Mein Erstkontakt mit Bangladesch hatte nur indirekt mit Politik zu tun. Es war das berühmte Benefizkonzert von George Harrison im Madison Garden.
Bangla Desh war ein damals niemandem geläufiger Name für das gerade unabhängig gewordene Ostpakistan. Das Land litt unter den Folgen des Unabhängigkeitskrieges und galt als das ärmste Land der Welt. Ein Land ohne Hoffnung, indem die Menschen verhungerten. Daran musste ich denken, als ich vergangene Woche zum ersten Mal nach Bangladesch kam. Als Mitglied einer Delegation des Ausschusses für Menschenrechte des Europäischen Parlaments. Ich war schon häufig am Indischen Subkontinent. Also nicht mehr anfällig für die emotionalen Wechselbäder die einen ergreifen, wenn man zum ersten Mal in diesen Teil der Welt reist. Obwohl die Sicherheitslage als extrem gefährdet gilt, erlebte ich ein dynamisches und pulsierendes Land, dem man nicht ansieht, dass es sich möglicherweise auf eine Katastrophe zu bewegt.
Unser Anliegen war, einen Überblick über die Situation der Menschenrechte, zu erhalten, zu deren Einhaltung sich Bangladesch durch den Beitritt zu internationalen Konventionen sowie in Vereinbarungen mit der EU verpflichtet hat. Wir trafen uns mit allen relevanten Stakeholdern. Insgesamt hatten wir 23 verschiedene Meetings. Besonders wichtig für uns war die Situation der ArbeiterInnen in der Textilindustrie. Der Handel mit Europa macht mehr als 10% des BIP aus. Alle wichtigen europäischen Marken wie H&M, Zara oder Benetton lassen hier produzieren. Einer der Gründe liegt im vergleichsweise niedrigen Lohnniveau und den laxen Schutzbestimmungen. Von uns in Europa lange Jahre achselzuckend hingenommen. Die europäischen KonsumentInnen in ihrem neurotischen Verhalten der permanenten Schnäppchenjagd hatten wenig Zeit und Lust danach zu fragen. Bis zur Tragödie von Rana Plaza, als über tausend Menschen während ihrer Arbeit sterben mussten, weil ein ohne Rücksicht auf Sicherheitsvorschriften errichtetes Fabrikgebäude einstürzte. Der Rana Plaza Skandal rüttelte die Menschen auf.
Aus Sorge darüber, die Märkte könnten einbrechen, erklärten sich im Rahmen von Accord die Produzenten bereit, mit den großen internationalen Handelsfirmen, begleitet und unterstützt von der EU, menschenwürdige Standards zu erarbeiten. Im Interesse der Beschäftigten und im Interesse der europäischen KonsumentInnen. Obwohl der Prozess noch sehr jung ist, zeigen sich erste Erfolge. Die sicherheitstechnischen Bedingungen konnten vielerorts verbessert werden. Bis zum nächsten Jahr wird es möglich sein auszuschließen, dass in den beteiligten Betrieben derartige Vorkommnisse wieder passieren. Besonders schlechte Betriebe wurden bereits stillgelegt. Zögerlich beginnen die Firmen auch Kollektivverträge abzuschließen. Wir hatten Gespräche mit Gewerkschaftern und Unternehmern (die sich stolz „owner“ nennen). Viel ist zu tun. Unter dem Druck der europäischen Märkte beginnt sich eine, bisher nicht vorhandene Verhandlungskultur und ein Bewusstsein sozialer Verantwortung zu entwickeln. Dazu hat auch wesentlich ein Mann beigetragen, dem 2006 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Ich durfte mit ihm zu Abend essen. Das wird mir immer in Erinnerung bleiben. Yunus ist Optimist, ein unverbesserlicher. Ein Mensch, auf den zutrifft, was Gramsci den „Optimismus des Willens“ nannte.
Er kann Menschen damit anstecken. Und es waren solche Menschen, die das Land in die Gewinnerzone brachten. Bangladesch könnte zu einem Erfolgsmodell werden, so wie damals in den 90-er Jahren die südostasiatischen Tigerstaaten. Goldman-Sachs reihte das Land sogar unter die N-11 (Next Eleven), die das Potential haben, zu den führenden Wirtschaftsnationen des 21. Jahrhunderts zu zählen. Die Chancen stehen gut, auch deswegen, weil es die prinzipielle Bereitschaft gibt, sich den Problemen und Herausforderungen zu stellen. Davon gibt es genug: Pressefreiheit, die Situation der Rohingya Flüchtlinge aus dem benachbarten Myanmar, die Rechte der indigenen Minderheiten und der damit verbundenen Landraub, child-marriages, Gewalt gegen Frauen und ganz generell Frauenrechte.
