Manche Katastrophen ereignen sich nicht abrupt. Sie bereiten sich langsam auf. Bei entsprechender Bereitschaft ist das sichtbar. Man hätte es im Nachhinein also wissen können.
Wie zum Beispiel im Mittleren Osten. Nicht schon wieder werden jetzt viele einwenden. Auch mir geht es hin und wieder so.
Ich wollte diese Woche eigentlich etwas zum Europatag schreiben. Dann kam das britische Wahlergebnis und bestätigt meine Befürchtungen.
Mitten im Prozess des Überlegens dann hintereinander zwei Tweeds, die mich aufschreckten. Wahrscheinlich auch deswegen, weil ich letzte Woche im Europaparlament gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung zwei Gäste aus dem Irak eingeladen hatte. Die kurdische Abgeordnete Ala Talabani und der Terrorismusexperte Hisham Al-Hashimi berichteten, bei einer Veranstaltung über die Lage der JesidInnen, auch über die militärische Situation und dass in der nächsten Zeit entscheidende Operationen anstünden. Eine Explosion der Flüchtlingszahlen wäre zu erwarten.
Dieser Tweed schockierte mich:
tweed
 
Auf dem Hintergrund einer sich immer mehr zuspitzenden Situation ist es unerträglich zu erfahren, dass für die bis zu 3,4 Millionen Flüchtlinge im Irak, in der offiziellen Terminologie IDPs (Internally Displaced Persons) genannt, lediglich acht Prozent der benötigten Hilfe vorhanden ist. Die Lebensmittelvorräte gehen mit Juni zu Ende, es kommt zu Kürzungen in der Lebensmittelversorgung. Gehälter müssen gekürzt werden, was sich besonders dramatisch in der medizinischen Versorgung auswirkt und es kann vor allem die dringend notwendige sanitäre Ausstattung der Flüchtlingslager nicht mehr weiter ausgebaut werden.
Ich erinnere mich noch genau an meinen Besuch im Flüchtlingslager Khanke, als mir die Menschen erklärten, sie wären gar nicht unglücklich über die klirrende Kälte. Da wären sie relativ sicher vor der Ausbreitung ansteckender Krankheiten, wie Cholera etc.
Deshalb alarmierte mich die Nachricht über den Ausbruch von „scabies“, auf Deutsch Krätzmilbe, in einem kurdischen Flüchtlingslager. Vorbote einer Entwicklung, vor der alle gewarnt hatten. Eine Entwicklung, die je wärmer die Tage werden umso wahrscheinlicher wird.
Wir dürfen nicht zusehen, was sich da im Mittleren Osten abspielt.
Eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes kündigt sich an. Vor allem im Irak, und überall dort, wo Millionen Flüchtlinge und Vertriebene Zuflucht gefunden haben, im Libanon in Jordanien, in der Türkei oder in Ägypten.
Menschen, die rechtlos sind, unzureichend ernährt und mit fürchterlichen hygienischen Bedingungen zu kämpfen haben. Menschen, die nicht wissen, was sie den ganzen Tag tun sollen, weil sie keine Arbeit haben und die Kinder nicht zur Schule gehen können.
Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Wir müssen alles tun, dass die erforderlichen und auch grundsätzlich zugesagten Mittel endlich bereitgestellt werden. Sonst haben wir nicht das Recht, uns als Menschen zu bezeichnen.
Wir müssen es aber auch tun, weil das die einzige Möglichkeit ist, die ISIS-Terroristen zu stoppen. Wenn es darum geht, Bomben abzuwerfen – was in diesem Kontext wahrscheinlich auch notwendig ist, dann fragt niemand von den politisch Verantwortlichen nach den Kosten. Wenn es aber darum geht, dass unschuldig Vertriebene mit einem Rest an Würde überleben sollen – was auf jeden Fall notwendig ist, dann soll plötzlich knallharte Kostenrechnung gelten.
Das ist unmenschlich, dumm und kurzsichtig. Vor allem ist es das beste Argument, das wir den fundamentalistischen Gegnern der westlichen Zivilisation in die Hand geben.