Ich lese gern die FAZ, weil sie gut recherchiert ist, und weil sie das bürgerliche Leitmedium Deutschlands darstellt. Will man wissen, wohin sich Europa bewegt, dann ist ihre regelmäßige Lektüre wichtig, wenn nicht unverzichtbar. Schon längere Zeit aber fällt mir ein europaskeptischer, immer häufiger auf deutsche Befindlichkeiten rekurrierender Tonfall auf. Dabei geht es nicht mehr, wie vor gut einem Jahrzehnt, darum, in selbstkritischer Manier zu diskutieren, was sich in Deutschland alles ändern sollte. Diesmal ist die Befindlichkeit nicht nach innen gerichtet. Es geht um die Außensicht, also was sich aus deutscher Sicht in Europa zu ändern hat und wie die europäischen Partner – oder klingt es nicht schon wie „die anderen“? – darauf reagieren.
Es wäre interessant, diese Veränderungen inhaltsanalytisch aufzuarbeiten. Heute möchte ich mich auf die Analyse der FAZ-Ausgabe vom Gründonnerstag, die mich über das verlängerte Osterwochenende begleitet hat, beschränken – in dessen Mittelpunkt die Aufarbeitung des Zypern-Debakels, ein ausführliches Interview mit dem zypriotischen Außenminister sowie Berichte über die Verärgerung der Regierungskoalition über Kritik an der deutschen Position. Alle seien „Gegen Deutschland“, so der Titel eines Kommentars von Klaus-Dieter Frankenberger in der Printausgabe am 29. März 2013. Deutschland würde Führungsverantwortung übernehmen und dafür mit „Nazi-Vergleichen“ abgestraft werden. Eigentlich sei ja ganz Europa froh, dass die Deutschen so tough vorgehen, die politisch Verantwortlichen anderer Länder würden sich allerdings gern hinter Deutschland verstecken. „Thatcher-Erfahrung“, nennt das der Kommentator. Ganz im Sinne des liberalen Credos würden sich eben die Besseren, die Tüchtigeren durchsetzen. Daher solle man nicht dauernd Ressentiments bemühen und die „Sündenböcke für die eigene Lage nicht in Berlin suchen.“ Das Resümee ist einfach: „Wenn Deutschlands Stärke ein Problem für die EU ist, dann hilft nur eines: Auch unsere Partner müssen stark werden. Ist das schon belehrend?“ Gerade dieser letzte Satz ist entlarvend, zeigt er doch das ganze Ausmaß an Selbstgerechtigkeit, von dem das deutsche Selbstverständnis geprägt ist.
Da passt gut dazu, wenn sich anschließend Reinhard Bingener über „Luther und die Deutschen (29.3.2013)“ verbreitert. Sich über Luther ein Bild zu machen, bedeute für die Deutschen auch, sich ein Bild von sich selbst zu machen. Auch in der Krise würde sich das bemerkbar machen. Die „Wertvorstellungen der Länder, die von der Reformation geprägt wurden“ seien „in offenen Gegensatz zur Alltagsmoral anderer Länder“ geraten. Der Rekurs auf die Reformation, als „die große Geschichtstat deutscher Innerlichkeit“ (Thomas Mann) erlaubt gleichsam eine ideologische und moralisch aufgeladene Sicht der deutschen Suprematieansprüche. Man würde, so Bingener, Deutschland und dem vom Protestantismus geprägten europäischen Norden genau jene auf Luther zurückgehenden Eigenschaften „ankreiden“ : „Was in den Krisenländern als „notwendige Flexibilität“ bezeichnet wird, heißt hierzulande Vertragsbruch. Was in Paris als „Wachstumsimpuls“ gilt, hält man in Berlin für Vergeudung.“ Erinnert das alles an die Slogans, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle, an die deutsche „Mannestreue“ und all diese unsäglichen und gefährlichen Narrative, die mit der Gründung der EU überwunden schienen?
Es handelt sich um eine Momentaufnahme. Als regelmäßiger Leser der FAZ komme ich allerdings immer mehr zur Überzeugung, dass sich in Deutschland eine Abkehr von Europa vorbereitet. In der Printausgabe wird auch das neue Verhältnis der (krankhaft europaskeptischen) Briten zu den Deutschen zelebriert: „Fast scheint es, als werde nun endlich alles gut. Im Oktober soll gemeinsam der Völkerschlacht bei Leipzig gedacht werden, die die Briten… an der Seite der Kontinentalmächte sah, die Napoleon erfolgreich zurückschlagen konnten….. Wächst da womöglich – nach einem Jahrhundert offener und versteckter Feindseligkeiten – zusammen, was zusammengehört?“ So viel Geschichte, zu viel Geschichte. Ich erinnere mich, dass es genauso am Balkan begonnen hat. Mit dem Beschwören lange zurück liegender Ereignisse und mit dem Zuschreiben von Attributen an einzelne Völker.
Aber: Was helfen solche moralisierenden Zuschreibungen, wenn es darum gehen soll, einen Ausweg aus der Finanzmarktkrise zu suchen? Der Nationalismus ist ein Konstrukt, das zunächst in den Köpfen entsteht, Befindlichkeiten überhöht und Realitäten schafft, denen man irgendwann nicht mehr entfliehen kann. Noch ist das möglich. Nicht um ein Europa nach deutschem Ebenmaß geht es, sondern um ein europäisches Deutschland, ein europäisches Frankreich oder (schön wär’s) ein europäisches Großbritannien. Da ist es geradezu ein Hoffnungszeichen, wenn einen Tag vor dem Gründonnerstag in eben dieser FAZ Ulrike Guérot und Robert Menasse in “Es lebe die europäische Republik!” ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Europäische Republik veröffentlichen und dazu auffordern, „mit aller Kreativität, zu der dieser Kontinent fähig ist“ zu diskutieren, „wie die nachnationale europäische Demokratie, am Ende konkret institutionell verfasst sein wird.“
Rede von Josef Weidenholzer im Rahmen der Konferenz “Bosnien-Herzegowina auf dem Weg zur EU – Herausforderungen und Perspektiven” des Zentrum der zeitgemäßen Initiativen Austria am 15 März 2013 im Wissensturm in Linz.
Ich freue mich sehr über diese Einladung und bin ihr mit großer Freude nachgekommen. Auch, wenn ich weiß, dass ich Sie möglicherweise enttäuschen muss. Aber unter Freunden sollte man aufrichtig sein. Weder kann ich die Frage eindeutig mit „Ja, das wird so sein“ beantworten, auf jeden Fall aber nicht, wie lange es gegebenenfalls dauern wird, dass das, was wir hier im Saal und was viele Menschen in unseren beiden Ländern wünschen, Realität wird: BiH als Mitglied der Europäischen Union, genauso wie Österreich, Slowenien, Italien und 24 andere auch.
Bosnien ist Europa. Ein ganz besonderes Stück Europa. Hier treffen sich Ost und West, hier hat der europäische Islam seine Heimat, seit vielen Jahrhunderten. Das friedliche Zusammenleben war über Jahrhunderte die Regel und zerstörende Konflikte stellten die Ausnahme dar. Im Vergleich zu vielen anderen Teilen Europas war es eine ruhige Zone. Spannungsgeladen zwar, aber fähig zum Ausgleich. Bis zu jenen Ereignissen in der ersten Hälfte der 1990-er Jahren, als es, mitten in Europa, mitten in der Euphorie über den friedlichen Zusammenbruch des Kommunismus, zur ersten großen Tragödie der Nachkriegszeit kam.
In Orten wie Sarajewo, Prijedor, Omarska und Srebrenica, um nur die bekanntesten Plätze menschlicher Erniedrigung zu nennen; die sich in diesen Jahren wie eine dunkle Wolke über die Region gelegt hatte und der man nur schwer entrinnen konnte. Ethnische Säuberungen, mehr als 100.000 Tote, systematischer Völkermord, eine brutale Belagerung von Städten, Vergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung und eine unvorstellbare Verrohung allerorten haben das Land weit zurückgeworfen. Bosnien hat am meisten unter dem nationalistischen Wahn, der von Milosevic mit seiner berühmten Amselfeldrede losgetreten worden war, gelitten. Die schrecklichen Ereignisse und die dadurch geschaffenen Fakten haben die Zukunftsfähigkeit der Region nachhaltig beeinträchtigt. Dayton lastet auf dem Land wie ein Mühlstein.
Niemand hat gesiegt und alle haben verloren. Und, das vielleicht einzig Tröstliche an dieser bosnischen Tragödie, es gibt keine Alternative zum Zusammenleben der verschiedenen Ethnien. Manche wollen es bloß nicht wahrhaben.
