetz-Internetverbindung wie auch für den immer wichtiger werdenden Mobilfunkmarkt. Denn wenn den Telekommunikationsunternehmen die Möglichkeit eingeräumt wird, nach eigenem Ermessen bestimmte Dienste zu priorisieren und andere zu verlangsamen oder sogar zu blocken, dann ist vorprogrammiert, dass sich große Unternehmen die Durchleitung erkaufen und kleinere Unternehmen, aber auch und gerade Bürgerjournalisten, offene Kanäle oder Nichtregierungsorganisationen mit ihren Informationsangeboten auf der Strecke bleiben. Die Gründe, warum Internet-Anbieter das Prinzip verletzen wollen liegen auf der Hand: Wenn der Netzanbieter, der Provider die Daten nach eigenem Gusto behandeln darf, dann kann er zum einen von den Erzeugern der Inhalte Geld dafür verlangen, dass diese nicht diskriminiert werden. Zum anderen kann er aber auch Geld vom Endkunden verlangen, wenn dieser einzelne Dienste höher priorisiert haben will. Eine dritte Möglichkeit: Der Internet-Provider wird einfach selbst zum Inhalte-Anbieter und behindert die eigenen Konkurrenten.
Das bisher gültige Prinzip der Netzneutralität ermöglicht ein diskriminierungsfreies Surfen durch die gewaltige Informationswelt, die uns via Internet offen steht. Sie lässt unsere Kinder via Skype ruckelfrei in Blickweite und erlaubt uns, internationale Nachrichten in Echtzeit zu konsumieren. Bildlich gesprochen: wegen der Netzneutralität kann auf der Datenautobahn ein Trabi mit einem Ferrari mithalten; ohne Netzneutralität hingegen darf nur mehr der Ferrari auf der Überholspur fahren und nur mehr der Mehrzahler Skype ruckelfrei nutzen. Doch nicht nur die allen in gleicher Qualität zur Verfügung stehende Nutzbarkeit des Internets wird durch die Netzneutralität gesichert, wegen der freien und offenen Natur des Internets ist sie auch Garantin von Meinungsfreiheit und Demokratie.
In der digitalen Welt muss jeder Informationen und Inhalte seiner Wahl bereitstellen und abrufen können. Ein offenes und freies Internet bietet enorme Potenziale für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung und ist konstitutiv für eine lebendige Demokratie. Es sollte den Bürgerinnen und Bürgern selbst überlassen sein, wo sie sich informieren und welche Unterhaltungs-Angebote sie annehmen. Ein vorgegebenes Medien-Menü passt nicht in das 21. Jahrhundert. Es ist die große Stärke des Internets und der digitalen Welt, den Menschen in zuvor nicht gekanntem Ausmaß freien Zugang zu Informationen aus aller Welt zu liefern. Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass auch in Zukunft dieser freie Zugang garantiert werden kann. Gerade der NSA-Überwachungsskandal sollte uns gezeigt haben, dass eine Zentralisierung der Macht des Internets zum Missbrauch einlädt und aufgrund der internationalen Natur des Netzes zu einem globalen Problem heranwächst. Schon Tim Berners-Lee, Erfinder des WWW, findet klare Worte: „Ein einzelnes Unternehmen oder Land darf das Internet nicht kontrollieren. Ich glaube, dass das Kommunikationsmedium so wichtig ist, dass wir es besonders schützen sollten. Ein Internet, das allen zu gleichen Bedingungen zur Verfügung steht, ist sehr, sehr wichtig für eine Web-basierte Gesellschaft.“ Dieser Schutz kann nur erreicht werden, wenn wir Netzneutralität gesetzlich verankern. Die Abstimmung am Donnerstag im Plenum des Europäischen Parlaments bietet die Möglichkeit, das Prinzip der Netzneutralität über den Weg der Verordnung zum Digitalen Binnenmarkt entweder festzuschreiben oder abzuschaffen. Wie die Abstimmung ausgehen wird, ist noch weitgehend offen. Setzen sich die Konservativen mit ihrem Vorschlag durch, so wird das Internet als von vom Prinzip her nicht-hierarchisch organisiertes Medium abgeschafft und die Bürgerinnen und Bürger verlieren die Fähigkeit, selbst zu bestimmen, was mit welcher Priorität behandelt werden soll. Wird die Netzneutralität hingegen gesetzlich verankert, so ändert sich im Grunde genommen nicht viel. Etwas, das wir alle kennen und als selbstverständlich erachten bleibt einfach wie es ist und sein soll: Das Internet.