Es gibt eine florierende NGO-Szene und trotz staatlicher Behinderungen eine Vielzahl von Medien. Ich habe selten so ein großes Medieninteresse erlebt wie bei dieser Reise. Wir haben die Probleme recht direkt angesprochen, wurden mitunter missinterpretiert und haben uns aber erfolgreich zur Wehr setzen können. Alles Rahmenbedingungen, die eigentlich eine positive Voraussetzung darstellen. Dazu zählt auch die Verfassung des Landes. Wäre sie nicht durch unzählige Amendments verwässert worden, würde sie eine gute Basis darstellen. Das große Problem des Landes ist neben der weitverbreiteten Korruption und ursächlich mit ihr zusammenhängend eine geradezu bizarre Polarisierung des politischen Lebens. Zwei Parteien, besser gesagt zwei Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die gegenwärtig regierende Awami- League und die in Opposition befindliche BNP haben sich das Land aufgeteilt und bedienen ihre jeweilige Anhängerschaft. Als gelerntem Österreicher, der die Geschichte unseres Parteisystems kennt, fällt es mir nicht schwer, die ritualisierte Logik solcher Auseinandersetzungen zu verstehen. Unterschiedlich ist lediglich, dass die beiden Parteien sich weder in ihrer sozialen Zusammensetzung noch ideologisch unterscheiden.
Und, dass die Kämpfe mit einer grausamen Unerbittlichkeit geführt werden. Das hängt wohl damit zusammen, dass sich zwei Frauen gegenüberstehen, deren Karriere indirekt mit politischen Gewalttaten in Zusammenhang steht. Die gegenwärtige Ministerpräsidentin Sheikh Hasina ist die Tochter des 1975 ermordeten Begründers der Unabhängigkeit Sheikh Mujibur Rahman. Ihre Gegenspielerin Begum Khaleda Zia, die dieses Amt auch schon zweimal ausgeübt hat ist die Witwe von Ziaur Rahman, der 1981 während seiner Amtszeit als Präsident ermordet worden war. Die beiden Lager haben sich mehrfach in der Regierung abgewechselt. Gegenwärtig fordert die BNP unter Khaleda eine Neuaustragung der Wahlen vom Vorjahr, die sie boykottiert hatte und daher als nicht legitim erachtet. Die Regierungspartei hingegen sieht keinen Grund für Neuwahlen. Seit Anfang Jänner spitzt sich die Lage dramatisch zu. Bereits mehr als siebzig Menschen sind Brandanschlägen zum Opfer gefallen. Um die 10 000 Anhänger der BNP sind inhaftiert. Khaleda Zia steht unter Hausarrest. Als wir sie in ihrem Haus besuchten, konnten wir uns davon überzeugen unter welchem Druck sie gegenwärtig steht.
Beide Lager beschuldigen sich wechselseitig, für die Brandanschläge verantwortlich zu sein. Journalisten, mit denen wir zusammentrafen meinten, es würden wohl beide Seiten involviert sein, zusätzlich noch der Geheimdienst und wohl auch Trittbrettfahrer aus dem noch schwachen terroristischen Untergrund. Wie auch immer, die regierende Awami Liga beschuldigt die BNP, den islamistischen Terrorismus zu begünstigen und stellt sich gegenüber dem Westen als verlässlichen Partner im Kampf gegen den Terrorismus dar. Zweifelsohne ist die Awami Liga eine säkulare Bewegung, während die BNP traditionell gute Beziehungen zu Jaamat, einer den Muslimbrüdern vergleichbaren Gruppierung unterhält. Momentan ist die Situation verfahren. Keine der beiden Seiten zeigt sich bereit, von der eigenen Position abzurücken und einen Kompromiss einzugehen. Alles steuert also auf die große Konfrontation zu. Mit unabsehbaren Folgen. Es ist nicht zu erwarten, dass die Anhängerschaft der BNP eine Niederlage hinnehmen wird. Eine Zuspitzung bis hin zum Bürgerkrieg ist im Bereich des Möglichen. Auch ist zu hinterfragen, ob nicht eine, von maßgeblichen Kreisen in der Regierungspartei gewünschte Ausschaltung oder Marginalisierung der BNP nicht ein Vakuum hinterlassen würde, in das dann radikale islamistische Grupperungen vorstoßen könnten.
Bangladesch ist einer der am dichtest besiedelten Staaten und hat einen muslimischen Bevölkerungsanteil von über 95%. Die möglichen Folgen der skizzierten Entwicklungen sind gar nicht auszudenken. Wenn niemand diesen Teufelskreis durchbricht, dann erleben wir möglicherweise eine Katastrophe über die wir uns noch gar keine Vorstellungen machen können. Die Hoffnung vieler Menschen in Bangladesch liegt darin, dass Hilfe von außen, diese Blockade überwinden kann. Die EU und die UN stehen in der Erwartungspyramide für das Zustandekommen einer Vermittlungsaktion ganz oben. Es sollte uns auf jeden Fall nicht gleichgültig lassen, was in diesem Land passiert. Vielleicht sollten wir auf George Harrison hören, als er damals sang: „Now, it may seem so far from where we all are ……..?Want to hear you say: Relieve the people of Bangladesh.“