Ich war noch nie in Srebrenica. Aber ich war in Gorazde. Beides sind Städte in Ostbosnien, an der Drina gelegen, beide Städte waren Gegenstand brutaler Belagerung während des Jugoslawienkrieges und standen damals unter dem halbherzigen Schutz der Vereinten Nationen. Ich war nur kurz in Gorazde und traf mich mit den politisch Verantwortlichen, in einem Lokal direkt an der Drina. Es waren Männer, stolze Männer.
Das Verbrechen von Srebrenica
In Srebrenica gibt es keine stolzen Männer. Srebrenica ist der Ort eines der grauenvollsten Verbrechen im heutigen Europa. 8000 seiner Männer wurden systematisch auf bestialische Weise gemordet. Genozid nennt das Völkerrecht ein solches Verbrechen, dessen Tatbestand darin besteht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.“
Genau das geschah in den Julitagen des Jahres 1995 in Srebrenica. Mitten in Europa, vor den Augen der ganzen Welt. Deren Repräsentanten, in diesem Fall UN – Friedenstruppen aus den Niederlanden, sahen tatenlos zu, ja, ließen sich zu opportunistischen Komplizen degradieren. Die Männer von Srebrenica waren den Kräften wehrlos ausgeliefert, die sich zum Ziel gesetzt hatten, diese Region ethnisch zu säubern. Mitten in Europa. Dieser nationalistische Wahn hatte sich seit Generationen aufgebaut, basierte auf Vorurteilen, Neid und Minderwertigkeitskomplexen, immer präsent in der Region. Zumeist blieb dieser Wahn auf eine kleine Gruppe von versponnenen Abenteurern und hirnlosen Maulhelden beschränkt. Wie der berühmte Geist in der Flasche. Immer dann, wenn es kriselt, dann greift man nach der Flasche.
So auch zu Beginn der 1990-er Jahre, als Jugoslawien kollabierte. Plötzlich zählte nur mehr das Negative. Schuld waren immer die anderen. Menschen, die gute Nachbarn waren, wurden plötzlich zu Feinden. Menschen, die diese Gegend seit Jahrhunderten gemeinsam bewohnt hatten, wurden drangsaliert, ihrer Würde beraubt und erniedrigt. Sie wurden vertrieben, vergewaltigt, niedergemetzelt. Man wollte sie auslöschen, ein für alle mal. Unter der Führung, eines sich auf seine verborgene historische Größe rückbesinnenden Serbien sollte Jugoslawien aus der Krise heraussteigen wie der Phönix aus der Asche. Mit der Kraft aus der Vergangenheit hinein in eine neue Zukunft! – Auch das ist Europa.
In unserem Fall reichte die Vergangenheit zurück bis ins Jahr 1389. Zur Mutter aller Schlachten und allen Unheils, zur Schlacht am Amselfeld. 600 Jahre sind eine Ewigkeit. 600 Jahre, das sind 20 bis 30 Generationen, die diese Geschichte unentwegt fort tradiert und weiter gesponnen haben. Das prägt sich ein in die Seele eines Volkes. Wer auf einem solchen Klavier spielt, wie das Milosevic mit seiner berühmten Rede getan hat, der muss mit den Konsequenzen rechnen. Und es gilt auch: Wer sich selbst erhöht, der erniedrigt andere. Nationalistischer Größenwahn lässt sich nicht dosieren. So wie der Geist aus der Flasche. Einmal entwichen kann ihn keine Macht der Erde wieder in die Flasche zwingen. Seine Wirkung ist hochtoxisch, er vernebelt die Gehirne, macht hemmungslos und bricht alle Tabus. So geschehen in Sarajevo, Prijedor, Omarska, Visegrad und eben Srebrenica. Eine Flugstunde bzw. eine Tagesreise von Österreich entfernt. So nah und dennoch – für die Mehrzahl der Menschen hierzulande – weit weg.
