In der letzten Woche war ich wieder einmal in Nordgriechenland, in der Gegend um Idomeni. Dort ist es ruhig geworden. Auf den ersten Blick hat der Grenzzaun etwas Definitives bewirkt. Keine Menschenmassen mehr, die hoffen hier durchzukommen. Das (informelle) Lager, wie wir es aus den Medien kennen, ist aufgelöst, die Menschen auf andere Camps aufgeteilt. Die abschreckenden Bilder sind verschwunden und damit auch das Interesse der Öffentlichkeit. Gemeinsam mit lokal Verantwortlichen, Bürgermeistern und Gemeinderäten habe ich die beiden Auffanglager Nea Kavala (Polykastro) und Cherso (Kilkis) besucht. Äußerst engagierte und bemühte Menschen mit viel Empathie, aber auch verzweifelt, ob der Aussichtslosigkeit der Situation. Fast ausnahmslos sind sie Nachkommen von Flüchtlingen, die in den 1920er Jahren in dieser während der Balkankriege verwüsteten Gegend angesiedelt wurden. Pontosgriechen, kappadokische und rumelische Griechen sowie Vlachen. Die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Verfolgung der Großeltern ist noch immer präsent. Sie hat die Menschen nicht verhärtet. Sie hat sie sensibel gemacht für die Not anderer.
Die Gemeindekassen sind wegen der Wirtschaftskrise leer, es mangelt an allem. Weder Verbandsmaterial noch Medikamente sind vorhanden. Trotzdem haben die Menschen geholfen und sie wollen weiter helfen. Doch die Mittel der EU, die Griechenland zur Verfügung gestellt bekommt, sind von den Athener Zentralstellen bereits verplant. Nach Angaben des Bürgermeisters von Samos sind gerade einmal 4,2 Millionen Euro in den Gemeindebudgets gelandet. Von den NGOs, die sich während der Wochen, in der die ganze Aufmerksamkeit auf die Region gelenkt war, buchstäblich auf die Füße traten, sind nur wenige geblieben. Sie sind in Athen, Saloniki und Lesbos. Ihre Aktivitäten sprechen sie nicht mit den lokalen Behörden ab, vieles läuft unkoordiniert. Ohne das griechische Militär würde in den beiden Lagern gar nichts funktionieren. Die Situation ist deprimierend. So begehrenswert die griechische Sonne für Touristen ist, für Flüchtlinge ist sie ein Alptraum. Gnadenlos heizt sie die 350 Zelte auf. Wie viele Menschen es tatsächlich sind, die in diesem Lager dahinvegetieren – anders kann man das nicht nennen – ist schwer abzuschätzen. 4000 Menschen wurden hier von den griechischen Behörden registriert. Es dürften sich aber deutlich weniger Menschen am Gelände aufhalten. Am Tag meines Besuchs wurden 1800 Mahlzeiten ausgegeben. Auf meine Frage, wie man diese Differenz erklären könnte, zeigte der mich begleitende Verantwortliche auf die nahen Berge, die die Grenze zu Mazedonien/FYROM markieren. Hier gibt es keinen Grenzzaun und es gilt lediglich genug Geld zu haben, um bei Kontrollen im Nachbarland durchgelassen zu werden. Schlepper verlangen für die Passage an die österreichisch – ungarische Grenze um die 1.500 €. Übrig bleibt also, wer kein Geld hat und wer körperlich beeinträchtigt ist. Das sind viele.
Die Menschen bestürmen mich. Sie wollen, dass ich ihre Gesundheitsatteste fotografiere. Alle brauchen sie Medikamente. Vieles davon ist nicht vorhanden. Rollstühle, auf die nicht wenige angewiesen sind, sind zumeist in defektem Zustand. Viele Flüchtlinge, vor allem Männer wurden während der Kriegshandlungen verletzt. Ein Mann aus Nordsyrien will meine Mail Adresse. Am Abend wird er mir Bilder seiner getöteten Familie senden und eines, auf dem er blutüberströmt aus den Trümmern gezogen wird.