So war es auch in anderen Teilen des europäischen Kontinents. Der Nationalismus zerstörte zunächst die Gehirne der Menschen, wie bei einem Alkoholiker, dann entlud er sich in Krieg, Verfolgung und Vertreibung und schließlich fraß er die Seelen der Menschen auf. Die Geschichte Europas ist voll solcher Beispiele. Und sie schien sich kontinuierlich zu wiederholen. Wie ein Fluch. Irgendwann freilich kapierten es die Verantwortlichen. Zuerst im Westen des Kontinents, als sich unmittelbar nach dem 2.Weltkrieg, die ehemaligen Feinde entschlossen, Kohle und Stahl gemeinschaftlich zu regeln. Der europäische Integrationsprozess ist der bis dato gelungene Versuch, aus dieser verhängnisvollen Geschichte zu lernen. Wenn die Region, die man heute gerne als Westbalkan bezeichnet, eine Zukunft haben will, dann nur als Teil dieses Prozesses. Europa als politisches Programm bedeutet, das Vergangene zugunsten der Zukunft hinter sich zu lassen, das Gegeneinander zugunsten eines Miteinander zu überwinden und Vielfalt und Unterschiedlichkeit als positives Asset zu bewerten. Eine europäische Perspektive für den Westbalkan gab es schon einmal. Als die Jugoslawische Föderation drauf und dran war, sich aufzulösen, da versuchten europäische Kreise, allen voran der Präsident der Kommission Jacques Delors, dies zu verhindern. Ein reformiertes Jugoslawien sollte nicht nur großzügige Finanzhilfen erhalten, sondern auch die Perspektive eines raschen EU-Beitritts erhalten. Diese Perspektive griff nicht. Die Menschen waren schon vom Geist des Nationalismus benebelt und einzelne europäische Machtzentren, wie Deutschland, Frankreich oder England scherten sich auch damals wenig um die europäische Stimme.
Europa das war etwas für die Sonntagsreden. Mittlerweile – nicht zuletzt als Konsequenz aus dem Versagen Europas bei der Auflösung Jugoslawiens – ist die gemeinschaftliche Kompetenz der Union durch die Verträge von Maastricht und Lissabon gestärkt und man hätte wohl seitens Brüssels auch anders agiert. Doch auch eine aktivere Rolle der EU hätte wohl nichts bewirkt, es sei denn Jugoslawien wäre fähig zur demokratischen Erneuerung und zur offenen Bewältigung der nationalen und ethnischen Probleme gewesen, die man durch politischen Druck zugedeckt hatte. In Zeiten, wo wirtschaftliche Nöte die Menschen ängstlich machen und Neid und Missgunst wachsen, ist solches allerdings nur schwer einzufordern. Zwanzig Jahre später – nach einer grausamen Schocktherapie – stehen wir nach wie vor in einer ähnlichen Situation. Nach wie vor blockiert nationalistische Rechthaberei jede vernünftige Vorwärtsentwicklung, ist der demokratische Prozess beschränkt auf institutionelle Gegebenheiten, die den realen Bedürfnissen der Menschen meist nicht gerecht werden und vor allem funktioniert die Wirtschaft nicht. Nicht zuletzt deswegen, weil die Menschen keine wirklichen Zukunftsperspektiven sehen. Wer investiert schon in eine Struktur, die sich wechselseitig lähmt.
Ja, und auch Europa ist nicht bereit, tatkräftig einzugreifen, schiebt das Ganze missmutig vor sich her. Obwohl jedermann weiß, dass die Stabilität Europas von der Stabilität des Balkans abhängt. Schon lange geht es nicht mehr darum, ob die restlichen Staaten der jugoslawischen Föderation Mitglied der EU werden sollen, sondern darum, wann. Die Fortschrittsberichte der EU Bosnien und Herzegowina betreffend, lesen sich wie eine Aufzählung der Hindernisse und Schwierigkeiten. Die Sprache ist für EU-Institutionen, die gewohnt sind Probleme klein- und schön zu reden, alles andere als diplomatisch. Als Beleg dafür dient mir der Fortschrittsbericht 2011 über Bosnien und Herzegowina, den das Europäische Parlament im März 2012 beschlossen hat. Mehrfach wird das „Engagement der politischen Führer des Landes“ von denen man sich „loyale Zusammenarbeit“ erwartet, eingefordert. Das Land wird daran erinnert, dass es die Korruption zu bekämpfen gilt und „Menschenhandel ein schwerwiegendes Verbrechen“ darstellt.
Nachdrücklich fordert die Resolution, zentralstaatliche Elemente zu stärken und das Land als „staatliche Einheit“ zu begreifen. Ausdrücklich wird „die aufstachelnde Sprache und Maßnahmen, die den Aussöhnungsprozess zwischen den Volksgruppen und die Funktionsweise der staatlichen Strukturen untergraben“, missbilligt. Auch die Auswirkungen wegen der durch die weitverbreitete Korruption schlechten ökonomischen Lage werden beschrieben, da vor allem die „fehlende(n) Aussichten auf Beschäftigung, besonders bei jungen Menschen, hinderlich für Fortschritte des Landes sind, was wiederum zu sozialer Unzufriedenheit beiträgt.“ Doch außer berechtigten Mahnungen und einer klaren Sicht der Probleme hält die EU wenig bereit. Die Perspektiven sind vage und stellen nicht viel mehr als eine freundliche Vertröstung dar. So wird es wahrscheinlich weitergehen, Jahr für Jahr, wenn über den Fortschrittsbericht diskutiert wird. Irgendwie haben wir uns ja daran gewöhnt. Ich glaube freilich, dass das eine verfehlte Sicht der Dinge ist. Auch wenn etwas unvermeidlich erscheint, muss man es deswegen nicht als unabwendbar hinnehmen. Die Bosnienfrage braucht einen neuen Anlauf. Wir sollten uns einmal überlegen, welche positiven Effekte eine Überwindung des Stillstandes für Bosnien, für die Region und für Europa bringen könnte. Wir sollten es wagen, anstatt lethargisch auf der Stelle zu treten, aus dem Käfig der selbstverordneten Erklärungsmuster auszubrechen.
Mit „wir“, da meine ich alle, die Menschen in der Region, Serben, Bosniaken, Kroaten, also alle, die BKS sprechen, genauso wie die Nachbarn und die Menschen in der Europäischen Union. Was wir brauchen, sind mutige Menschen. Menschen, die den Mut zur Erinnerung, den Mut zur Zusammenarbeit und den Mut zur Öffnung haben. Ohne den Mut, die Verbrechen der Vergangenheit zu benennen, ohne über Schuld zu reden lässt sich keine Zukunft aufbauen. Auf lange Sicht schaden alle Versuche, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu verharmlosen. Nur wer seine Fehler kennt und einbekennt, vor allem willens ist, diese nicht ein weiteres Mal zu begehen, ist zukunftsfähig. Das war die große Stärke der Deutschen nach den fürchterlichen Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Fähigkeit, Schuld einzubekennen und die Vergangenheit bewältigen zu wollen war Voraussetzung für den wirtschaftlichen und politischen Erfolg Deutschlands. Ohne dieses selbstkritische Vermögen hätte es keine Annäherung Deutschlands und Frankreichs gegeben. Das heißt in unserem Zusammenhang nichts anderes als: Wer nicht über Srebrenica reden will, der schneidet sich seine eigene Zukunft ab.
Zusammenarbeit beruht auf Vertrauen. Vertrauen kann man nicht dekretieren, man erwirbt es. Am ehestens dort, wo die Menschen einen beiderseitigen Nutzen haben. Der Markt als gesellschaftliche Institution funktioniert auf dieser Basis. Es war eine weise Entscheidung der Gründungsväter der EU, die Menschen bei ihrem Interesse, den eigenen Nutzen zu optimieren, anzusprechen. Dies war der Grund dafür, wieso man damals daran ging, alle Handelshindernisse zu beseitigen. Will die Region weiterkommen, dann geht es darum, solche Hindernisse zu beseitigen. Vor allem die weit verbreitete Korruption muss mit Entschiedenheit bekämpft werden. Sie ist es, die die freie Entfaltung der Individuen behindert. Ein drittes und letztes, der Mut zur Offenheit.
Große Lösungen sind nur dann möglich, wenn man in der Lage ist, den Blick über den Tellerrand zu schaffen. Sich nur auf die eigene Region zu konzentrieren, das führt zum berühmten Tunnelblick. Der verengt die Realität, vor allem das Denken über die Möglichkeit ihrer Veränderung. Vielleicht gibt es eine positive Folgewirkung der furchtbaren Kriegsjahre. In den meisten Staaten Europas leben heute Menschen aus Bosnien und viele von ihnen haben zum Teil oft wichtige Positionen inne. Die Diaspora ist eine wichtige Ressource, wenn es um einen Neuanfang gehen soll. Sie kann nicht nur zu einem besseren Verständnis der bosnischen Realität in der EU beitragen, sondern sollte auch von Bosnien genutzt werden. Auch die Gastländer profitieren davon. Für die Zukunft Europas ist es wichtig, dass wir uns das bewusst machen. In diesem Sinne freue ich mich über die heutige Veranstaltung und hoffe, dass sie dazu beiträgt, die Zukunft des westlichen Balkans als ein gemeinsames Anliegen zu begreifen.