Ich bin in diesen Tagen viel unterwegs. Es gibt keine Veranstaltung, wo ich nicht auf das Freihandelsabkommen TTIP angesprochen werde. Die Menschen sind besorgt über die möglichen Konsequenzen, erbost über die intransparente Vorgangsweise und enttäuscht über „die EU“. Das ganze ist ein mittlerweile ein Desaster.
Niemand bestreitet, dass es internationale Handelsabkommen geben muss und kaum jemand wird meinen, dass wir gerade mit den USA nicht so etwas verhandeln sollten. Ein Abkommen zwischen den beiden (noch) größten Wirtschaftsblöcken könnte aus mehreren Gründen von Vorteil sein. Es könnte den Handel auf eine berechenbare Grundlage stellen und somit die Wachstumschancen auf beiden Seiten des Atlantiks vergrößern Vor allem ließen sich im globalen Wettbewerb auch Mindeststandards gegenüber Drittstaaten festschreiben. Je weitreichender allerdings ein derartiges Abkommen ist, umso größer sind auch die möglichen Gefahren.
Die Festlegung von Mindeststandards kann zu einer Nivellierung nach unten führen. Europa fürchtet mit Recht um seine, im Vergleich hohen Sozial- und Umweltstandards. Vor allem aber besteht die Gefahr, dass ein solches Abkommen die Handschrift der großen globalen Konzerne trägt. Diese sind an möglichst einheitlichen Rahmenbedingungen interessiert und möchten daher den politischen Einfluss der Parlamente und Regierungen gering halten. Ein solches Instrument sind die sogenannten Investorschutzklauseln (ISDS). Streitigkeiten sollten demnach von Schiedsgerichten, die keiner nationalen Gesetzgebung unterliegen verhandelt werden. Auf diese Weise wird der Spielraum der Politik massiv eingeschränkt und die demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten beschnitten. Alles in allem ein fundamentaler Eingriff in Wirtschaft und Politik. So etwas haben wir seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Verhandelt wird das Abkommen von US Handelsministerium und von der EU Kommission. Am Ende muss das Ergebnis von den zuständigen Parlamenten beschlossen werden.
Eigentlich müsste es selbstverständlich sein, die Parlamente und alle Beteiligten in einen solchen Prozess miteinzubeziehen. Nicht nur der demokratischen Erfordernisse wegen, sondern auch aus politischer Klugheit. Der für TTIP zuständige Kommissar Karel De Gucht ging in die Verhandlungen wie der berühmte Elefant im Porzellanladen. Die Verhandlungen sollten unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit vor sich gehen. Offensichtlich setzte er auf eine Art Überrumpelungstaktik, in der Hoffnung am Ende der Verhandlungen würden die Parlamentarier das Ganze schon abnicken. Daher wurden vor allem Jubelbotschaften lanciert, wie viele Arbeitsplätze nicht geschaffen und wie sehr das Wachstum angekurbelt würde. Alles samt und sonders Luftblasen, die einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. In der vordersten Reihe der Propagandisten stand die Bertelsmann Stiftung, die sich neoliberaler Mainstream Ökonomen wie Hans Werner Sinn bediente. Mit mäßigem Erfolg.
Allerorten wuchsen Kritik und Widerstand gegen das Abkommen. Die EU Kommission musste reagieren, wollte sie nicht das ganze Projekt gefährden. Zunächst versprach sie, die Zivilgesellschaft zu konsultieren, dann legte sie die Verhandlungen über ISDS aus Eis und letzte Woche kündigte De Gucht eine Online Konsultation zu diesem Thema an. Ein wichtiger Schritt, der freilich mehr zur Beruhigung der Lage als zur Lösung der Probleme dient. Wenn der Kommissar, dem offensichtlich diplomatisches Geschick abgeht, meinte, dass sich die Bürger zu wenig mit den Fakten beschäftigt hätten, dann gleicht dies einer Verhöhnung. De Gucht hatte bereits bei ACTA seine Unfähigkeit unter Beweis gestellt und sich unter anderem auch über das Parlament belustigt, wo den ganzen Tag über viel geredet würde. Eigentlich hätte er nach seiner Abstimmungsniederlage zurücktreten müssen. Offensichtlich ist er aber einer, der alles aussitzt. Ob es sich um Insiderhandel, Steuerhinterziehung oder rassistische Rülpser handelt, er hat alles überlebt. Solches Führungspersonal schadet dem europäischen Projekt in jeder Hinsicht. Wie sollen die Menschen Vertrauen zu Europa entwickeln, wenn an der wichtigste Bühne Personen stehen, die nicht bereit sind, die Menschen ernst zu nehmen und deren Ängste kleinreden. Erfolgreiche Politik setzt Beteiligung voraus und politische Führung sollte auf dem permanenten Bemühen basieren, die Menschen zu überzeugen. Diese Fähigkeit fehlt vielen, die als Mitglieder der Europäischen Kommission derzeit an der Kommandobrücke stehen. Sie lenken das Schiff Europa in die verkehrte Richtung.
