Die Rede von Josef Weidenholzer beim Neujahrsempfang von ÖGB und DGB in Braunau, 12.Jänner 2013
Mit großer Freude habe ich die Einladung, diese Rede zu halten angenommen. Aus verschiedenen Gründen. Drei möchte ich kurz anführen: Ich fühle mich der Gewerkschaftsbewegung seit meiner Jugend verbunden. Gewerkschaften sind unentbehrlich für die Qualität einer Gesellschaft. Es geht weder ohne und schon gar nicht gegen sie. Wohin wir kommen, wenn wir nur mehr die individuelle Verantwortlichkeit gelten lassen, das können wir ja aktuell am sozialen Scherbenhaufen studieren, den die neoliberalen Reformer angerichtet haben.
Die gesamte Rede zum Download.
Einer Einladung meiner Freunde aus der Gewerkschaftsbewegung leiste ich daher immer, wenn irgendwie möglich, folge. Noch dazu, wenn der Ruf aus meiner Innviertler Heimat kommt. Ich bin in Schärding geboren und aufgewachsen. Damals war das Grenzland. „Dead end“ auf beiden Seiten mit vielen Nachteilen, vor allem auch wirtschaftlicher Natur. Die Löhne waren überdurchschnittlich niedrig und Arbeit war Mangelware. Viele mussten als Grenzgänger auspendeln. Heute haben sich die Dinge geändert, unspektakulär und wirkungsvoll. Die ehemalige Grenzregion wurde zu einer Region mit großen Zukunftschancen. Es lohnt sich also Grenzen zu überwinden. Leider sind wir oft nicht in der Lage solche Selbstverständlichkeiten als etwas Positives zu würdigen. Es gibt aber noch einen dritten Grund, was mit meiner derzeitigen Funktion als Mitglied des Europäischen Parlaments zusammenhängt. Als ich ein Kind war, da konnte niemand erahnen, dass die Grenze einst verschwinden würde. Vom Deutschen Reich hatten die Menschen die Schnauze voll und eine europäische Union war nicht richtig vorstellbar. Also wie zusammenkommen? Ich bin dankbar, dass ich diese Erfahrung des Verschwindens der Grenzen machen durfte. Sie ist für mich eine wichtige Triebfeder für die Arbeit in Brüssel. Ich finde, dass Abgeordnete zum Europäischen Parlament regelmäßig ehemalige Grenzregionen aufsuchen sollten. Grenzen hatten sich im letzten Jahrhundert wie tiefe Wunden in die Landschaften geschnitten, die Bewegungsfreiheit der Menschen eingeschränkt und sie oft engstirnig und ängstlich gemacht. Grenzen haben nicht die versprochene Sicherheit gebracht, sie haben uns verunsichert. Vor allem aber haben sie den Kontinent geschwächt. Viel Energie ging verloren, sich von dem jeweils anderen abzugrenzen. Europa hat nach dem 2.Weltkrieg mühsam gelernt, den Nationalismus zu zügeln, das Trennende zu überwinden und das Gemeinsame zu entwickeln. Europa ist für viele ein Modell, das man nachahmen will. Ich habe das gerade erst letzten Sommer am Höhepunkt der Eurokrise an der Tammassat Universität in Thailand erlebt, als man mich fragte, wieso wir Europäer eigentlich nicht stolz auf unsere Erfolge sind. Ja, und auch beim Friedensnobelpreis an die EU ist bei sehr vielen Menschen hierzulande keine Freude aufgekommen. Also.. Europa. Was heißt das schon? „Friedensprojekt“? … und wenn, ist das nicht schon lange her? Und überhaupt? Die verprassen doch nur unser Geld in Brüssel und nötigen uns, die Südländer, vornehmlich die faulen Griechen durchzufüttern. So oder so ähnlich tönt es allerorten. Europa ist nicht sexy. Europa das ist weit weg, kompliziert und uncool. Europa das ist die Wirtschafts-und Währungskrise, für viele nicht die Lösung, sondern das Problem. Ich sehe das nicht so. Und ich freue mich, an einem Ort, wo die Grenzen verschwunden sind, darstellen zu dürfen, warum das alles nicht so ist.