Die Rede als PDF zum Download.
Rede am Marienthal Symposium 2013: Ich freue mich sehr über diese Gelegenheit, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich bin zum ersten Mal hier. Schon lange wollte ich das. Seit den Tagen meines Soziologiestudiums sind mir die Arbeitslosen von Marienthal ein Begriff. Schon damals galt die Studie als Klassiker der Sozialforschung.
Obwohl jedem Studierenden geläufig, war sie trotzdem ein Fremdkörper in den damals von kühnen Theoretisierungs- und Politisierungssehnsüchten beherrschten Sozialwissenschaften. Irgendwie war der Gegenstand dieser Forschung auf eigentümliche Weise entrückt, historisch und in der Realität der damaligen Gegenwart. Arbeitslosigkeit, das war ein Phänomen, das man nur mehr von den Schilderungen der Elterngeneration kannte. Die Studie zu lesen bedeutete, sich in eine verschwundene Welt zu versetzen. Es schien nichts anders zu geben als Vollbeschäftigung.
Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere heftige Reaktion im VSStÖ, als zu Beginn der 70-er Jahre ein Wirtschaftspublizist in der Zukunft – im Einklang mit Keynes übrigens- feststellte, von echter Arbeitslosigkeit könne man erst ab einem Niveau von 3% reden. Heute würden wir alle davon träumen. Die 70-er Jahre schienen all das zu widerlegen – was eine Generation zuvor – Europa an den Abgrund geführt hatte Einsicht und Rücksicht hatten sich offensichtlich über Verbohrtheit und Rücksichtslosigkeit hinweggesetzt, der Wohlfahrtstaat offerierte Sicherheit, indem er Fleiß und Tüchtigkeit honorierte. Und die auf sich selbst zentrierten Nationalstaaten begannen sich plötzlich für die eigenen Fehler zu interessieren, Gräben zuzuschütten und Grenzen zu überwinden. Dem Fortschritt schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Optimismus wohin man blickte.
Sich damals mit den Arbeitslosen von Marienthal zu beschäftigen hieß, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Wenn man sich heute – fast ein halbes Jahrhundert später damit auseinandersetzt, dann landet man plötzlich in der Gegenwart. Über Arbeitslosenraten von 3% wären wir heute froh. Sogar in Österreich, dem Mitgliedsstaat der Europäischen Union mit der niedrigsten Arbeitslosenrate liegen wir mit 4,3% über dieser Marke – nach der vor dem Beitritt üblichen Methode mit 9,1% sogar deutlich höher. In der Eurozone sind zur Zeit 20 Millionen Menschen ohne Beschäftigung. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl Österreichs, Ungarns und Sloweniens zusammen. Im Durchschnitt sind 12% der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Beschäftigung, also jede/jeder Achte. Das ist nicht mehr wenig. In den Krisenstaaten Griechenland und Spanien ist gar jeder Fünfte betroffen. Bei den Jugendlichen beträgt die Arbeitslosenquote skandalöse 50 Prozent.
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„Arbeitslosigkeit – Die Europäische Krankheit“ – Referat von Josef Weidenholzer, gehalten am Marienthal Symposium 2013 am 16. Februar 2013 in Gramatneusiedl, NÖ.
Am Wochenende war ich in einem Handygeschäft. Weiterlesen
Die Rede von Josef Weidenholzer beim Neujahrsempfang von ÖGB und DGB in Braunau, 12.Jänner 2013
Mit großer Freude habe ich die Einladung, diese Rede zu halten angenommen. Aus verschiedenen Gründen. Drei möchte ich kurz anführen: Ich fühle mich der Gewerkschaftsbewegung seit meiner Jugend verbunden. Gewerkschaften sind unentbehrlich für die Qualität einer Gesellschaft. Es geht weder ohne und schon gar nicht gegen sie. Wohin wir kommen, wenn wir nur mehr die individuelle Verantwortlichkeit gelten lassen, das können wir ja aktuell am sozialen Scherbenhaufen studieren, den die neoliberalen Reformer angerichtet haben.
Die gesamte Rede zum Download.
Einer Einladung meiner Freunde aus der Gewerkschaftsbewegung leiste ich daher immer, wenn irgendwie möglich, folge. Noch dazu, wenn der Ruf aus meiner Innviertler Heimat kommt. Ich bin in Schärding geboren und aufgewachsen. Damals war das Grenzland. „Dead end“ auf beiden Seiten mit vielen Nachteilen, vor allem auch wirtschaftlicher Natur. Die Löhne waren überdurchschnittlich niedrig und Arbeit war Mangelware. Viele mussten als Grenzgänger auspendeln. Heute haben sich die Dinge geändert, unspektakulär und wirkungsvoll. Die ehemalige Grenzregion wurde zu einer Region mit großen Zukunftschancen. Es lohnt sich also Grenzen zu überwinden. Leider sind wir oft nicht in der Lage solche Selbstverständlichkeiten als etwas Positives zu würdigen. Es gibt aber noch einen dritten Grund, was mit meiner derzeitigen Funktion als Mitglied des Europäischen Parlaments zusammenhängt. Als ich ein Kind war, da konnte niemand erahnen, dass die Grenze einst verschwinden würde. Vom Deutschen Reich hatten die Menschen die Schnauze voll und eine europäische Union war nicht richtig vorstellbar. Also wie zusammenkommen? Ich bin dankbar, dass ich diese Erfahrung des Verschwindens der Grenzen machen durfte. Sie ist für mich eine wichtige Triebfeder für die Arbeit in Brüssel. Ich finde, dass Abgeordnete zum Europäischen Parlament regelmäßig ehemalige Grenzregionen aufsuchen sollten. Grenzen hatten sich im letzten Jahrhundert wie tiefe Wunden in die Landschaften geschnitten, die Bewegungsfreiheit der Menschen eingeschränkt und sie oft engstirnig und ängstlich gemacht. Grenzen haben nicht die versprochene Sicherheit gebracht, sie haben uns verunsichert. Vor allem aber haben sie den Kontinent geschwächt. Viel Energie ging verloren, sich von dem jeweils anderen abzugrenzen. Europa hat nach dem 2.Weltkrieg mühsam gelernt, den Nationalismus zu zügeln, das Trennende zu überwinden und das Gemeinsame zu entwickeln. Europa ist für viele ein Modell, das man nachahmen will. Ich habe das gerade erst letzten Sommer am Höhepunkt der Eurokrise an der Tammassat Universität in Thailand erlebt, als man mich fragte, wieso wir Europäer eigentlich nicht stolz auf unsere Erfolge sind. Ja, und auch beim Friedensnobelpreis an die EU ist bei sehr vielen Menschen hierzulande keine Freude aufgekommen. Also.. Europa. Was heißt das schon? „Friedensprojekt“? … und wenn, ist das nicht schon lange her? Und überhaupt? Die verprassen doch nur unser Geld in Brüssel und nötigen uns, die Südländer, vornehmlich die faulen Griechen durchzufüttern. So oder so ähnlich tönt es allerorten. Europa ist nicht sexy. Europa das ist weit weg, kompliziert und uncool. Europa das ist die Wirtschafts-und Währungskrise, für viele nicht die Lösung, sondern das Problem. Ich sehe das nicht so. Und ich freue mich, an einem Ort, wo die Grenzen verschwunden sind, darstellen zu dürfen, warum das alles nicht so ist.
Fangen wir von hinten an: Die Krise. Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Definition. Eurokrise: stimmt so nicht, weil a) auch andere Währungen davon betroffen sind und b) der Euro auch nach zwei Jahren Krise noch nichts von seinem Wert verloren hat. Staatsschuldenkrise: das wollen uns die Konservativen gebetsmühlenartig einreden. Aber ist nicht der Anteil der Staatsschulden in den USA, in Japan oder in Großbritannien höher als der Durchschnittswert der Eurostaaten? Sozialstaatskrise: weil wir über unsere Verhältnisse gelebt hätten und die Jungen und Tüchtigen die Alten und Faulen durchfüttern müssten. Mitnichten. 2008, vor dem großen Krach bei Lehman Brothers, da waren die europäischen Staaten drauf und dran, ihre Defizite in den Griff zu kriegen. Bei einem höheren Sozialschutzniveau als heute, wohlgemerkt.