Deshalb braucht es am 25. Mai eine Richtungsänderung. Vor allem muss das Führungspersonal ausgewechselt werden. Mit einem neuen Kapitän, Martin Schulz, der, wenn die Sozialdemokratie zur stimmenstärksten Partei wird, Kommissionspräsident werden soll, können wir das erreichen. Er hat schon deutlich gemacht, dass er von der derzeitigen Politik der Kommission, die TTIP Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen, gar nichts hält.
„Verhandlungen tranparent führen“ Presseaussendung zum Freihandelsabkommen
Eine der am häufigsten verwendeten Buchstabenkombinationen ist www. Letzte Woche wurden wir daran erinnert, welche Auswirkungen die Idee eines am CERN tätigen Wissenschaftlers hatte, den Verkehr im Internet, auf der Basis eines freien Zugangs, ohne finanzielle oder inhaltliche Restriktionen zu managen. Das World Wide Web hat seit der Initiative von Tim Berners-Lee im März 1989 die Welt von Grund auf verändert. Unsere alltäglichen Gewohnheiten sind nicht mehr dieselben. Auch wenn wir es wollten, können wir uns dem schwer entziehen. Schon bald wird dies auch beim besten Willen schwer möglich sein. Das Internet der Dinge (Internet of Everything) ist auf dem Vormarsch und wird in absehbarer Zeit unseren Alltag prägen. Die reale Welt wird mit der virtuellen Welt in einer Weise verbunden sein, die unsere Freiheitsräume als Individuen ganz neu definieren wird. Dieser Prozess ist wie bei jeder historischen Innovation voller Chancen und voller Gefahren. Man kann ihn weder stoppen noch kann man ihn ignorieren. So wie ein ehemaliger Kollege an meiner Fakultät, der mir seinerzeit erklärte, er bräuchte kein Internet an seinem Institut, weil dies ja sowieso nur den Sekretärinnen diente, sich zum Mittagessen zu verabreden. Oft denke ich an diese absurde Intervention meines fachlich damals hoch angesehen Kollegen. Etwa bei politischen Diskussionen. Es wäre nicht sonderlich wichtig, verbindliche Datenschutzregeln festzulegen. „Ich habe ja nichts zu verbergen“. So oder so ähnlich tönt es aus dem Munde der Realitätsverweigerer.
Historische Veränderungen und um eine solche handelt es sich, brauchen den Willen der politisch Verantwortlichen, gestaltend einzugreifen. An dem mangelt es. Zumindest bei jenen, die sich sonst vollmundig zu Beschützern von Freiheit und Menschenrechten erklären. Die USA und ihre europäischen Verbündeten haben mit dem NSA Skandal einen der dreistesten und folgenschwersten Eingriffe in die Grund-und Freiheitsrechte zu verantworten. Sie zeigen keinen Anflug von Unrechtsbewusstsein und behandeln Edward Snowden wie einen gewöhnlichen Verbrecher. Für Angela Merkel ist die gesamte Materie wie eine heiße Kartoffel, an der sie sich nicht die Finger verbrennen will. Und mit ihrer Aussage „Das Internet ist für uns alle Neuland“ erinnert sie mich frappant an meinen Kollegen aus vergangenen Uni Zeiten.
Letzte Woche war aber nicht nur eine Gelegenheit zum Erinnern, Nachdenken und Lamentieren. Letzte Woche tagte in Straßburg das Europäische Parlament. Im Mittelpunkt der Plenarwoche stand der Umgang mit unseren Daten. Nach einem halben Jahr intensiver Arbeit legte der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres seinen Abschlussbericht über das Ausmaß der Massenüberwachung vor. Als einziges Parlament weltweit haben wir uns damit auseinandergesetzt. Auf der Basis von Aussagen von Whistleblowern, Journalisten, Regierungsbeamten und Forschern. Das Ergebnis ist ernüchternd. Tagtäglich wird (auch) in der westlichen Welt die Privatsphäre der Menschen systematisch verletzt, werden massenhaft Daten illegal und unverhältnismäßig abgezapft, gespeichert und weiter verwertet. Schon lange geht es dabei nicht mehr um die Abwendung von Straftaten oder die Abwehr terroristischer Anschläge. Die Kenntnis unseres Kommunikationsverhaltens führt zu unvorstellbaren Möglichkeiten politischen Missbrauchs. Vor allem hat sie fatale ökonomische Konsequenzen weil sie Geschäftsmodelle erlaubt, die das Potential haben, die Marktwirtschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern.
