Eine gute Woche lang habe ich recht wenig vom politischen Geschehen mitbekommen. Ein großes Familienfest hatte mich in Beschlag genommen und die Welt rund um mich beinahe vergessen lassen. Mein Nachrichtenkonsum war auf ein Minimum beschränkt. Das private Interesse dominierte meine Aufmerksamkeit. Schöne Tage in jeder Hinsicht. Gerne wäre ich noch eine Zeit lang in diesem Biedermeier Idyll verharrt. Aber es geht nicht, wenn man weiß, dass die Welt rundherum brennt. Der Amnesty Bericht über Traiskirchen hat mich endgültig aus meiner sommerlichen Lethargie gerissen. Natürlich haben wir das alle irgendwie gewusst. Der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler hat diese Dinge schon lange schonungslos kritisiert, auch NGOs und Medien sind in den letzten Wochen immer wieder mit erschütternden Informationen an die Öffentlichkeit getreten. Aber das alles in einem Bericht zusammengefasst bedeutet: Wenn es um Menschenrechte für Flüchtlinge geht, ist Österreich offensichtlich eine Bananenrepublik.
Mit ein bisschen politischem Willen und mit ganz wenig finanziellen Mitteln ließe sich dieser skandalöse Zustand sofort beheben. Heinz Patzelt, der Generalsekretär von AI-Österreich sprach daher treffend von einem „selbst erzeugten Pseudo-Notstand“. Warum das so ist? Ein ausgeprägter Dilettantismus der politisch Verantwortlichen auf Bundes-und Länderebene gepaart mit notorischer Ignoranz (Flüchtlinge wählen ja nicht) ist sicherlich im Übermaß vorhanden. Aber diese Erklärung reicht nicht. Es steckt Vorsatz dahinter. Einerseits sollen die nach Österreich „strömenden“ AsylwerberInnen abgeschreckt und andererseits die für die Quartierbeschaffung zuständigen Bundesländer zu größeren Anstrengungen motiviert werden. Ein beschämendes Schwarzes-Peter-Spiel auf dem Rücken der Asylwerbenden. Ja, und dann gibt es noch ein besonders niederträchtiges Kalkül. Manche glauben, damit politische Punkte sammeln zu können. Sie versuchen auf der Welle einer vorsätzlich herbeigeführten, zunehmend rassistische Züge tragenden Fremdenfeindlichkeit zu schwimmen. Das ist pure Dummheit. Nur die Dummen gießen bekanntlich Öl ins Feuer. Die Bilder von Asylwerbern in der berühmten Zeltstadt, die auf dem Sportplatz der Linzer Polizei Mitte Mai aufgebaut wurde, haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Stimmung gekippt ist und offene Hetze salonfähig wurde. Die Menschen sind bei den darauf folgenden Landtagswahlen in der Steiermark und im Burgenland in Scharen der FPÖ zugelaufen. Das war eine historische Zäsur.
Seither sind fast drei Monate vergangen. Die Zeltstadt gibt es nicht mehr. Dafür geht es in Traiskirchen skandalös weiter, obwohl es eine offizielle Aufnahmesperre gibt. Und von Tag zu Tag wird die Stimmung aggressiver. Zum Davonlaufen, wenn da nicht die tausenden Menschen überall in Österreich wären, die ein offensives Zeichen der Solidarität setzen, Flüchtlinge beherbergen und unterstützen, sie mit dem Notwendigen ausstatten und den Hetzern mutig entgegentreten. Was mich wirklich empört ist das dröhnende Schweigen der politisch Verantwortlichen. Der Kopf tut mir weh, ob dieser Stille. Dieser prinzipienlose Opportunismus ist nicht auszuhalten. Nur nicht anstreifen, nur nichts sagen, nach dem Motto: „Hände vor die Augen, wie kleine Kinder, die sich dann nicht mehr vor dem Gespenst fürchten.“ Das hat mich schon immer maßlos aufgeregt. Anfang der 90er als die damals Verantwortlichen in der Löwelstraße plötzlich proklamierten, das Boot wäre voll. Mitte der 90er, nach der Wahlniederlage 1994 als eine von Vranitzky angeregte Arbeitsgruppe der Partei zur „Ausländerintegration“, an der ich federführend beteiligt war, nach drei Sitzungen sanft entschlief. Ende der 90er dann, als Haider, so wie jetzt Strache von Sieg zu Sieg eilte, als man uns erklärte, es wäre am besten, das Thema totzuschweigen. Usw. usf.