Die Defizite kamen mit den Bankenrettungspaketen. Um nicht die Fehler der 30-er Jahre zu wiederholen war man damals unisono der Meinung, die Banken nicht pleite gehen zu lassen. In einer einzigen Nacht beschloss beispielsweise der österreichische Nationalrat einen Haftungsrahmen von 100 Milliarden Euro. In den meisten Staaten kam es zu großzügigen Unterstützungen der Banken, ohne dass sich die Regierungen einen wirklichen Einfluss über den Sektor sicherten. Das sollte sich rächen. Riesen Summen wurden den Banken zur Verfügung gestellt. Diese verwendeten das billige Staatsgeld allerdings nicht für die zur Verhinderung einer Wirtschaftskrise erforderliche Kapitalisierung der Realwirtschaft. Spekulieren war viel lukrativer. Dazu kam auch ein massives US-amerikanisches Interesse, den Euro zu schwächen. Dafür gibt es Belege. Wie das berühmte Abendessen führender Banker und Investoren am 25.2 2010 New York bei dem vereinbart wurde, den Euro substantiell zu schwächen. Kann man alles nachlesen. Die Griechenlandkrise begann just zu diesem Zeitpunkt. Und es waren genau jene Investmentfonds, die noch ein Jahr zuvor den Griechen das Geld nachgeschmissen hatten, die jetzt plötzlich an der Zahlungsfähigkeit des Landes Zweifel hegten. Und auch damit ließ sich Geld verdienen, sehr viel Geld sogar. Man brauchte ja nur die Zinsen zu erhöhen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Natürlich waren die Dinge in Griechenland nicht in Ordnung. Aber das war schon lange bekannt und Griechenland stand keineswegs alleine da. Was man zunächst schön geredet hatte, das redete man nun schlecht. Je größer man das Risiko ausmalte, umso höher der Risikoaufschlag. Bezahlen sollten das jene Mitgliedsstaaten, deren wirtschaftliche Potenz besser entwickelt war. Was schon einmal bei der Krise 2008 gut gegangen war, sollte doch wieder funktionieren.
Freilich war es nicht mehr so einfach, dafür Zustimmung zu erlangen. Die verantwortlichen Politiker setzten auf Hinauszögern und Aussitzen. Eine solche Strategie ist in einer solchen Situation freilich fehl am Platz. Sie fordert die Zocker geradezu heraus, die Möglichkeiten auszutesten und den Einsatz zu erhöhen. Je länger man zögerte, desto größer wurde das Problem. Die Zinsbelastung für Griechenland stieg und damit auch die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs. Das wiederum brachte mehr und mehr Spieler – man muss die handelnden Akteure wohl so nennen – auf den Plan. Genau genommen hätte es zwei Möglichkeiten gegeben. Die „Dicke Bertha“ herauszuholen, wie das Draghi fast zweieinhalb Jahre später getan hat, und den Spekulanten durch den Einsatz von Riesensummen zu zeigen, dass sich ein solches Spiel nie und nimmer lohnt. Oder die Systemfrage zu stellen, und das Kind beim Namen zu nennen, also den Finanzkapitalismus als solchen in Frage zu stellen. Zu beidem waren die handelnden Personen, vor allem Sarkozy und Merkel nicht bereit oder in der Lage. Sie waren von der fast religiös anmutenden Vorstellung durchdrungen, dass die Märkte wie mit unsichtbarer Hand alles zum Besten regeln würden. Man müsse sie also bloß gewähren lassen.
Die Finanzmärkte wurden in dieser ersten Phase nicht als Instrumente, mit deren Hilfe Private ordentlich Geld verdienen können, gesehen, sondern als quasi unabhängige Schiedsrichter über die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Länder. „Die Märkte bestrafen Spanien“ oder Italien. So oder so ähnlich konnte man es in diesen Monaten hören. Offensichtlich gingen die politisch Verantwortlichen von der fixen Idee aus, dass das wirtschaftliche Wohlergehen eines Landes ausschließlich davon abhängt, ob die “Finanzmärkte“ bereit sind, im betreffenden Land zu investieren. Diese Bereitschaft – so die irrige Vorstellung – besteht immer nur dann, wenn sich die jeweiligen Regierungen glaubwürdig verpflichten, das Staatsbudget in kurzer Zeit auszugleichen. Koste es was es wolle. Knochen den Hunden zuwerfen, in der Hoffnung, dass sie nicht beißen, könnte man das auch nennen. Wider besseres Wissen verordnete man Sparpakete, von denen viele wussten, dass sie vollkommen unrealistisch und volkswirtschaftlich schädlich waren. Sogar der Chefvolkswirt des IWF kam dieser Tage nachträglich zur Erkenntnis, dass die von der Troika, bestehend aus EZB, EU-Kommission und IWF, den südeuropäischen Ländern aufoktroyierte Sparpolitik die Krise wesentlich verschärft habe. Die radikale Austeritätspolitik war also nicht unbedingt Resultat ökonomischer Analyse und beeindruckte daher die Spekulanten auch nicht. Die ließen sich erst dadurch stoppen, als Draghi letzten Sommer die „Dicke Bertha“ auspackte. Die Austeritätspolitik diente vielmehr der Beruhigung der Wählerschaft in den Ländern des Nordens. Deren Regierungen hatten sich darauf festgelegt, dass es sich bei der Krise um eine Staatschuldenkrise handelte. Es war daher nur logisch, diese als Gelegenheit zu sehen, die Haushaltsdisziplin generell zu stärken. Vor allem bot die Krise auch die Chance, den Sozialstaat als Verschwendungsmaschine zu denunzieren und Leistungen zurückzufahren. Wir hätten also über unseren Verhältnisse gelebt und die faulen Griechen, Spanier und Italiener noch viel mehr. Deshalb könne es Solidarität der wohlhabenderen Euroländer nur dann geben, wenn die Empfängerländer ordentlich Busse leisten.
Nur so ließen sich die Rettungspakete begründen. Niemand fragte, ob nicht die Ungleichgewichte auch deswegen zustande gekommen sein könnten, dass die Länder des Nordens, insbesondere Deutschland u n t e r ihren Verhältnissen gelebt haben, also zu niedrige Löhne bezahlt und zu viel gespart haben und auf diese Weise die Binnennachfrage abgeschwächt haben. Niemand stellte die Logik des Systems als solches in Frage, also die Rolle der völlig außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte. Diese drängten die Politik ins Abseits, machten sie hilflos und gefügig. Regierungen mussten abtreten und wurden durch Vertrauenspersonen der Banken ersetzt, ohne dass sie von wem gewählt worden waren, wie etwa Monti in Italien. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir haben einen Zustand erreicht, wo die Politik nur mehr ausführt, was die Finanzwirtschaft vorgibt, wo sie nicht mehr gestaltet, sondern den Dingen hinterherhinkt. Wie sagte doch Frank Stronach, Österreichs jüngster Populist, unlängst: „Wer das Gold hat, bestimmt die Regeln“. Apropos Stronach, interessant an ihm sind nicht seine Ansichten oder Konzepte, interessant ist, warum sich so viele Menschen vorstellen können, ihn zu wählen. Eigentlich ist deren Position recht konsequent. Sie haben aufgehört an den Politikbetrieb und seine Akteure zu glauben und erhoffen sich von jemandem der wirtschaftliche Erfolge aufzuweisen hat, auch, dass er im Staat etwas bewegen kann.
Wir leben in historisch bewegten Zeiten, in Zeiten gewaltiger Umbrüche. Wir erleben gegenwärtig eine fundamentale Krise des Kapitalismus, von der wir noch nicht wissen, was auf sie folgen wird.Knapp ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, zwanzig Jahre nachdem Francis Fukuyama das Ende der Geschichte verkündete und ein Goldenes Zeitalter des Liberalismus herandämmern sah, ist der Kapitalismus in seine tiefste Krise geschlittert. Noch ist es zu früh, sein Ende zu feiern, aber seine Unschuld, der in den 90-er Jahren auch so mancher Sozialdemokrat erlegen war, hat er verloren. Ich erlaube mir, in diesem Zusammenhang den Leiter des Innenpolitikressorts der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, zu zitieren: „Der Kapitalismus ist eine ähnlich frevlerische Wirtschaftsform, wie sie der Kommunismus war. Er frevelt heute auf Kosten von Menschen und Staaten……Der Kapitalismus kann so vieles; die märchenhafte Fähigkeit, Stroh zu Gold zu spinnen, gehört zu seinem Repertoire. Diese Kunst hat wechselnde Namen; zuletzt nannte man sie „Leerverkäufe“.“Schön gesagt, aber was hilft es uns, zu wissen, dass wir es mit einer schier übermächtigen Struktur zu tun haben. Viele Menschen sind heute verunsichert und besorgt, wie es weitergehen wird. Die wenigsten wissen, wie es weitergehen soll. Niemand will, dass es so weitergeht.