Fangen wir von hinten an: Die Krise. Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Definition. Eurokrise: stimmt so nicht, weil a) auch andere Währungen davon betroffen sind und b) der Euro auch nach zwei Jahren Krise noch nichts von seinem Wert verloren hat. Staatsschuldenkrise: das wollen uns die Konservativen gebetsmühlenartig einreden. Aber ist nicht der Anteil der Staatsschulden in den USA, in Japan oder in Großbritannien höher als der Durchschnittswert der Eurostaaten? Sozialstaatskrise: weil wir über unsere Verhältnisse gelebt hätten und die Jungen und Tüchtigen die Alten und Faulen durchfüttern müssten. Mitnichten. 2008, vor dem großen Krach bei Lehman Brothers, da waren die europäischen Staaten drauf und dran, ihre Defizite in den Griff zu kriegen. Bei einem höheren Sozialschutzniveau als heute, wohlgemerkt.
Die Defizite kamen mit den Bankenrettungspaketen. Um nicht die Fehler der 30-er Jahre zu wiederholen war man damals unisono der Meinung, die Banken nicht pleite gehen zu lassen. In einer einzigen Nacht beschloss beispielsweise der österreichische Nationalrat einen Haftungsrahmen von 100 Milliarden Euro. In den meisten Staaten kam es zu großzügigen Unterstützungen der Banken, ohne dass sich die Regierungen einen wirklichen Einfluss über den Sektor sicherten. Das sollte sich rächen. Riesen Summen wurden den Banken zur Verfügung gestellt. Diese verwendeten das billige Staatsgeld allerdings nicht für die zur Verhinderung einer Wirtschaftskrise erforderliche Kapitalisierung der Realwirtschaft. Spekulieren war viel lukrativer. Dazu kam auch ein massives US-amerikanisches Interesse, den Euro zu schwächen. Dafür gibt es Belege. Wie das berühmte Abendessen führender Banker und Investoren am 25.2 2010 New York bei dem vereinbart wurde, den Euro substantiell zu schwächen. Kann man alles nachlesen. Die Griechenlandkrise begann just zu diesem Zeitpunkt. Und es waren genau jene Investmentfonds, die noch ein Jahr zuvor den Griechen das Geld nachgeschmissen hatten, die jetzt plötzlich an der Zahlungsfähigkeit des Landes Zweifel hegten. Und auch damit ließ sich Geld verdienen, sehr viel Geld sogar. Man brauchte ja nur die Zinsen zu erhöhen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Natürlich waren die Dinge in Griechenland nicht in Ordnung. Aber das war schon lange bekannt und Griechenland stand keineswegs alleine da. Was man zunächst schön geredet hatte, das redete man nun schlecht. Je größer man das Risiko ausmalte, umso höher der Risikoaufschlag. Bezahlen sollten das jene Mitgliedsstaaten, deren wirtschaftliche Potenz besser entwickelt war. Was schon einmal bei der Krise 2008 gut gegangen war, sollte doch wieder funktionieren.
Freilich war es nicht mehr so einfach, dafür Zustimmung zu erlangen. Die verantwortlichen Politiker setzten auf Hinauszögern und Aussitzen. Eine solche Strategie ist in einer solchen Situation freilich fehl am Platz. Sie fordert die Zocker geradezu heraus, die Möglichkeiten auszutesten und den Einsatz zu erhöhen. Je länger man zögerte, desto größer wurde das Problem. Die Zinsbelastung für Griechenland stieg und damit auch die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs. Das wiederum brachte mehr und mehr Spieler – man muss die handelnden Akteure wohl so nennen – auf den Plan. Genau genommen hätte es zwei Möglichkeiten gegeben. Die „Dicke Bertha“ herauszuholen, wie das Draghi fast zweieinhalb Jahre später getan hat, und den Spekulanten durch den Einsatz von Riesensummen zu zeigen, dass sich ein solches Spiel nie und nimmer lohnt. Oder die Systemfrage zu stellen, und das Kind beim Namen zu nennen, also den Finanzkapitalismus als solchen in Frage zu stellen. Zu beidem waren die handelnden Personen, vor allem Sarkozy und Merkel nicht bereit oder in der Lage. Sie waren von der fast religiös anmutenden Vorstellung durchdrungen, dass die Märkte wie mit unsichtbarer Hand alles zum Besten regeln würden. Man müsse sie also bloß gewähren lassen.