Der Bosnienkrieg und als seine ultimative Übersteigerung der Genozid von Srebrenica hinterließen eine offene Wunde, die noch lange nicht abgeheilt ist. Sie zeigen auf, dass wir uns nicht selbstzufrieden damit brüsten können, Europa hätte seine Lektionen aus der Katastrophe des von den Nazis angezettelten großen Krieges gelernt. Srebrenica ist eine Stätte ,an der niemand stolz sein kann. Anders als in Orten wie Sarajevo, wo man unter vielen Opfern der brutalen Übermacht standhielt, oder eben Gorazde. Srebrenica ist eine Stätte der Schande, eine Stätte der Schmach und der Niedertracht. Srebrenica macht traurig und betroffen. Es macht hilflos, das Geschehene in Worte zu fassen. Zum Glück ist die menschliche Sprache dazu nicht fähig. Es zeigt aber auch unsere ganze Hilflosigkeit, das Unfassbare nicht verhindert zu haben oder es ungeschehen machen zu können. Angesichts der Tragik der Vorgänge reicht es freilich nicht aus, den Hinterbliebenen Mitleid entgegen zu bringen oder ihnen die Versicherung unseres tiefen und aufrichtigen Beileids abzustatten. Das ist viel zu passiv gewollt.
Srebrenica muss uns wütend machen. Zornig.
In so einer Situation kann der Zorn – der unter alltäglichen Umständen ein schlechter Ratgeber ist – ein heiliger Zorn sein. Niemals zu vergessen – das sind wir den Opfern und ihren Hinterbliebenen schuldig. Die Täter wollten alles, was vom muslimischen Srebrenica zeugen könnte: die Menschen, ihre Geschichte, ja das künftige Erinnern ein für alle mal zum Verschwinden bringen. Genauso wie es im Übrigen die Nazis hielten. In Treblinka, Sobibor oder Hartheim, wo sie alle Spuren tilgten, die an ihr verbrecherisches Tun erinnert hätten. Keine Spuren sollten übrig bleiben vom Völkermord in Srebrenica. Die Täter verscharrten ihre Opfer und unternahmen allerlei Täuschungsmanöver, um spätere Identifizierungen unmöglich zu machen. Selbst als Tote sollten sie nicht mehr existieren.
Es ist eine nur den Menschen eigene Verhaltensweise, die Toten würdevoll zu bestatten. Dies zu verweigern ist eine zutiefst unmenschliche, ja nichtmenschliche Tat. Eine der ältesten Tragödien Europas handelt davon: Antigone, die Tochter des Ödipus. Diese fühlte sich verpflichtet, auch unter Androhung der Todesstrafe für eine würdevolle Bestattung ihres Bruders zu sorgen. Sie widersetzte sich dem königlichen Gesetz und bezahlte dies mit dem eigenen Leben. Bertolt Brecht setzte die antike Tragödie in Bezug zu den Nazi Verbrechen. Was er Antigone über die Jahrhunderte zurück zurief, das gilt ebenso für die Frauen von Srebrenica: „ Noch je vergaßest Du Schimpf und über die Untat wuchs ihnen kein Gras.“
Menschen, die Srebrenica vergessen lassen wollen, die die Geschehnisse leugnen oder verharmlosen, solche Menschen tragen dazu bei, dass sich derartiges wiederholt, ja, solche Menschen leisten künftigen Verbrechen Vorschub. Das Leugnen der Verbrechen von Srebrenica ist vielmehr selbst ein Verbrechen. So wie das Leugnen des Holocaust.
Niemals vergessen – dieses Motto des Antifaschismus trifft gerade in diesem Fall zu.
Wie sollte man das jemals vergessen können. Ich erinnere mich noch gut an eine Pressekonferenz der oberösterreichischen Volkshilfe, wenige Tage nach den schrecklichen Vorkommnissen. Als Gäste hatten wir Frauen, die soeben dem Grauen entkommen waren, weil sie sich über die Berge bis nach Tuzla durchschlagen konnten.
Ich erinnere mich an die Gefühle der Ohnmacht und des Zornes, die in mir hochkamen. Vor allem einen Tag später, als ich feststellen musste, dass die Medien kaum Notiz nahmen. Auf meine Vorhaltungen hin erklärte mir ein befreundeter Journalist, ich müsste doch einsehen, dass österreichische Medien die Verpflichtung hätten, nicht einseitig Partei zu ergreifen. Aber: das Verbrechen des Genozids erlaubt keine Äquidistanz. Wer die Schuldigen nicht benennt, Unrecht nicht als solches bezeichnet, der kann keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen. Und damit gibt es auch keine Zukunft.