Immer wieder kann man hören, die Krise wäre schon vorbei. Das ist genauso falsch, wie die noch vor einem Jahr geäußerte Gewissheit, der Euro würde zusammenbrechen oder die Griechen würden aus der Eurozone fliegen. Gewissheiten gibt es zur Zeit nicht. Oder doch? Eines ist sicher. Die Finanzmärkte taugen nicht dazu, Motor und Impulsgeber der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein. Sie folgen der Logik des Glückspiels und sind ungerecht. Sie verwirren, weil man sich an dieser Logik nicht orientieren kann und sie verzerren das gesellschaftliche Gefüge. Was ist das doch für ein Irrsinn, wenn zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft unterschieden wird. Ich erinnere mich noch gut, als damals hieß, die Finanzkrise wäre in der Realwirtschaft angekommen. Ich hörte diesen Begriff damals (bewusst) zum ersten mal und ich war verstört. Ja muss denn nicht jede Wirtschaft real sein. Was heißt den das, wenn Wirtschaft nicht real ist. Und dann fiel mir ein, gelesen zu haben, dass die Gewinne von Siemens, des Flaggschiffs der deutschen Industrie, in manchen Jahren, im Bereich des Finanzmanagements höher waren, als in der Produktion. Dass ganze Staaten ihre einstmals auf dem Generationenvertrag aufgebaute Alterssicherung der Finanzwirtschaft überantwortet hatten. Mir fiel ein, dass die hochproduktive Österreich-Niederlassung der Firma Quelle mit über 1000 Mitarbeitern geschlossen wurde, bloß weil sich der Mitbewerber die Markenrechte gesichert hatte. Ist das eine gerechte Wirtschaftsordnung ? Wie kann es sein, dass Fleiß, Tüchtigkeit oder Betriebstreue, wie immer diese Tugenden, die man von uns abverlangt, auch heißen, nicht mehr gelten. Wie soll denn unter solchen Bedingungen Vertrauen, die Grundlage wirtschaftlichen Erfolges und politischer Stabilität entstehen?
Wir brauchen eine Rehabilitierung der Realwirtschaft. Das ist mehr als ein Trennbankensystem, das uns die Sicherheit gibt, dass Banken, denen wir unsere Spareinlagen anvertrauen sich spekulativ betätigen. Produktion muss sich wieder lohnen, auch in Europa. In der letzten Plenarsitzung des Europäischen Parlaments hatten wir eine sehr wichtige Debatte zur Reindustrialisierung Europas. Mehr Realwirtschaft heißt vor allem weniger Finanzwirtschaft. Das lässt sich nur durch eine rigorose Regulierung des Finanz-und Bankensektors herstellen. Verbot bestimmter spekulativer Praktiken, wie der Leerverkäufe, Verbot der Spekulation mit Nahrungsmitteln, Neuordnung der Ratingagenturen und, und.. Manches ist auf dem Weg, aber die Beschlüsse des Europäischen Parlaments werden von den nationalen Regierungen im Rat nicht umgesetzt. Was wir aber vor allem brauchen ist eine Rehabilitierung der Politik. Es ist zu wenig nur auf eine Wiederherstellung des Gleichgewichts von Politik und Ökonomie abzuzielen. Die Politik muss wieder Vorrang haben. Das ist freilich nicht einfach. Zu sehr hat sich die Politik in den letzten Jahren selbst beschädigt. Nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch in den Nationalstaaten und auf regionaler und lokaler Ebene. Österreich ist da ein gutes Beispiel.
Gerade das Management der Krise zeigt dieses Politikversagen. Aus Rücksichtnahme auf die Wahlen in NRW verzögerte die deutsche Bundeskanzlerin die dringend notwendigen und auch geplanten Rettungsmaßnahmen für Griechenland über Gebühr und vereitelte eine damals nach Meinung vieler Experten noch mögliche Isolierung des Problems auf Griechenland. Europa schlitterte in die existenzbedrohende Eurokrise der Jahre 2011 und 2012, weil partikulare Interessen Vorrang hatten. Ähnlich kurzsichtig gingen Sarkocy und Merkel zur Sache, als sie mit dem Fiskalpakt vergeblich versuchten, die Finanzmärkte zu beruhigen. Auf Teufel komm heraus sollten die Mitgliedsstaaten eine rigorose Sparpolitik umsetzen. Dieser Pakt wurde ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen. Im Prinzip war es ein Quasi- Diktat der zwei wichtigsten Mitgliedsstaaten, vorbeigespielt am Europäischen Parlament. Als man später erkannte, dass es ohne europäische Steuerung nicht ging, übertrug man einer Gruppe von vier Männern, die Aufgabe, Vorschläge für eine Reform der europäischen Institutionen zu entwickeln. Mit dabei der Präsident des Rates, der Kommission, der Eurozone und der Zentralbank, aber nicht der Präsident des Europäischen Parlaments. Entlarvend, kann man da nur sagen. Die Angst vor demokratischen Entscheidungsmechanismen ist groß und sie zerstört die Glaubwürdigkeit der Politik. Allzu viel Herumtaktieren führt dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger den Überblick verlieren. Europa ist fern und daher eine geeignete Fläche, von eigenen Problemen abzulenken. Wer aber das Ganze aus den Augen verliert, der schmälert die Handlungsmöglichkeiten. Europa ist nach wie vor ein Projekt der Eliten und der Technokraten. Das Parlament ist der einzige Ort, wo sich die Interessen der Bürger bündeln. Es leidet an einem wesentlichen Mangel: die Anliegen der Arbeitnehmer, die Interessen fortschrittlich eingestellter Bürgerinnen und Bürger sind unterrepräsentiert. Das macht es zwar nicht unmöglich, aber doch mitunter recht schwierig, Positionen durchzusetzen, die dem blinden Glauben in die Selbstheilkräfte des Marktes Einhalt gebieten. Wir brauchen andere Mehrheiten, um den dringend notwendigen Wandel herbeizuführen.
Es ist unakzeptabel, dass wir heute über eine Fiskalunion, eine Schuldenunion, eine Transferunion reden, aber nicht über eine Sozialunion. Das ist es, was die Menschen erwarten, Bedingungen vorzufinden, die ihnen ein Leben ermöglichen, wo sie mit Fairness und Gerechtigkeit rechnen können, wo sie nicht diskriminiert sind und sich frei entfalten können und wo sie in schwierigen Situationen mit der Solidarität der Gesellschaft rechnen können. Dafür brauchen wir Europa, dafür brauchen wir den Nationalstaat, die Region und die Gemeinde. Es wird heute immer wieder propagiert, wir bräuchten mehr Europa. Ich halte diese Fragestellung für falsch. Die Probleme sollen dort gelöst werden, wo sie anstehen. Wir brauchen vor allem eine bessere Politik, eine Politik, die die Sorgen der Menschen ernst nimmt, praktikable Lösungen anbietet und die vor allem die Menschen beteiligt. Europa ist eine wichtige Ebene, in vielen Fällen die wichtigste vielleicht. Weil es oft Probleme sind, die sich nur gemeinsam lösen lassen. Wir hatten diese Woche in Brüssel den Vorsitzenden der niederländischen Sozialdemokraten, Diederick Samsom zu Gast. Er beindruckte mich mit seiner Offenheit und Ehrlichkeit. Einen Satz habe ich mir notiert: „Wenn die Menschen erfahren, dass wir mehr Europa brauchen, weil wir die Banken in den Griff kriegen wollen, dann sind sie nicht mehr antieuropäisch.“
2013 wird ein entscheidendes Jahr für Europa. Wir können die Weichen dafür stellen, dass sich der Kurs der Geschichte ändert, dass mehr Gemeinsinn und mehr Verantwortungsgefühl einziehen und dass sich eine neue Sensibilität gegenüber denjenigen breit macht, die im Leben zu kurz kommen. Grenzen sind dabei hinderlich.
Mir geht es wie vielen. Ich frage mich, wozu soll ich mir den Kopf zerbrechen über eine Frage, die sich mir – sagen wir es einmal höflich – nicht gerade aufdrängt. So viele wichtigere Fragen möchte ich gelöst sehen: die Finanz-und Währungskrise, die steigende Ungleichheit, die Perspektivenlosigkeit der jungen Generation, hervorgerufen durch ein inadäquates Bildungssystem oder das Versagen der heimischen Eliten im Hinblick auf die Migration. Ja und die Notwendigkeit der Reform der politischen Institutionen in diesem Land, und, und, und….. Vieles drängt sich auf, wo es andere Weichenstellungen zu setzen gilt. Aber ausgerechnet die Zukunft des österreichischen Bundesheers?
Ob wir es wollen oder nicht, müssen wir eine Antwort geben.
