Unsere deutschen Nachbarn waren einst die Vorreiter der europäischen Integration. Deren Musterschüler, die sie ja in allem so gerne sind. Das hat Europa gut getan, sehr gut getan. Und es hat auch Deutschland verändert. Weltoffener gemacht. Diese langjährige deutsche Europafixierung, von manchen bisweilen als nationale Selbstverleugnung empfunden, ist der Grund dafür, dass Deutschland heute unbestritten eine Führungsrolle in Europa zugebilligt wird. Sogar von Nationen, die den Deutschen traditionell skeptisch gegenüber stehen, wie Polen oder Großbritannien. Die deutsch-französische Achse verliert immer mehr an Bedeutung. Wenn Francois Hollande gemeinsam mit Merkel als Krisenvermittler nach Minsk reist, dann wird dies eher als Reminiszenz vergangener Gleichwertigkeit empfunden. Vieles hat sich grundlegend verändert, sei dem Europa nicht mehr vom Tandem Kohl und Mitterand personifiziert wird. Aus deutscher Perspektive geht es auch um ein anderes Ziel. Nicht mehr um ein europäisches Deutschland geht es, sondern um ein deutsches Europa. Dieser Paradigmenwechsel hat vor allem ein Ende der sprichwörtlichen deutschen Selbstbescheidung zur Folge.
Zwei Beispiele aus den letzten Tagen: Das erste handelt von etwas ganz Banalem. Da geht es auch nicht um Riesensummen, sondern eher um ein Possenspiel, das seinen Ursprung in der süddeutschen Provinz hat. Es geht hier schlicht um Ignoranz und Selbstüberschätzung. Eine Untugend, die besonders häufig auf die bayerische CSU zutrifft. Ihren Ursprung hat die Geschichte im letzten Landtagswahlkampf. Die Umfrageergebnisse standen nicht gut für die CSU. Also brauchte man ein stammtischtaugliches Thema: Eine Maut für ausländische PKWs muss her. Allerdings nicht wie in Österreich, eine Gebühr, die für alle, unabhängig wo sie ihren PKW zugelassen haben, anfällt. Vielmehr eine Abgabe nur für die Ausländer. Nachdem solche Fragen in Deutschland Bundesangelegenheit sind, erklärte man diese Forderung zur Koalitionsfrage und nahm die Koalitionspartner in Geiselhaft. Zunächst wollte der zuständigen Verkehrsministers Alexander Dobrindt eine Straßenbenutzungsgebühr beim Grenzübertritt. Nach Protesten aus den Grenzregionen veränderte er den Entwurf und verlangte nunmehr eine Maut auf Autobahnen und Bundesstraßen. Inländischen Autobesitzern sollte sie durch eine geringere Kfz-Steuer ausgeglichen werden. Entgegen allen Warnungen, dass die EU- Kommission diesen plumpen Umgehungsversuch europäischen Rechts nicht hinnehmen werde, hielt der Minister daran fest und zwang die Koalitionspartner zur Solidarität. Letzte Woche tat die Kommission, das, was sie tun musste und erklärte die Mautpläne des deutschen Verkehrsministers für EU-rechtswidrig. Es ist leicht prognostizierbar, wem man jetzt die Schuld zuschieben wird. Selbstkritik ist keine Primärtugend der CSU. Also wird man das Feindbild der Brüsseler Bürokraten strapazieren müssen. Der Schaden ist auf jeden Fall enorm. Mit welchem Recht soll Deutschland denn dann von den anderen Mitgliedsstaaten Vertragstreue einfordern, wenn es sich selbst vorsätzlich über das Gemeinschaftsrecht hinwegsetzt.
In unserem zweiten Fall, bei dem es um große Summen geht, wirft man das genau den Griechen vor. Vereinbarungen müssten eingehalten werden, Verträge könne man nicht aus innenpolitischen Gründen ändern. Es müsse endlich Schluss sein mit diesen dauerhaften Bekundungen der Solidarität. Die Griechen sollten sich dankbar erweisen und endlich ihr Haus in Ordnung bringen. Und so weiter und so fort. Ich will das nicht alles wiederholen. Aber es fällt auf, dass es auch in diesem Fall um innenpolitische Befindlichkeiten geht. Niemand will darüber reden, dass es bei der „Griechenlandrettung“ auch um die Rettung deutscher Banken ging, die recht sorglos in diesem Land investiert hatten. Es darf auch nicht thematisiert werden, wieso bei der „Griechenlandrettung“ wertvolle Zeit vergeudet wurde. Weil Merkel und Schäuble, das, was sie tun wollten und mussten, erst nach der Landtagswahl in NRW taten. Vielmehr gefielen sie sich darin, die faulen Griechen vorzuführen, die gefälligst dankbar sein sollten. Niemand redete davon, dass eines der gravierenden Probleme der Griechen das korrupte politische System ist, das nicht zuletzt auf der Basis eines blühenden Rüstungsgeschäfts gedeiht. Als dann als Ergebnis demokratischer Wahlen eine Regierung zustande kam, die diesem System den Kampf ansagte, dann bemühte man die Linksradikalismuskeule. Und die Verhandlungen über die Verlängerung der Hilfsmaßnahmen für Griechenland gerieten zum Showdown. Über die Positionen wurde lediglich am Rande geredet. Zumindest in der öffentlichen Darstellung.
Die Menschen haben das Gefühl, es geht nicht mehr um eine Lösung gemeinsamer Probleme, sondern nur mehr darum, wer Recht hat und welche Nation die bessere ist. Wer das ist, daran besteht in Deutschland schon lange kein Zweifel mehr. Diesen Zweifel nicht aufkommen zu lassen wird zunehmend zur Triebkraft deutscher Europapolitik. Damit lassen sich zwar Wahlen gewinnen, in den Ländern genauso wie auf Bundesebene, gleichzeitig aber wird jene Vertrauensbasis zerstört, die Deutschland einst zum Motor der europäischen Entwicklung werden ließ. Dieser Prozess geht schleichend vor sich. „Sleepwalking“ (Christopher Clark, Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog) nannte das ein australischer Historiker, als er den Weg in die europäische Urkatastrophe, den Ersten Weltkrieg beschrieb.
Die Restaurierung des Nationalstaates wie sie durch die aktuelle deutsche Politik zwar nicht beabsichtigt, sie aber vorangetrieben wird, wird Europa zurückwerfen. Und es könnte durchaus sein, dass bald Phantasien wieder Konjunktur haben, wie etwa, dass die Welt oder zumindest Europa am deutschen Wesen genesen solle. Und das alles nur deswegen, weil irgendwer irgendwo in Deutschland Landtagswahlen gewinnen will und dabei den Blick für das Ganze verliert.