Nicht zu vergessen, bedeutet freilich nicht, daraus die Berechtigung ableiten zu können, das „Tätervolk“ hassen zu dürfen. Man kann Individuen hassen, aber niemals ein Volk.
Antigone, die große Frauengestalt aus der Antike, sprach, als sie bereits ihren Tod vor Augen hatte, jene seherischen Worte, die ein politisches Vermächtnis für Europa darstellen: „Nicht (mit) zu hassen, (mit) zu lieben sind wir geworden!“ Solche Größe ist nicht immer möglich und bedarf eines stetigen Bemühens.
Die Drina, dieser Schicksalsfluss Europas, ist Zeugnis davon, dass solches immer wieder gelingt. Ivo Andric, der heute keineswegs Unbestrittene, hat in seinem mit dem Nobelpreis gewürdigten Roman „Die Brücke über die Drina“ beschrieben, wie konstitutiv für die Stadt Visegrad das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien und gleichzeitig fragil dieses Gebilde war. Er hat uns eine zentrale Erkenntnis vermittelt, ohne die Europa nicht existieren kann:
„Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.“
Europa als Bewältigung vergangenen Schreckens
Europa ist vor allem eine Baustelle. Der ständige Versuch, den Einsturz und das Zusammenbrechen zu verhindern, indem man Provisorien einzieht, Notlösungen vornimmt und zuweilen kühne Konstruktionen zulässt. Europa ist das stetige Bemühen, überall dort Brücken zu bauen, wo sich unüberwindbare Gräben auftun.
Brücken werden zumeist aus materiellen Überlegungen errichtet, um Handel zu treiben, um miteinander in Kontakt zu treten. Einmal errichtet werden sie bald zur Selbstverständlichkeit. Erst wenn sie zerstört sind, merkt man, wie wichtig sie sind.
Wie die Brücke von Mostar, die Brücke über die Drina in Vysegrad oder die Donaubrücke in Novi Sad.
Europa ist geworden. Es wurde nicht auf dem Reißbrett konzipiert. Es ist gewachsen aus der Einsicht der Menschen, etwas falsch gemacht zu haben. Das zugrundeliegende Motiv: es besser zu machen und die Selbstzerfleischung nicht mehr zuzulassen.
Es gab viele Anläufe zu einem gemeinsamen Europa. Zunächst blieb dies auf wenige Weitsichtige beschränkt. Die Mehrheit erlag nur allzu leicht immer wieder dem berauschenden Gift des Nationalismus. Von Niederlage zu Niederlage freilich schwoll das Lager der Einsichtigen an. Die große Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erlaubte schließlich einen Paradigmenwechsel, einen Neubeginn.
Am Anfang des europäischen Projekts standen Erschöpfung und Müdigkeit und das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Man könnte es auch als ein Gefühl der Erleichterung beschreiben. Endlich war es vorbei, das Grauen, dem man sich nur schwer entziehen konnte, und dem man mehr oder minder ausgeliefert gewesen ist.
Es waren keine hochmögenden Visionen, die die europäischen Staatsmänner der Nachkriegsjahre antrieben, vielmehr schierer Überlebenstrieb. Nicht ideologisch verbrämte Mythen, sondern Pragmatismus stand am Beginn der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich.
Carlo Schmid, der große deutsche Sozialdemokrat analysierte den Neubeginn in den Beziehungen der beiden „Erbfeinde“, ohne den der europäische Einigungsprozess nicht möglich gewesen wäre, einmal folgendermaßen:
„Dieses Sich-aneinander -Wagen setzt voraus, daß man bereit ist, den anderen so zu wollen, wie er ist, nicht wie man ihn haben möchte.“ Es wäre gleichsam ein „Glücksfall“, wie eben im historischen Falle Deutschlands und Frankreichs, wenn sich dieser Moment „auf dem Nullpunkt der Erwartung“ ereigne.