Für den 20. Jänner wurde von den Koalitionsparteien eine Volksbefragung anberaumt, bei der entschieden werden soll, ob die bisher geltende Wehrpflicht fällt. Eines ist sicher, die Volksbefragung findet statt. Es wird ein Resultat geben, das Konsequenzen haben wird für das Bundesheer, für die SPÖ-ÖVP Koalition auf Bundesebene und natürlich vor allem auch für die im März stattfindenden Landtagswahlen in Niederösterreich. Letzteres ist wahrscheinlich der Grund dafür, weshalb wir ausgerechnet jetzt zur Abstimmung gerufen werden. Offenbar erhofft sich Erwin Prölls angeschlagene ÖVP durch die Mobilisierung von Ängsten (wer hilft bei Katastrophen oder wer sichert den Krankentransport) einen Motivationsschub. Das gelingt auch teilweise. Der politischen Neutralität verpflichtete Blaulichtorganisationen werden ohne Genierer zu willfährigen Gehilfen. Schon das sollte stutzig machen. Als jemand, der in seiner Jugend den Dienst im Bundesheer aus Gewissensgründen – damals noch unter Strafandrohung- verweigerte, verstehe ich eines nicht: Der Zivildienst könne nur dadurch gesichert werden, indem die Wehrpflicht aufrechterhalten bleibt. Das ist doch ziemlich abstrus.
Was hat das eine eigentlich mit dem anderen zu tun?
Vom Drückeberger zur Stütze der Gesellschaft
Es ist noch nicht solange her, da wurden Zivildiener als Drückeberger hingestellt und die Organisationen, die heute ohne sie nicht mehr auszukommen glauben, wussten mit ihnen nicht viel anzufangen. Zwei Faktoren sind ausschlaggebend, dass sich die Ausgangslage so grundlegend verändert hat.
Erstens: Den Wehrdienst zu verweigern wurde ausgesprochen populär. Nicht nur aus pazifistischen Überlegungen , sondern, weil der Dienst im Bundesheer als sinnlos und entwürdigend empfunden wurde. In den letzten Jahrzehnten war damit nicht eigentlich nicht mehr das Heer, sondern der Sozialsektor, das, was man gerne als die „Schule der Nation“ bezeichnet.
Zweitens: Die sozialen Einrichtungen allen voran der Rettungsbereich haben die Ressource Zivildiener zu entdeckt. In vielen Bereichen führte dies dazu, dass notwendige Modernisierungen, die einen höheren Personaleinsatz erfordert hätten, auf die lange Bank geschoben wurden. Zivis waren eben billig und vor allem universell einsetzbar.
Ich habe mich in meinen diversen politischen Funktionen im Sozialbereich immer dagegen verwehrt, dem chronischen Personalmangel durch einen exzessiven Einsatz von Zivildienern zu begegnen. Heute so tun, als ob der Sozialsektor ohne den Zivildienst nicht überleben könnte, ist daher eine Infamie. Diejenigen, die jetzt den Zusammenbruch des Sektors heraufbeschwören, machen eigentlich nur deutlich, wie sorglos sie in den Tag hineingelebt, ja strenggenommen die Entwicklungen verschlafen haben.
Pluspunkt Freiwilliger Sozialdienst
Das Konzept des Freiwilligen Sozialdienstes, wie es unter der Ägide von Rudolf Hundsdorfer entwickelt wurde, ist ein optimaler Ersatz für den bisherigen Zivildienst. Es beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, bietet auch Chancen für Frauen und ist keine Sackgasse, weil es weiterführende Qualifikationsmöglichkeiten bietet. Zudem sieht es auch eine einigermaßen faire Entlohnung vor. Das Freiwillige soziale Jahr ist der augenfälligste Pluspunkt der von der SPÖ unterstützten Position.
Etwas schwieriger wird es mit der Frage Profiheer. Dem liegt zugrunde, dass es in Österreich so gut wie überhaupt keine wehrpolitische Diskussion gibt. Dies ist ein großer Fehler. Alles was mit dem Bundesheer zu tun hat, wird ja normalerweise mehr oder minder unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert oder milde belächelt. Daher gibt es auch keine wirklichen Anhaltspunkte. Konzepte tauchen oft aus dem heiteren Himmel auf, wichtige Positionen werden losgelöst vom jeweiligen Zusammenhang erörtert. Der österreichischen Öffentlichkeit ist weitgehend entgangen, dass sich in den letzten zwanzig Jahren immer mehr westliche Staaten von der allgemeinen Wehrpflicht verabschiedet haben. Dies geschah im Übrigen unabhängig davon, ob diese Staaten Mitglied der NATO sind. Es muss also auch andere Gründe für diese Veränderungen geben.
Neutralität, Berufsheer und NATO
Häufig hört man, eine Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht wäre der Einstieg in eine NATO Mitgliedschaft. Dies entspricht nicht den Tatsachen. Nicht nur aus den obigen Gründen. Ein solches Argument verkennt auch die Realität. Die NATO, der die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung nicht beitreten will, ist nicht mehr das Militärbündnis des Kalten Krieges. Ihre Einsätze finden auch außerhalb Europas statt und haben keineswegs nur defensiven Charakter. Sie ist nicht mehr auf den Fall, dass ein Bündnispartner angegriffen wird, beschränkt, sondern führt auch offensive Operationen durch (Irak, Afghanistan etc). Die Beteiligung erfolgt nicht der Erfüllung der Bündnispflicht wegen, sie ist (mehr oder minder) freiwillig.
Diese neue Strategie ermöglicht auch Nichtmitgliedern im Rahmen der NATO, etwa in der „Partnerschaft für den Frieden“ militärisch zusammen zu arbeiten. Österreich ist seit langem in wichtige Operationen der NATO am Balkan aktiv eingebunden. Innerhalb der KFOR Aktivitäten im Kosovo stellt Österreich das größte Nicht -NATO Kontingent. Sogar in Afghanistan war österreichisches Stabspersonal präsent. Die österreichische Beteiligung wird von den NATO Partnern hochgeschätzt. Im Sinne der clear-hold-build Strategie von General Petraeus ist der österreichische Beitrag vor allem im Bereich von „hold“ und „build“ angesiedelt. Damit ist auch sichergestellt, dass die österreichischen Streitkräfte nicht aktiv in Kampfmaßnahmen involviert sind. Zu glauben, sie wären damit nicht strategischer Teil einzelner NATO Operationen ist allerdings blauäugig. Ob Österreich ein Berufsheer besitzt oder nicht ist für diesen Zusammenhang irrelevant. Ein Beitritt zur NATO, den ich persönlich aus grundsätzlichen Erwägungen ablehne, ist nicht daran gekoppelt. Drei NATO Mitglieder, Griechenland, Dänemark und Norwegen kennen nach wie vor die allgemeine Wehrpflicht. Von den mit Österreich vergleichbaren neutralen bzw. bündnislosen Ländern, haben Finnland und Schweiz die allgemeine Wehrpflicht, während Schweden und Irland sich für ein Berufsheer entschieden haben.
Anziehungskraft für Autoritäre?
Ein anderes Argument meint, dass ein Berufsheer große Anziehungskraft auf autoritäre und antidemokratische Kräfte ausüben würde. Wäre dies der Fall dann müsste das in allen Mitgliedsstaaten der EU, die die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft haben, ebenso zu beobachten sein. Zudem müsste dieses Argument auch auf die Polizeikräfte zutreffen. Niemand wird für eine „allgemeine Polizeipflicht“ eintreten, nur weil es bei der Polizei immer wieder Elemente gibt, die Schwierigkeiten haben, sich nach rechts abzugrenzen. Die Gefahr einer Infiltration der zur Anwendung von Gewalt autorisierten Organe eines Staates (Heer und Polizei) besteht durchaus. Gegen solche Bestrebungen ist mit allem Nachdruck vorzugehen und das, unabhängig von der Frage wie das Heer organisiert ist. Wägt man die grundsätzlichen Argumente gegeneinander ab, dann scheint es mir kurzsichtig, darauf zu beharren, es sollte alles beim alten bleiben. So wie bisher kann es mit Sicherheit auf keinen Fall weitergehen. Und das wäre ja die Konsequenz würden sich ÖVP und FPÖ durchsetzen.
Verkrustete Strukturen aufbrechen!
Wir brauchen ein Nein zum bisherigen Wehrdienst, weil nur auf diese Weise auch die dringend notwendige Grundsatzdiskussion über Sicherheit und Verteidigung in Gang kommt. Eine Beibehaltung des status quo würde diese verhindern. Bei einer solchen, grundsätzlichen Diskussion darf es keine Tabus geben. Auch die Frage, ob wir überhaupt ein Heer brauchen, sollte gestellt werden. Freilich müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass solche weitreichende Entscheidungen nicht ohne eine Abstimmung mit unseren geographischen Nachbarn getroffen werden können. Ein Nein zum bisherigen Modell der Zwangsverpflichtung junger Männer würde eine breite Diskussion auslösen, verkrustete Denkstrukturen aufbrechen und die Chance zu einer Neuordnung bieten. Vor allem würde sie aber dem Modell eines freiwilligen sozialen Jahres, das nicht mehr auf Beliebigkeit und Willkür beruht, zum Durchbruch verhelfen.
Rede anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Fier am 24.11 2012
Es freut mich, hier bei Ihnen sein und diese hohe Auszeichnung entgegen nehmen zu dürfen.