Eine Frau, die mit ihren fünf Kindern im Lager lebt, bittet mich bei der deutschen Botschaft in Athen zu intervenieren. Fein säuberlich hat sie ihre Dokumente in einer Mappe geordnet. Ihr Mann hat bereits in Deutschland Asyl erhalten. Nun hofft sie auf Familienzusammenführung. Der Termin, für ihre Anhörung in Athen liegt in weiter Ferne. Erst im Dezember ist es so weit. „Was soll ich hier machen?“, fragt sie mich. „Meine Kinder gehen nicht zur Schule und wissen nicht, was sie den ganzen Tag tun sollen.“ Glücklicherweise gibt es ein Programm von „Save the Children“ das freilich nicht den regulären Schulunterricht ersetzen kann. Kinder sieht man überall. Neugierig und kontaktfreudig. Viele von ihnen kennen noch nicht die Verbitterung, die einem entgegenschlägt, wenn man mit den älteren Männern im Lager redet. Ich habe mich mit einer Gruppe von Wortführern zurückgezogen. Sie reden auf mich ein. Immer wieder sagen sie: „Wann kommen wir da raus? Sag uns bitte ein Datum.“ Ich kann ihnen keine Antwort geben. Das wollen sie nicht zur Kenntnis nehmen, auch nicht meine Beteuerung, dafür nicht zuständig zu sein. „Wir wollen mit den Zuständigen reden. Wir sind hier gefangen und werden hier zugrunde gehen. Die, die Geld haben sind schon längst weg.“ Lang geht es so dahin. Dann steht ein Mann auf und drückt mir ein Baby in die Hand: „Nimm wenigstens die Babys mit. Die sollen zumindest eine Chance haben.“
Ja, die Babys. Alle fürchten sich vor dem heißen August. Dann wird es unerträglich werden in den Plastikzelten. Auf dem ganzen Areal gibt es lediglich 20 Duschen. Eine Gemeinderätin meint: „Wenn wir wenigstens in dieser Zeit die Babys und die Schwangeren in Häusern unterbringen könnten. Wir werden es versuchen, aber wer wird für die Kosten aufkommen?“ Gegenwärtig befinden sich 50 Babys (jünger als ein Jahr) und fünfzehn schwangere Frauen im Camp.
Die Situation ist explosiv. Immer wieder gibt es Berichte von tätlichen Auseinandersetzungen im Camp. In einem ruhigen Moment zieht mich ein Mann zur Seite. Er erzählt mir, in letzter Zeit hätten sich radikale IS-Aktivisten gezeigt. Er habe große Angst, dass sie Einfluss auf die Lagerbewohner gewinnen könnten. In Nea Kavala, das in Blickweite des Grenzzauns von Idomeni liegt, scheint dies bereits der Fall zu sein. Ich habe mich mit den Vertretern der Jesiden getroffen. Sie berichten mir von tätlichen Übergriffen. Unlängst hätten sich Daesh Aktivisten nachts ins Zelt geschlichen und die Bewohner mit Messern bedroht. Begonnen hätten die Insultationen schon während des Ramadan, als radikale Islamisten forderten, dass sich die Jesiden an das Fastengebot hielten. Mittlerweile sei das Klima im Lager total vergiftet und die Frauen hätten Angst alleine zum Einkaufen in das naheliegende Polykastro zu gehen. Der uns begleitende Polizist bestätigt, dass die Ängste nicht unberechtigt sind.
Die Jesiden, deren gegenwärtiges Leiden am 3. August 2014 mit der Vertreibung aus ihren angestammten Regionen in der Nineveh-Ebene und im Sinjar Gebirge begonnen hat, sind am meisten benachteiligt. Fast 5000 hängen in Griechenland fest, 470 allein in diesem Lager. Überall kommt es zu Übergriffen. Ich habe ihnen versichert, alles zu tun, damit sie möglichst rasch im Rahmen des langsam in die Gänge kommenden Umsiedelungsprogramms der EU aus dieser doppelten Notlage befreit werden. Die portugiesische Regierung ist grundsätzlich dazu bereit, einige Tausend aufzunehmen. Leider mahlen die Mühlen der europäischen Kooperation sehr langsam, beschämend langsam. In solchen Situationen spürt man die Wut in sich hochkommen. Sie wird mich antreiben in den nächsten Wochen. Nicht indem ich mich in den Chor derjenigen einreihe, die tagtäglich herunterbeten, wer und was nicht funktioniert, ohne aber auch nur irgendwie zu versuchen selbst Lösungen anzubieten. Ich will dazu beitragen, dass der Umsiedlungsprozess (Relocation) aus Griechenland endlich startet und die Jesiden nicht vergessen werden. Ja, es braucht Ausdauer und einen starken Willen.