Europa – und darin liegt seine Stärke und Schwäche zugleich – ist eine nüchterne, eine trockene Angelegenheit. Europa- das bedeutet nicht Liebe auf den ersten Blick.
Europa ist nicht sexy. Sofern wir Gefühle für Europa haben, haftet ihnen nichts Erotisches an, so wie das für den überall am Kontinent grassierenden Patriotismus zutrifft. Eher ein Gefühl von Sicherheit oder vielleicht Dankbarkeit. Und eher Zuversicht als Gefühl. Die europäische Integration war keine Liebesheirat, vielmehr eine wohlüberlegte, an materiellen Vorteilen orientierte Ereigniskette.
Wir wissen, dass Vernunftehen mitunter häufiger von Bestand sind, als von der Aufwallung von Gefühlen getriebene Liebesheiraten.
Der europäische Prozess entwickelte sich parallel, auf zwei unterschiedlichen Pfaden.
Zunächst in eine politische Richtung: Inspiriert von Winston Churchills berühmter Züricher Rede von 1946, in der er die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich forderte und dafür plädierte, nicht „Hass“ und „Rache“ fortzuschleppen und die Europäer leidenschaftlich aufforderte: „Lasst Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Freiheit walten.“ Die Schaffung der von ihm propagierten Vereinigten Staaten Europas, für die er nur ein kleines Zeitfenster sah, scheiterte, nicht zuletzt an britischen Bedenken. Der Europarat, dessen parlamentarische Versammlung regelmäßig in Straßburg tagt, ist der bescheidene Rest, der von diesen politischen Träumen übrig geblieben ist.
Der zweite Pfad setzte bei den materiellen Interessen der Menschen an. Sie sollten ungehindert Handel treiben können, ihre Industriepolitik und ihre Atompolitik gemeinsam ausrichten. Gekrönt wurde dieser Prozess mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957. Europa wurde zu einer Wirtschaftsgemeinschaft.
Das dahinterliegende Kalkül war einfach und auch richtig. Auf die wirtschaftliche Einigung würde automatisch die Einsicht folgen, sich auch politisch enger zusammen zu schließen. Wenn Menschen miteinander Handel treiben, möglichst ungehindert durch Grenzen und Zölle, dann kommen sie sich näher. Menschen, die miteinander in geschäftlichem Kontakt stehen, entwickeln wechselseitiges Vertrauen. Dieses ist ihre Geschäftsgrundlage. Menschen, die notorisch Zwietracht säen, wie es das Naturell von Nationalisten ist, solche Menschen werden als geschäftsschädigend empfunden und alsbald isoliert.
So ist das nach 1945 passiert. Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Kindheit, an die Erzählungen meines Großvaters, eines ganz lieben Menschen, der noch die Schlachten am Isonzo erlebt hatte. Ich erinnere mich, wie wir Kinder abfällig von den Italienern als „Katzelmachern“ und „Spaghettifressern“ sprachen. Wenn ich das heute meinen mit Pizza und Pasta groß gewordenen Kindern erzähle, dann verstehen sie mich nicht. Das ist Europa
Its the economy!
So hätte es auch in Bosnien passieren können, so wird es vielleicht passieren. Ich erinnere mich noch gut, als ich zum ersten Mal in Brcko war. Gleich nach dem Krieg.
Noch nie in meinen Leben habe ich ein solches Ausmaß an Zerstörung gesehen – vom Kugelhagel zersiebte Häuser und dem Boden flachgemachte Siedlungen. Und dennoch gab es etwas Überraschendes, das sich ebenfalls in meine Erinnerung eingeprägt hat: Arizona-Market. Zuweilen der größte Markt auf dem Balkan. Hier fand man alles, was man kaufen wollte, und hier fanden sich alle ein. Auch Menschen, die wenige Monate vorher noch gegeneinander gekämpft hatten, handelten miteinander. „Kaufen statt kämpfen“ übertitelte 1996 die WELT eine Reportage über Brcko.
Mehr als 15 Jahre später ist Brcko, trotz vieler negativen Seiten, die es auch aufweist, eine der wenigen Orte, wo Bosnien funktioniert, wo die meisten der Vertriebenen zurückgekehrt sind und das multiethnische Zusammenleben möglich ist.