Der Ausschuss hat nicht nur das Ausmaß dieser besorgniserregenden Vorgänge festgestellt, sondern auch Konsequenzen gefordert. Die wichtigste ist die Forderung nach einer raschen Verabschiedung des Datenschutzpakets. Es sieht einen europäischen Rahmen für den Schutz der Privatsphäre vor und soll globale Standards setzen. Vor allem sollen die Individuen Souveränität über ihre persönlichen Daten zurückgewinnen. Das Recht auf Löschung und das Recht auf persönliche Zustimmung sind die Eckpunkte dieses Vorhabens. Beide Berichte wurden von der Plenarversammlung mit deutlicher Mehrheit angenommen. Und dennoch erlangen sie keine Rechtsgültigkeit. Der Rat, also die Vertretung der Regierungen auf europäischer Ebene hat bisher seine Zustimmung verweigert und weitere Verzögerung signalisiert.
Ein verfehltes Signal, das nur die Europaverdrossenheit beflügelt. Für Angela Merkel war das freilich noch nie ein Argument. Und sie ist hauptverantwortlich für die Blockade. Fragt sich, in welchem Interesse sie das tut. Nicht unbedingt im Interesse der Wirtschaft. Diese beginnt immer mehr zu erkennen, dass ein hohes Datenschutzniveau durchaus von Vorteil sein kann. Letzte Woche gab es aber nicht nur richtungweisende politische Entscheidungen, es fand auch die Cebit, Europas größte IT Messe statt. Das diesjährige Motto „Datability“ bot viel Raum für grundsätzliche Überlegungen. So trat der Präsident von Bitcom, Walter Kempf für „eine „zügige Verabschiedung der EU Datenschutzverordnung“ ein und die deutsche Bank plädierte im Vorfeld für mehr Datenhoheit und verbindliche Regeln beim Umgang mit Big Data. Das alles kommt nicht von ungefähr. Datenschutz ist für viele keine Belastung mehr, sondern potentieller Vorteil. So gab die in Silicon Valley ansässige Softwarefirma Net Suite bekannt, dass sie ihre neuen Datenzentren für internetbasierte Buchführungslösungen nicht in den USA, sondern in Europa errichten werde, weil ihre Kunden Sorge hätten, dass deren Daten auf amerikanischen Servern nicht mehr sicher seien.
Das Motiv hinter dem Sinneswandel der IT-Industrie ist leicht erklärbar. Telekom-Vorstand Reinhard Clemens fordert „Big-Data-Lösungen transparent zu gestalten, um eine Akzeptanz in der breiten Bevölkerung zu finden.“ Natürlich muss man vorsichtig sein, wenn die Industrie „von einer Kultur des Einverständnisses im Internet“ spricht, hat sie doch in ihrer Mehrheit bislang gegenteilig gehandelt. Nur zu gut erinnere ich mich an diverse Beeinflussungsversuche bei der Formulierung des Datenschutzpakets, als man versuchte das Prinzip der expliziten Zustimmung zu verwässern und den Begriff des Datensubjekts so zu formulieren, dass nur mehr wenig übrig geblieben wäre. Natürlich sind die Bedenken der deutschen Datenschützer berechtigt, dass es der Industrie nicht so sehr um den Schutz persönlicher Daten, sondern um die Sicherheit der Datenübertragung und die Verhinderung systematischer Schnüffelei geht. Immer mehr Kundinnen und Kunden erkundigen sich beim Kauf von Geräten danach. Sogar Mark Zuckerberg griff letzte Woche zum Telefonhörer, um Präsident Obama von den gängigen Praktiken abzubringen. Ohne großen Erfolg, wie man den Medien entnehmen konnte.
Wahrscheinlich braucht es noch mehr politischen Druck. Die Beschlüsse des Europäischen Parlaments von letzter Woche könnten für sorgen. Es ist daher unverantwortlich, wenn die europäischen Regierungen, allen voran die Deutschen, eine Beschlussfassung des Datenschutzpakets hinauszögern. Das Zögern und Zaudern muss ein Ende haben. 25 Jahre nach dem Entstehen des World Wide Web sollten wir uns daran erinnern, was seinen Erfolg ausgemacht hat. Nämlich ein demokratisches Medium zu sein, in dem die Nutzerinnen und Nutzer, frei und ohne staatliche Zensur alles weltweit teilen konnten. Diese Offenheit und grundsätzliche Neutralität gilt es zu schützen. Die wachsende Besorgnis der Menschen über die Sicherheit ihrer Daten müssen wir als politischen Handlungsauftrag sehen. Noch nie war die Zukunft des freien Internet so gefährdet und noch nie standen die Chancen so gut, die Dinge zum Positiven weiter zu entwickeln.