Eine Szene aus Nea Kavala lässt mich nicht los. Ein Jeside, etwas jünger als ich lädt mich in sein Zelt. Stolz zeigt er mir „die Mutter“. Ob es seine Mutter ist, bleibt ebenso unklar wie ihr genaues Alter. Mit Sicherheit ist sie über 100 Jahre alt. Er hat sie vom Nordirak bis nach Griechenland getragen – auf seinem Rücken. Auf meine Frage, ob das nicht anstrengend gewesen sei, meint er: „Ja schon, aber ich wollte nicht, dass sie alleine stirbt.“ Ich sitze eine Zeit lang neben ihr, sie ergreift meine Hand, erzählt mir, dass sie blind sei, aber glücklich, nicht von ihrer Familie zurückgelassen worden zu sein.“
Ich bin ziemlich aufgewühlt und recht pessimistisch nach Österreich zurückgekehrt. So kann es mit Sicherheit nicht weitergehen. Spätestens im Winter wird die Situation in den Lagern explodieren. So wie es aussieht, wird Griechenland mit der Situation nicht fertig werden. Wer sich nicht damit abfinden will, Jahre in einer solch unerträglichen Situation dahinzuvegetieren, wird alles daran setzen, wegzukommen. Da nützen auch keine Zäune. Das sind nur populistische Beruhigungspillen für das heimische Publikum. Jeder neue Zaun lässt die Kassen der Schlepper klingeln. Je wichtiger das Schlepperwesen, desto größer die organisierte Kriminalität. Nicht unlogisch. Schon jetzt gibt es Berichte über Menschen- und Organhandel. Der „Relocation“-Prozess müsste dringend einsetzen. Im Prinzip sind die Voraussetzungen erfüllt. Der Registrierungsprozess, der nur schwer in Gang gekommen ist, ist mittlerweile weitgehend abgeschlossen. Und es gibt Regierungen, die bereit sind Flüchtlinge aufzunehmen. Nicht nur Portugal. Man müsste das nur offensiv mit europäischer Assistenz angehen. Hier ist die Kommission einiges schuldig geblieben.
Das große Fragezeichen ist freilich, was nun in der Ägäis passieren wird. Niemand weiß es. Fast täglich checke ich die Zahlen. Im Juli waren es im Tagesschnitt um die 20 „New Arrivals“. Seit dem Militärputsch beginnt die Zahl wieder zu steigen. Am 2. August waren es beispielsweise 109. Sollte sich dieser Trend verfestigen, dann wird in Griechenland, das seit Mitte Juni niemand mehr in die Türkei zurückschickt, die Zahl der Flüchtlinge drastisch steigen. Die Spannungen in den Lagern werden zunehmen und auch die Konflikte mit der lokalen Bevölkerung. Manche Orte, wie Polykastro klagen, dass es wegen der Unterbringung der Flüchtlinge zu Wasserknappheit gekommen ist. Ja, es muss etwas geschehen: rasch, zielgerichtet und pragmatisch. Passiert das nicht, dann wird Griechenland ein großes Nauru, ein permanentes Zwischenlager für alle, die das mit Grenzzäunen sich selbst zerstörende Europa fernhalten will. Mit unabsehbaren Folgen.
PS: Just zu dem Zeitpunkt, als ich meinen Bericht sharen will, erreichen mich dramatische Nachrichten von meinen jesidischen Freunden aus Nea Kavala. Am zweiten Jahrestag des Genozids wurden sie im Lager überfallen und mit der Ermordung bedroht. Sie konnten auf ein freies Feld flüchten und wurden nach Stunden in der prallen Sonne in ein neues noch nicht fertiggestelltes Camp überstellt, in das auch Jesiden aus anderen Lagern gebracht werden sollen.