Immer wieder habe ich es probiert, dieses Schweigen aufzubrechen, in meiner Volkshilfe, in der Gewerkschaft und in der Partei. Unten an der Basis, also dort, wo ein erfolgloser Parteivorsitzender die „Wappler“ verortete, habe ich das größte Interesse vorgefunden. Die Menschen waren gierig nach Information und danach, jemandem ihre Probleme erzählen zu können. Das waren intensive und mitunter recht kontroversielle Diskussionen, die mir klar gemacht haben, dass die Menschen offen für Argumente sind und sich auch engagieren wollen. Diese Menschen sind der Grund, warum ich (immer noch) in der SPÖ bin. Ich habe einmal im Vorfeld eines Wahlkampfes einem führenden Genossen, der die größte „Hausbesuchsaktion aller Zeiten“ plante, von meinen Erlebnissen erzählt und ihm angeboten, meine Erfahrungen einzubringen. Er lehnte dankend ab und meinte: „Wir sagen unseren Leuten, sie sollen auf ein anderes Thema ausweichen.“ Natürlich hat er die Wahl mit Bomben und Granaten verloren. Indem die politische Klasse dieser Republik das Thema Asyl totschweigt bzw., wenn es gar nicht mehr anders geht, sich in symbolischen Alibiforderungen, wie der Einführung von Grenzkontrollen zu profilieren versucht, begeht sie einen fatalen Fehler. Hans Rauscher bezeichnete das im Standard völlig zu Recht als „ein Rezept für den politischen Untergang“. Sollte so wie bisher weiter dilettiert werden und sich dieses „Rücksichtnehmen auf die Rücksichtslosen“ fortsetzen, dann könnte die Stimmung im ganzen Land kippen. Und „dann wird dieser Staat nicht wiederzukennen sein.“
Traiskirchen ist kein Sommerthema. Es wird nicht möglich sein, im Herbst einfach in der politischen Tagesordnung weiter fortzufahren. Die Landtagswahlen in OÖ und in Wien werden – wenn sich nichts mehr grundlegend ändert – für ein politisches Erdbeben sorgen, dass die politischen Gewichte verschieben wird. Und nicht, weil die Menschen die FPÖ so sehr schätzen, vielmehr, weil sie ihrer Unzufriedenheit Ausdruck geben wollen. In diesem Zusammenhang spielt Traiskirchen als Metapher für die gescheiterte „Ausländerpolitik“ (die sie im Bewusstsein vieler Menschen immer noch ist) eine Schlüsselrolle. Traiskirchen steht für politische Handlungsunfähigkeit, für administrativen Dilettantismus und für mangelnde Sensibilität. Ja, und es zeigt einmal mehr, dass der Föderalismus die Republik nicht zusammenhält, vielmehr zu einem bedrohlichen Zentrifugalfaktor geworden ist.
Die 2. Republik ist in ihrem Endstadium angelangt. Begonnen hat dieser Prozess vor beinahe 30 Jahren beim Innsbrucker Parteitag der Freiheitlichen mit der putschartigen Inthronisierung Jörg Haiders. Seither ist das Land in einer Art Schockstarre. Die politischen Eliten sind seither wie gelähmt. Kaum mehr fähig zum gemeinsamen Handeln. Die Traiskirchner Republik, in der wir gegenwärtig leben, ist eine Art Übergangsstadium. Noch ist nicht entschieden, wohin die Reise geht. Bewegen wir uns in eine autoritäre Richtung so wie in Ungarn? Oder gelingt am Ende doch ein demokratischer Neuanfang. Ob das gelingt, hängt davon ab, wie die gegenwärtige Situation gelöst wird. Aussitzen lässt sich das nicht mehr. Also endlich aufwachen! Der Beschluss des Nationalrates ist ein erster Schritt. Möglicherweise kommt er zu spät. Es braucht eine offensive, auf die Einbindung der Bevölkerung ausgerichtete Strategie. Ja, wir werden mit viel mehr Flüchtlingen als bisher rechnen müssen, solange die Kriegsherde im Mittleren Osten nicht stabilisiert sind und Afrika unter den Folgen europäischer Handelspolitik leidet.
Das zu verschweigen oder vorzuheucheln, man könne einzelne Bundesländer von Flüchtlingen freihalten ist der Kern des Übels. Ebenso die permanente Unterstellung, es würde sich bei den Asylwerbern um „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder Kriminelle handeln. Diese Darstellung widerspricht nicht nur diametral der Realität – sie entspricht auch dem Tatbestand der Volksverhetzung. Dieser aggressiven Hetze und bewussten Verdrehung muss mit aller Entschiedenheit und mit dem Einsatz der letzten noch verbliebenen Autorität entgegengetreten werden. Von ganz oben. Klar und deutlich. Nicht so wie bisher. Und die Verantwortlichen sollten sich vor allem über einen positiven Aspekt freuen, den sie nicht beabsichtigten: über die nicht abreißen wollende Welle zivilgesellschaftlichen Engagements. Zehntausende ÖsterreicherInnen sind seit Wochen auf den unterschiedlichsten Ebenen freiwillig tätig, um den Flüchtlingen zu Seite zu stehen, indem sie Nahrung und Kleidung zur Verfügung stellen, Wohnungen bereitstellen, Deutschunterricht anbieten oder mit Rat und Tat zur Seite stehen. Die meisten haben das Gefühl, dass ihr Engagement oft nur geduldet wird. Es gibt nicht wenige Fälle, wo dies sogar explizit unerwünscht ist. Gerade jetzt wäre es für die staatstragenden Parteien wichtig, auf diese Menschen zuzugehen. Weitaus wichtiger als das Schielen auf verantwortungslose Hetzer und Demagogen. Also auf die Rücksichtsvollen Rücksicht nehmen und nicht auf die Rücksichtslosen. Die Erkenntnis, dass es so viele Bürgerinnen und Bürger gibt, die sich aktiv und mit Engagement für die Gemeinschaft einsetzen und Verantwortung übernehmen wollen, das müsste eigentlich alle Pessimisten aufrütteln und alle Politstrategen, denen bislang nur zynische Rezepte eingefallen sind, nachdenklich machen.