Ja, wirtschaftliche Vernunft ist eine wichtige Basis für menschliches Zusammenleben. It’s the economy!
Das europäische Projekt ist auf dieser Grundlage zustande gekommen. Und es ist ein Erfolgsprojekt, allen Unkenrufen zum Trotz. Es war ökonomisches Denken, also die durchaus richtige Erkenntnis, dass die Menschen nur dann zu einem politischen Projekt JA sagen, wenn sie etwas davon haben. Wenn jede/r etwas davon hat. Wenn es am Ende dazu führt, dass alle das Gefühl haben, nicht übervorteilt zu werden. So wie am Beispiel von Arizona/Brcko.
Wirtschaftlicher Erfolg macht aber oft übermütig, führt zur Vernachlässigung nichtökonomischer Aspekte. Wenn die Ökonomie nur mehr sich selbst genüge ist, dann kommt es zum Marktversagen. Und es gibt Profiteure auf Kosten der Allgemeinheit, vor allem aber Menschen, die zu Schaden kommen, weil sie übervorteilt werden. Gesellschaftliche Ungleichheit ist die Kehrseite der Marktwirtschaft. Sie tritt vor allem dann auf, wenn die Marktwirtschaft ohne das Adjektiv „sozial“ auszukommen glaubt und wenn sie ungehemmt durch staatliche Eingriffe der bloßen Profitmaximierung dient.
Die Gier ist mittlerweile zur universellen Triebfeder in Europa geworden. Zumindest treibt sie die spekulativ agierenden Finanzmärkte an. Mit atemberaubender Geschwindigkeit werden kurzfristige Vorteile gesucht. Dieser Geist hat die Mehrheit der Menschen erfasst. Was dem einem seine Bonuszahlung ist, sind den anderen überall lockende Schnäppchen, privilegierte Zugänge zu irgendwelchen Programmen, die meisten möchten premium oder executive sein.
Es herrscht eine hektische Drängelei in dieser selbsterklärten Hochleistungsgesellschaft.
Europa ähnelt einer Autokolonne, in der jeder seinen eigenen Vorteil suchend, den anderen in riskanten Manövern zu überholen versucht, ohne dadurch freilich früher am Ziel zu sein. Die Gier ist allgegenwärtig.
Viele Menschen spüren das. Die Europaskepsis greift um sich. Europa wird von vielen nur mehr als ein Projekt der ökonomischen Eliten gesehen, denen man überdies keine wirkliche Problemlösungskompetenz zubilligt. In der Tat ist es bislang nicht gelungen, den Bürgerinnen und Bürgern konkrete Vorteile in Aussicht zu stellen. Es kommt nichts, genauer, es kommt zu wenig für die Menschen heraus.
Ein soziales Europa! Das ist ein ständig wiederkehrender Slogan der linken und progressiven Parteien bei Wahlen zum Europäischen Parlament. Sobald die Wahlkämpfe vorüber sind, gerät diese Forderung gleich wieder in den Orkus des Vergessens, um dann bei den politischen Sonntagsreden wieder hervorgeholt zu werden.
Dann beschwört man mit sanften Tönen das europäische Sozialmodell. Europa wäre ein Kontinent des sozialen Ausgleichs und der Sorge um die Mitmenschen. Sobald es allerdings um Reformen geht, werden die USA zum Vorbild erklärt.
Europa hat es nicht geschafft, die durchaus gelungene wirtschaftliche Integration sozial abzufedern. Europa, das sind die Märkte: Deregulierung, Privatisierung, Wettbewerb lautet deren Mantra.
Wenn die Märkte diktieren
Dieser Mangel hat weitreichende Konsequenzen. Zum einen, weil ein vorrangig auf die Wirtschaft ausgerichtetes Europa seine Bürgerinnen und Bürger enttäuschen muss. Denn niemand kann auf Dauer eine Politik durchsetzen, die von der breiten Masse Opfer und Verzicht fordert, ohne dass etwas Erkennbares zurückkommt. Zum anderen begünstigt eine solche Politik die Besitzenden und verstärkt die soziale Ungleichheit. Je stärker die soziale Ungleichheit ausgeprägt ist, umso mehr geraten die europäischen Gesellschaften aus dem Gleichgewicht. Wirtschaftlich, sozial und politisch.