Vor einem Vierteljahrhundert wäre so etwas undenkbar gewesen. Ich hätte unmöglich nach Albanien reisen können und schon gar nicht das Wort ergreifen können. Albanien das war „terra incognita“, ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte. Ganz weit weg, obwohl geographisch nahe.
Albanien das war unzugänglich, verschlossen und abgeschottet. Seine Menschen durften es nicht verlassen und auch für Neugierige aus dem Westen war es nicht möglich, dorthin zu gelangen. Ich erinnere mich an einen Sommerurlaub im Norden Korfus – man konnte die Küste Albaniens erkennen – so nah und dennoch undenkbar, jemals dorthin zu gelangen. Ich wünschte mir genau das und mit den Menschen in Kontakt zu treten. Eine solche Möglichkeit gab es nicht. Und schon gar nicht für die Menschen dort. Mir ließ der Gedanke keine Ruhe, dass sie wohl jeden Abend die Lichter der griechischen Touristenorte sehen würden. Und wie trostlos wohl dieses Gefühl sein müsste, zu wissen, dort niemals hinkommen zu können. Was wog schon die Neugierde von Menschen wie mir gegenüber der Sehnsucht der Menschen in Albanien, der grausamen Realität entfliehen zu können. Albanien war auf eine seltsame Weise isoliert, wie kaum ein Staat auf der Welt.
Das einzige Lebenszeichen, das nach außen drang war Radio Tirana. Ob man wollte oder nicht, wurde man in meiner Jugend, sobald man nach Sendern suchte, mit den von martialischer Musik angekündigten Attacken des Senders gegenüber allen revisionistischen und reformistischen Abweichlern überall auf dieser Welt, konfrontiert.
Diese Zeiten sind vorbei, zum Glück. Die Menschen in Albanien können heute ihr Land, wann immer sie wollen, verlassen. Aber sie müssen plötzlich die Erfahrung machen, dass sie nicht immer willkommen sind. Das Interesse des Westens an Albanien ist einem gefährlichen Desinteresse gewichen. Schnell werden Vorurteile bemüht: „failed state“, „die werden noch lange brauchen“ oder „was geht uns das alles an“.
Diese Überheblichkeit mancher Kreise im Westen ist unfair und kurzsichtig. Vor allem ist sie ungerecht. Albanien hat, seit es seine Freiheit wiedergewonnen hat, unendlich viel geleistet. Kein anderes Land des ehemaligen Ostblocks hatte es schwieriger.
Vieles liegt noch vor Ihnen, aber Albanien ist im letzten Vierteljahrhundert einen weiten Weg gegangen. Das Licht am Ende des Tunnels ist ganz deutlich sichtbar.
Es gilt noch einiges an Hindernissen zu überwinden und die Gefahr, auf dieser letzten Etappe zu stolpern, besteht. Die Korruption, das Krebsübel vieler Gesellschaften muss mit aller Entschiedenheit bekämpft werden.
Nur wenn Rechtstaatlichkeit auf allen Ebenen der Gesellschaft vorherrscht und Willkür der Berechenbarkeit weicht, wird es den ersehnten allgemeinen Wohlstand geben. Rechtstaatlichkeit bedeutet ja vor allem die Sicherheit, sein Leben selbst gestalten zu können und an den eigenen Leistungen gemessen zu werden. Eine solche Sicherheit ist die elementare Voraussetzung für die für den Aufschwung notwendige Motivation der Menschen.
Der ersehnte Aufschwung wird nur dann nachhaltig sein, wenn möglichst viele davon profitieren. Gesellschaftliche Ungleichheit ist eine schlechte Basis. Wohlstand, der auf Ausbeutung und Benachteiligung beruht, ist auf Sand gebaut. Ungleichheit hat fatale Konsequenzen. Wir dürfen es niemals zulassen, dass Menschen, nur auf Grund ihrer sozialen Stellung benachteiligt werden. Gleichheit ist ein Grundprinzip des Europäischen Sozialmodells, genauso wie Freiheit und Solidarität.
Wir dürfen es nicht zulassen, dass einer dieser Werte verabsolutiert wird. Mit anderen Worten, es wird nur dann wirkliche Freiheit geben, wenn auch Gleichheit existiert und umgekehrt. Solidarität bedeutet den Willen der Gemeinschaft, den Einzelnen nicht alleine zu lassen und ihn damit zu überfordern.
Wir beobachten gegenwärtig in Europa einen Trend, der ausgehend von den USA, einem Mantra gleich, die Freiheit des Individuums zum einzigen gesellschaftlichen Wert hochstilisiert und den Wettbewerb zur alleinigen Antriebsquelle des Fortschritts erklärt.
Dies ist ein Irrweg. Gegenwärtig können wir deutlich beobachten zu welch negativen Konsequenzen eine solche Verirrung führt. Die Ungleichheit in Europa steigt an und schwächt den Kontinent im Inneren und nach Außen. Sie befördert die Unzufriedenheit der Bürger, schafft Angst und stärkt den Nationalismus. Gleichzeitig verringert sie die Binnennachfrage und schwächt damit das Wachstum, was wiederum die Wettbewerbsfähigkeit Europas unterminiert.
Es gut zu wissen, dass hier in Fier die Uhren anders ticken. Ich bin sehr froh, dass meine Freunde in Ihrem Land, der Bürgermeister ihrer Stadt, Baftir Zeqaj und der im Kreis der S&D Fraktion sehr geschätzte Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Edi Rama meine Einschätzung teilen und wissen, dass wirtschaftliches Wachstum nur dann nachhaltig ist, wenn möglichst viele daran teilhaben können. Es gibt viele Beispiele in der europäischen Geschichte, dass ein solcher Weg funktioniert.
Eines der reichsten Länder Europas und der Welt, Schweden hat es uns vorgemacht. Als sich Pier Albin Hanson mitten in der Weltwirtschaftskrise, 1932 daran machte, den schwedischen Wohlfahrtstaat zu begründen, da galt dieses Land als Armenhaus des Kontinents. Das unbedingte Festhalten an Demokratie und Rechtsstaat und der Wille zum sozialen Ausgleich und zum Kompromiss sind die wichtigen Ingredienzien dieses Erfolgsrezeptes.
Gerade zu einem Zeitpunkt, wo Albanien den hundertsten Geburtstag seines Staatswesens feiert, ist es – neben dem berechtigten Stolz über vergangene Leistungen und überwundene Probleme – auch angebracht in die Zukunft zu blicken. Es ist nicht meine Aufgabe Ratschläge zu erteilen. Das steht mir auch nicht zu.
Aber wenn man in die Zukunft blicken will, dann ist es wichtig, zu wissen, wie es anderen europäischen Staaten gelungen ist, einen Weg des Wohlstandes und des sozialen Ausgleichs zu finden und ihn erfolgreich zu beschreiten.
Das europäische Projekt bietet ja vor allem die Möglichkeit von einander zu lernen und die Vielfalt der unterschiedlichen Erfahrungen fruchtbar zu machen.
Es ist ein wunderbares Gefühl, zu wissen, dass just zu diesem historischem Zeitpunkt sich Albanien klar zu einer europäischen Perspektive bekennt und dorthin zurückkehrt, wo es hingehört. Vorbei sind die Zeiten der Isolation, wo die Menschen darunter litten das Land nicht verlassen zu können und wo Leute wie ich sehnsüchtig versuchten, zumindest einen Blick auf das Land werfen zu können.
Albanien ist auf dem Weg in eine europäische Zukunft, und das ist gut so. Gemeinsam werden wir die momentan vielen noch unüberwindbar vorkommenden Schwierigkeiten überwinden, die dem Ziel, dass ihr Land zum vollwertigen Mitglied der europäischen Gemeinschaft wird, noch im Weg stehen.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die hohe Auszeichnung, die Sie mir zukommen lassen. Ich betrachte es als Auftrag, mich für die europäische Perspektive Albaniens einzusetzen. Ich werde dies mit voller Kraft tun, beflügelt durch Ihr Vertrauen, aber auch in der Gewissheit, dass gerade die Stadt Fier eine historische Verknüpfung mit Europa aufweist, wie wenig andere Städte.
Das antike Apolonia, dessen Erbe Ihre Stadt angetreten hat, war eine der Geburtsstätten der europäischen Zivilisation. Hier wurde schon vor über zwei Jahrtausenden diskutiert, was uns auch heute noch bewegt: Demokratie oder Oligarchie, Autonomie und Souveränität. Schon Aristoteles beschäftigte sich mit den Geschehnissen in Ihrer Stadt. Wir können daraus die Erkenntnis mitnehmen, wie sehr das gegenwärtige Europa auf diesen Fundamenten beruht.
Der Blick zurück lehrt uns aber auch, dass es immer möglich ist, neu anzufangen.
Einen solchen Augenblick sehe ich jetzt gekommen, hier in Fier, in Albanien und in Europa. Wer solche Augenblicke versäumt, das wissen wir auch, den bestraft die Geschichte.