Die Finanzmärkte wurden in dieser ersten Phase nicht als Instrumente, mit deren Hilfe Private ordentlich Geld verdienen können, gesehen, sondern als quasi unabhängige Schiedsrichter über die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Länder. „Die Märkte bestrafen Spanien“ oder Italien. So oder so ähnlich konnte man es in diesen Monaten hören. Offensichtlich gingen die politisch Verantwortlichen von der fixen Idee aus, dass das wirtschaftliche Wohlergehen eines Landes ausschließlich davon abhängt, ob die “Finanzmärkte“ bereit sind, im betreffenden Land zu investieren. Diese Bereitschaft – so die irrige Vorstellung – besteht immer nur dann, wenn sich die jeweiligen Regierungen glaubwürdig verpflichten, das Staatsbudget in kurzer Zeit auszugleichen. Koste es was es wolle. Knochen den Hunden zuwerfen, in der Hoffnung, dass sie nicht beißen, könnte man das auch nennen. Wider besseres Wissen verordnete man Sparpakete, von denen viele wussten, dass sie vollkommen unrealistisch und volkswirtschaftlich schädlich waren. Sogar der Chefvolkswirt des IWF kam dieser Tage nachträglich zur Erkenntnis, dass die von der Troika, bestehend aus EZB, EU-Kommission und IWF, den südeuropäischen Ländern aufoktroyierte Sparpolitik die Krise wesentlich verschärft habe. Die radikale Austeritätspolitik war also nicht unbedingt Resultat ökonomischer Analyse und beeindruckte daher die Spekulanten auch nicht. Die ließen sich erst dadurch stoppen, als Draghi letzten Sommer die „Dicke Bertha“ auspackte. Die Austeritätspolitik diente vielmehr der Beruhigung der Wählerschaft in den Ländern des Nordens. Deren Regierungen hatten sich darauf festgelegt, dass es sich bei der Krise um eine Staatschuldenkrise handelte. Es war daher nur logisch, diese als Gelegenheit zu sehen, die Haushaltsdisziplin generell zu stärken. Vor allem bot die Krise auch die Chance, den Sozialstaat als Verschwendungsmaschine zu denunzieren und Leistungen zurückzufahren. Wir hätten also über unseren Verhältnisse gelebt und die faulen Griechen, Spanier und Italiener noch viel mehr. Deshalb könne es Solidarität der wohlhabenderen Euroländer nur dann geben, wenn die Empfängerländer ordentlich Busse leisten.
Nur so ließen sich die Rettungspakete begründen. Niemand fragte, ob nicht die Ungleichgewichte auch deswegen zustande gekommen sein könnten, dass die Länder des Nordens, insbesondere Deutschland u n t e r ihren Verhältnissen gelebt haben, also zu niedrige Löhne bezahlt und zu viel gespart haben und auf diese Weise die Binnennachfrage abgeschwächt haben. Niemand stellte die Logik des Systems als solches in Frage, also die Rolle der völlig außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte. Diese drängten die Politik ins Abseits, machten sie hilflos und gefügig. Regierungen mussten abtreten und wurden durch Vertrauenspersonen der Banken ersetzt, ohne dass sie von wem gewählt worden waren, wie etwa Monti in Italien. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir haben einen Zustand erreicht, wo die Politik nur mehr ausführt, was die Finanzwirtschaft vorgibt, wo sie nicht mehr gestaltet, sondern den Dingen hinterherhinkt. Wie sagte doch Frank Stronach, Österreichs jüngster Populist, unlängst: „Wer das Gold hat, bestimmt die Regeln“. Apropos Stronach, interessant an ihm sind nicht seine Ansichten oder Konzepte, interessant ist, warum sich so viele Menschen vorstellen können, ihn zu wählen. Eigentlich ist deren Position recht konsequent. Sie haben aufgehört an den Politikbetrieb und seine Akteure zu glauben und erhoffen sich von jemandem der wirtschaftliche Erfolge aufzuweisen hat, auch, dass er im Staat etwas bewegen kann.