Wachsende Ungleichheit und die damit einhergehende Verunsicherung ist der Nährboden für allerlei Populismus.
Jedes Sparpaket, jede Haushaltskürzung vergrößert das Potential, auf das die Demagogen rücksichtslos zugreifen können. Solange die Politik der demokratischen Parteien nur Opfer und Belastungen verlangt und nicht vermitteln kann, dass diese nicht umsonst waren, solange wird diese Gerechtigkeitslücke ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit bei den breiten Massen hinterlassen.
In allen Mitgliedsstaaten ist die populistische Rechte auf dem Vormarsch: nicht nur in Ungarn, schon seit einigen Jahren in Frankreich und Italien oder in Österreich. Auch in Staaten mit liberaler Tradition, wie den Niederlanden oder im skandinavischen Norden.
Das nationalistische Gift, von dem man glaubte, es würde niemals mehr eingesetzt, wird wieder aus dem Medikamentenschrank geholt. Wir wissen, wohin das führt.
Aber wir werden das nicht verhindern können, wenn wir bloß auf diese historischen Zusammenhänge verweisen. Dies ist redlich und ehrenhaft, dies ist wichtig, weil wir die Fehler aus der Geschichte nicht wiederholen wollen.
Aber es reicht nicht aus. Vielmehr müssen wir dem Populismus den Nährboden entziehen, in dem wir die Gerechtigkeitslücken schließen. Wir brauchen ein soziales Europa, das diesen Namen auch verdient.
Europa ist die einzige Chance, die gewaltigen Probleme, vor denen wir stehen, in den Griff zu bekommen. Wer glaubt, dass sich europäische Nationalstaaten in einer komplexen und riskanten Welt, in der das Machtzentrum im Pazifischen Raum liegt, so ohne weiteres Gehör verschaffen können, der irrt. Nicht einmal Deutschland ist dazu in der Lage.
Wir brauchen Europa. Ansonsten droht nicht nur ein Bedeutungsverlust des Kontinents von historischem Ausmaß, sondern damit einhergehend auch ein deutlich spürbarer Wohlstandsverlust. Letztlich würde dies auch den so mühsam gesicherten Frieden auf unserem Kontinent in Gefahr bringen.
Wir brauchen allerdings ein anderes Europa. Ein Europa das bereit ist, sich zu verändern. Nicht nur in sozialer Hinsicht! Europa muss vor allem demokratischer werden.
Jene weitsichtigen Menschen, die nach dem 2. Weltkrieg die deutsch-französische Freundschaft begründeten, hatten dabei sicherlich nicht die nervös–hektische Kabinettspolitik von Merkel und Sarkozy im Sinn. „Merkozy“ das ist nicht Europa, zumindest nicht jenes, das wir brauchen. Der deutsche Sonderweg, der die deutsch-französische Achse abgelöst hat, ist ein Irrweg.
Wir brauchen keine Einzelkämpfer, die auf Kosten der Kleinen und Schwachen ihre Ellbogen ausfahren. Wir brauchen mehr Gemeinschaftlichkeit. Wir müssen die gemeinsamen Institutionen, vor allem das Europäische Parlament, stärken.
Es gibt heute viel Europaskepsis, leider mittlerweile auch in Deutschland. Das ist die unerfreuliche Seite. Es gibt aber auch viele Menschen, gerade junge, die mehr denn je von Europa überzeugt sind. Wenn es uns gelingt – und dafür sehe ich gute Vorzeichen – das Gemeinschaftliche zu stärken, dann werden wir auch die großen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, lösen.
Jugoslawien zum zweiten Mal?
Gelingt uns dies nicht, dann droht uns ein Schicksal wie das Jugoslawiens. Eine an sich richtige Idee, die am Unvermögen seiner damaligen Staatsführung zu demokratischen Reform scheiterte. Die Parallelen zur gegenwärtigen EU sind vorhanden und sollten bei uns die Alarmglocken schrillen lassen.
Ich erinnere mich noch genau an Gespräche mit Menschen aus Jugoslawien, Ende der 1980-er Jahre, die vehement beklagten, dass sie den „Süden“ auf ihre Kosten „mitfüttern“ müssten. Der Süden, das waren immer die anderen. Für die Serben das Kosovo, für die Kroaten das Kosovo und Serbien, für die Slowenen ganz Restjugoslawien. Und dann gab es noch Bosnien, das sich Serbien und Kroatien am liebsten aufteilen wollten, hätte es da nicht die Muslime, die man auch Bosniaken nannte, gegeben.
Das Misstrauen war allgegenwärtig, und vor allem einer Staatsführung geschuldet, die nicht mehr in der Lage war, das Gemeinsame sichtbar zu machen und die Zentrifugalkräfte zu beherrschen.
Ich erinnere mich daran, wie schnell und leichtfertig man, gerade mit westlicher Unterstützung begann, dazu überzugehen, das Heil in der Zerschlagung Jugoslawiens zu suchen. Dieser Glaube war naiv und gefährlich. Die nationalen Gefühle, angefacht von den jeweiligen nationalen Regierungen, entfalteten sich überschwänglich, hielten vor nichts zurück und führten zum Bürgerkrieg, zu grausamen ethnischen Säuberungen und zum Völkermord.
Der Nationalismus hat das ehemalige Jugoslawien nachhaltig verändert und um Jahrzehnte zurückgeworfen. Eine ganze Generation wird nötig sein, um wieder Anschluss an die europäische Entwicklung zu finden. Der gewaltsame Tod von mehr als 100.000 Menschen, die Folgen der Gewaltexzesse, Massenvergewaltigungen, der Vertreibung und Flucht werden noch lange in den Seelen der Menschen ihre Ablagerungen hinterlassen.
Und das sei zumindest in den Raum gestellt: Regt sich nicht auch gegenwärtig wieder überall in Europa der Nationalismus und wird zum dominanten innenpolitischen Kalkül?
Exakt nach demselben Muster wie der Selbstzerstörungsprozess Jugoslawiens vor einer Generation?
Wieder sind es regionale Ungleichgewichte, die den Nationalismus entfachen. Man braucht nur den Menschen zuzuhören: Die faulen Griechen, die auf unsere Kosten leben, die Südeuropäer im Generellen. Wie zu Zeiten unserer Großeltern: Nur keinem Italiener trauen, schon gar nicht, wenn er der Chef der Europäischen Zentralbank ist. Vielleicht übertreibe ich, aber mitunter sollte man hellhörig sein.
An diese historischen Parallelen sollten denken, wenn wir uns der damaligen Opfer, der Frauen und Männer aus Srebrenica erinnern.
PS: Ich habe diese Zeilen im Jänner 2012 geschrieben. Sie dienten als Basis für eine Rede beim Politischen Aschermittwoch der Bayerischen Arbeiterwohlfahrt. Mehr als drei Jahre sind seither vergangen. Bosnien ist auf dem Weg, endgültig zu einem „failed state“ zu werden. Dem Erweiterungsprozess ist die Dynamik abhanden gekommen – besonders am Balkan. Die Europamüdigkeit hat nicht abgenommen, vielmehr breitet sich Unsicherheit aus, die immer häufiger in Wut und Zorn umschlägt. Vielleicht sind die Ereignisse in und um Griechenland nur das Vorspiel zu einer viel größeren Tragödie von gesamteuropäischen Ausmass. Ich wehre mich dagegen, diesen Gedanken zuzulassen. Aber ich fürchte mich davor, dass aus EU-rope in nicht allzu ferner Zukunft YU-rope werden könnte. Ein YU-rope Szenario, das wäre die Katastrophe des 21.Jahrhunderts, vergleichbar dem was der 1.Weltkrieg für das 20.Jahrhundert war. Wie müssen auf der Hut sein. Die Auflösung Jugoslawiens geschah ja auch nicht über Nacht und die Staatsmänner Europas schlafwandelten bekanntlich buchstäblich in den Ersten Weltkrieg.