Wir leben in historisch bewegten Zeiten, in Zeiten gewaltiger Umbrüche. Wir erleben gegenwärtig eine fundamentale Krise des Kapitalismus, von der wir noch nicht wissen, was auf sie folgen wird.Knapp ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, zwanzig Jahre nachdem Francis Fukuyama das Ende der Geschichte verkündete und ein Goldenes Zeitalter des Liberalismus herandämmern sah, ist der Kapitalismus in seine tiefste Krise geschlittert. Noch ist es zu früh, sein Ende zu feiern, aber seine Unschuld, der in den 90-er Jahren auch so mancher Sozialdemokrat erlegen war, hat er verloren. Ich erlaube mir, in diesem Zusammenhang den Leiter des Innenpolitikressorts der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, zu zitieren: „Der Kapitalismus ist eine ähnlich frevlerische Wirtschaftsform, wie sie der Kommunismus war. Er frevelt heute auf Kosten von Menschen und Staaten……Der Kapitalismus kann so vieles; die märchenhafte Fähigkeit, Stroh zu Gold zu spinnen, gehört zu seinem Repertoire. Diese Kunst hat wechselnde Namen; zuletzt nannte man sie „Leerverkäufe“.“Schön gesagt, aber was hilft es uns, zu wissen, dass wir es mit einer schier übermächtigen Struktur zu tun haben. Viele Menschen sind heute verunsichert und besorgt, wie es weitergehen wird. Die wenigsten wissen, wie es weitergehen soll. Niemand will, dass es so weitergeht.
Immer wieder kann man hören, die Krise wäre schon vorbei. Das ist genauso falsch, wie die noch vor einem Jahr geäußerte Gewissheit, der Euro würde zusammenbrechen oder die Griechen würden aus der Eurozone fliegen. Gewissheiten gibt es zur Zeit nicht. Oder doch? Eines ist sicher. Die Finanzmärkte taugen nicht dazu, Motor und Impulsgeber der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein. Sie folgen der Logik des Glückspiels und sind ungerecht. Sie verwirren, weil man sich an dieser Logik nicht orientieren kann und sie verzerren das gesellschaftliche Gefüge. Was ist das doch für ein Irrsinn, wenn zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft unterschieden wird. Ich erinnere mich noch gut, als damals hieß, die Finanzkrise wäre in der Realwirtschaft angekommen. Ich hörte diesen Begriff damals (bewusst) zum ersten mal und ich war verstört. Ja muss denn nicht jede Wirtschaft real sein. Was heißt den das, wenn Wirtschaft nicht real ist. Und dann fiel mir ein, gelesen zu haben, dass die Gewinne von Siemens, des Flaggschiffs der deutschen Industrie, in manchen Jahren, im Bereich des Finanzmanagements höher waren, als in der Produktion. Dass ganze Staaten ihre einstmals auf dem Generationenvertrag aufgebaute Alterssicherung der Finanzwirtschaft überantwortet hatten. Mir fiel ein, dass die hochproduktive Österreich-Niederlassung der Firma Quelle mit über 1000 Mitarbeitern geschlossen wurde, bloß weil sich der Mitbewerber die Markenrechte gesichert hatte. Ist das eine gerechte Wirtschaftsordnung ? Wie kann es sein, dass Fleiß, Tüchtigkeit oder Betriebstreue, wie immer diese Tugenden, die man von uns abverlangt, auch heißen, nicht mehr gelten. Wie soll denn unter solchen Bedingungen Vertrauen, die Grundlage wirtschaftlichen Erfolges und politischer Stabilität entstehen?
Wir brauchen eine Rehabilitierung der Realwirtschaft. Das ist mehr als ein Trennbankensystem, das uns die Sicherheit gibt, dass Banken, denen wir unsere Spareinlagen anvertrauen sich spekulativ betätigen. Produktion muss sich wieder lohnen, auch in Europa. In der letzten Plenarsitzung des Europäischen Parlaments hatten wir eine sehr wichtige Debatte zur Reindustrialisierung Europas. Mehr Realwirtschaft heißt vor allem weniger Finanzwirtschaft. Das lässt sich nur durch eine rigorose Regulierung des Finanz-und Bankensektors herstellen. Verbot bestimmter spekulativer Praktiken, wie der Leerverkäufe, Verbot der Spekulation mit Nahrungsmitteln, Neuordnung der Ratingagenturen und, und.. Manches ist auf dem Weg, aber die Beschlüsse des Europäischen Parlaments werden von den nationalen Regierungen im Rat nicht umgesetzt. Was wir aber vor allem brauchen ist eine Rehabilitierung der Politik. Es ist zu wenig nur auf eine Wiederherstellung des Gleichgewichts von Politik und Ökonomie abzuzielen. Die Politik muss wieder Vorrang haben. Das ist freilich nicht einfach. Zu sehr hat sich die Politik in den letzten Jahren selbst beschädigt. Nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch in den Nationalstaaten und auf regionaler und lokaler Ebene. Österreich ist da ein gutes Beispiel.
Gerade das Management der Krise zeigt dieses Politikversagen. Aus Rücksichtnahme auf die Wahlen in NRW verzögerte die deutsche Bundeskanzlerin die dringend notwendigen und auch geplanten Rettungsmaßnahmen für Griechenland über Gebühr und vereitelte eine damals nach Meinung vieler Experten noch mögliche Isolierung des Problems auf Griechenland. Europa schlitterte in die existenzbedrohende Eurokrise der Jahre 2011 und 2012, weil partikulare Interessen Vorrang hatten. Ähnlich kurzsichtig gingen Sarkocy und Merkel zur Sache, als sie mit dem Fiskalpakt vergeblich versuchten, die Finanzmärkte zu beruhigen. Auf Teufel komm heraus sollten die Mitgliedsstaaten eine rigorose Sparpolitik umsetzen. Dieser Pakt wurde ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen. Im Prinzip war es ein Quasi- Diktat der zwei wichtigsten Mitgliedsstaaten, vorbeigespielt am Europäischen Parlament. Als man später erkannte, dass es ohne europäische Steuerung nicht ging, übertrug man einer Gruppe von vier Männern, die Aufgabe, Vorschläge für eine Reform der europäischen Institutionen zu entwickeln. Mit dabei der Präsident des Rates, der Kommission, der Eurozone und der Zentralbank, aber nicht der Präsident des Europäischen Parlaments. Entlarvend, kann man da nur sagen. Die Angst vor demokratischen Entscheidungsmechanismen ist groß und sie zerstört die Glaubwürdigkeit der Politik. Allzu viel Herumtaktieren führt dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger den Überblick verlieren. Europa ist fern und daher eine geeignete Fläche, von eigenen Problemen abzulenken. Wer aber das Ganze aus den Augen verliert, der schmälert die Handlungsmöglichkeiten. Europa ist nach wie vor ein Projekt der Eliten und der Technokraten. Das Parlament ist der einzige Ort, wo sich die Interessen der Bürger bündeln. Es leidet an einem wesentlichen Mangel: die Anliegen der Arbeitnehmer, die Interessen fortschrittlich eingestellter Bürgerinnen und Bürger sind unterrepräsentiert. Das macht es zwar nicht unmöglich, aber doch mitunter recht schwierig, Positionen durchzusetzen, die dem blinden Glauben in die Selbstheilkräfte des Marktes Einhalt gebieten. Wir brauchen andere Mehrheiten, um den dringend notwendigen Wandel herbeizuführen.
Es ist unakzeptabel, dass wir heute über eine Fiskalunion, eine Schuldenunion, eine Transferunion reden, aber nicht über eine Sozialunion. Das ist es, was die Menschen erwarten, Bedingungen vorzufinden, die ihnen ein Leben ermöglichen, wo sie mit Fairness und Gerechtigkeit rechnen können, wo sie nicht diskriminiert sind und sich frei entfalten können und wo sie in schwierigen Situationen mit der Solidarität der Gesellschaft rechnen können. Dafür brauchen wir Europa, dafür brauchen wir den Nationalstaat, die Region und die Gemeinde. Es wird heute immer wieder propagiert, wir bräuchten mehr Europa. Ich halte diese Fragestellung für falsch. Die Probleme sollen dort gelöst werden, wo sie anstehen. Wir brauchen vor allem eine bessere Politik, eine Politik, die die Sorgen der Menschen ernst nimmt, praktikable Lösungen anbietet und die vor allem die Menschen beteiligt. Europa ist eine wichtige Ebene, in vielen Fällen die wichtigste vielleicht. Weil es oft Probleme sind, die sich nur gemeinsam lösen lassen. Wir hatten diese Woche in Brüssel den Vorsitzenden der niederländischen Sozialdemokraten, Diederick Samsom zu Gast. Er beindruckte mich mit seiner Offenheit und Ehrlichkeit. Einen Satz habe ich mir notiert: „Wenn die Menschen erfahren, dass wir mehr Europa brauchen, weil wir die Banken in den Griff kriegen wollen, dann sind sie nicht mehr antieuropäisch.“
2013 wird ein entscheidendes Jahr für Europa. Wir können die Weichen dafür stellen, dass sich der Kurs der Geschichte ändert, dass mehr Gemeinsinn und mehr Verantwortungsgefühl einziehen und dass sich eine neue Sensibilität gegenüber denjenigen breit macht, die im Leben zu kurz kommen. Grenzen sind dabei hinderlich.