Parteitage folgen Ritualen. Es gibt Parteitage, die Wahlauseinandersetzungen einläuten oder Weichenstellungen vornehmen, wenn etwa eine neue Parteispitze inthronisiert wird. Diese vermitteln im Regelfall Aufbruchsstimmung, Zuversicht und Geschlossenheit.
Und dann ist da noch eine andere Gattung von Parteitagen. Sie gibt es nur, weil sie in bestimmten Intervallen statutarisch vorgeschrieben sind.
Niemand wünscht sie wirklich, aber man kann sich ihnen nicht widersetzen. Für die Führung bergen sie ein großes Gefahrenpotential, vor allem dann, wenn sie allzu leichtfertig, man könnte auch sagen, unkonzentriert im Bezug auf die Befindlichkeit der Partei ist.
Dann kann ein nur dem Kalender geschuldeter Parteitag zum Problem werden. So geschehen beim Parteitag der SPÖ Mitte Oktober in St.Pölten. Die statutarisch vorgeschriebene Pflichtübung bedeutete einen unerwarteten Rückschlag. Nach außen sichtbar durch ein schlechtes Ergebnis des Parteivorsitzenden bei seiner Wiederwahl. Wie nicht anders zu erwarten, stürzten sich die Medien sofort darauf. Etwas über 83% wären ein Minusrekord etc.
Eigentlich wäre ein solches Resultat in anderen demokratischen Staaten überhaupt nichts Außergewöhnliches. Wer kann denn schon, wenn er(sie) politische Führung übernimmt, es allen rechtmachen. Über 90 % Zustimmung zu haben sollte doch eher das Außergewöhnliche darstellen. Nicht in Österreich, nicht bei der SPÖ (und auch nicht bei der zweiten Noch-Großpartei). Hier gilt der Grundsatz, Entscheidungen im kleinen Kreis zu fixieren, um sie dann durchzuziehen und auf eine breite Zustimmung zu hoffen. Kritik kann sich dann nur in der Wahlzelle manifestieren, wo die einzige Möglichkeit, Unzufriedenheit auszudrücken, im Herunterstreichen eines Kandidaten/ einer Kandidatin vom Wahlzettel besteht.
Die Dramaturgie eines Parteitags sieht keinen ergebnisoffenen Diskurs vor. Ein bisschen Dampfablassen vielleicht.
Auch wenn sich in St.Pölten stundenlang Redebeitrag an Redebeitrag reihte, war das keine Diskussion über die Zukunft der SPÖ oder die Zukunft des Landes, sondern eher ein Austausch von Befindlichkeiten. Ein paar kritische Beiträge jüngerer Delegierter, die zum Nachdenken anregten, ansonsten viel leere Rhetorik und Selbstbemitleidung. Letzteres ist eine in der österreichischen Sozialdemokratie weitverbreitete Fähigkeit.
Der Parteitag stand nicht im Zeichen eines Aufbruchs. Er symbolisierte Resignation und Ratlosigkeit und das zu einem Zeitpunkt, wo sich ganz Österreich nach einem Neubeginn sehnt. Wo sich Scharlatane wie Strache und Stronach zu Fürsprechern derer stilisieren, die so nicht mehr weiter wollen. Und ihnen niemand entgegentritt.
Zu einem solchem Zeitpunkt verzichtet die SPÖ darauf, Alternativen aufzuzeigen und beschränkt sich auf die Verwaltung des Bestehenden. Zugegebenermaßen funktioniert diese im europäischen Vergleich recht gut. Allein, die meisten Menschen wollen diese Botschaft aber gar nicht hören. Sie sind nicht so sehr am materiellen Bestand interessiert. Vielmehr sind sie grundsätzlich unzufrieden. Diese breite Unzufriedenheit hat mit der politischen Kultur in unserem Land zu tun, ist also eine Frage des Überbaus. Es herrscht in Österreich ein großes Bedürfnis nach Neuorientierung, nach Veränderung und nach Beteiligung. Natürlich ist diese Gefühlslage äußerst diffus. Aber wäre es nicht eine historische Chance für die Sozialdemokratie, die Themenführerschaft bei den in Österreich anstehenden Reformen zu übernehmen?
Um das zu leisten braucht es allerdings viel mehr als ein neues Parteiprogramm, es braucht ein Aggiornamento, eine Öffnung der Partei für einen großangelegten Reformdiskurs. Die Türen müssen weit geöffnet werden, neue Ideen und neue Leute dürfen nicht, wie das jetzt zumeist Usus ist, reflexartig zurückgewiesen werden. Die Partei muss sich neuen Fragestellungen, wie etwa der digitalen Agenda zuwenden, ohne dabei die Klassiker wie die soziale Frage zu vernachlässigen.
Noch wäre es nicht zu spät.
Die österreichische Sozialdemokratie mag manche Fehler in den letzten Jahren gemacht haben, aber sie war nie systematischer Bestandteil der korruptiven Mutation des österreichischen Politikbetriebes. Die Menschen erwarten sich von einer politischen Kraft, der man immer noch eine hohe moralische Qualität zubilligt, Antworten, wie es weitergehen soll. Taktieren und Abwarten werden als Zustimmung zu den bestehenden Missständen bewertet. Ohne die eigenen Strukturen den veränderten Kommunikationsgewohnheiten anzupassen, die Mitgestaltungsmöglichkeiten für eine dazu bereite Parteibasis zu verstärken und ein radikal neues Erscheinungsbild, wird dies nicht gelingen.
Eigentlich mag ich Sonntage. Auch solche, an denen nicht die Sonne scheint. Da ist der Grad der Fremdbestimmung um einiges geringer und mit etwas Glück komme ich dazu, jene Dinge zu tun, die mir Spaß machen. Interessantes lesen, Freunde treffen oder Pläne schmieden.
Der heutige Sonntag ist anders. Eine unangenehme Grundstimmung hält mich seit dem frühen Morgen gefangen.
Eigentlich sollte ich gut gelaunt sein. Gerade ist der Momentum-Kongress im oberösterreichischen Hallstatt zu Ende gegangen. Mehr als 250 großteils junge Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich gut vorbereitet, auf hohem Niveau, streitlustig aber dennoch respektvoll zueinander, Gedanken über die Zukunft der Demokratie gemacht. Über Eliten und Parteienherrschaft, Partizipation, „liquid democracy“ oder direkte Demokratie. Seit fünf Jahren findet Momentum statt und stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass es in Österreich nicht an zur Politik bereiten und fähigen jungen Menschen mangelt.
Trotz dieser Erkenntnis will meine depressive Stimmung nicht weichen. Ist mir doch gerade letzte Woche, als ich von Brüssel ins kleinformatige Österreich heim kam, eine Meinungsfrage ins Auge gefallen, wonach Frank Stronach auf einen zweistelligen Prozentanteil käme. SPÖ und ÖVP würden weiter verlieren, glücklicherweise auch die FPÖ, die Grünen würden nur minimal zulegen.
Ich frage mich und ich grüble darüber, wieso soviele Menschen zu Stronach flüchten. Eine wirkliche Alternative stellt er ja nicht dar. Seine Ansichten sind bizarr und seine Lösungsvorschläge gefährlich. Man braucht viel Geduld und Wohlwollen, um ihm überhaupt folgen zu können.
In den vergangenen zwanzig Jahren ist er nun der dritte Politiker, der sich mit Erfolg in Fundamentalopposition zum etablierten Politikbetrieb versucht: Haider, Strache, Stronach.
Die beiden einstmaligen Großparteien schaffen mittlerweile nicht einmal mehr zusammen eine einfache Mandatsmehrheit. Noch immer begreifen sie nicht, dass dies weniger mit der politischen Verführungskunst der populistischen Opposition, als vielmehr mit den eigenen Fehlern zu tun hat. Noch immer tun sie so, als ob sie der Nabel der politischen Geschehnisse in diesem Land wären und begreifen nicht, dass ihre koalitionsinternen Hahnenkämpfe niemanden außerhalb ihres Wahrnehmungshorizonts interessieren. Viele Menschen in Österreich sind deswegen angewidert. Die Geschehnisse rund um den U-Ausschuss haben diese Stimmung gewaltig beflügelt.
Haider, Strache, Stronach haben Erfolg, weil SPÖ und ÖVP immer mehr zu autistischen Organisationen verkommen. Obwohl sich die Erfolge (Beschäftigungsentwicklung, Wirtschaftswachstum etc.) im europäischen Vergleich durchaus sehen lassen können, schaffen sie es, dass die Mehrheit der Bevölkerung zunehmend systemkritisch wird.
Das ist eigentlich eine Meisterleistung. Bei der ÖVP kann man das ja noch nachvollziehen. Die Selbstanmaßung von Schwarz-Blau hat tiefe Spuren hinterlassen.
Aber die SPÖ? Selten hat sich eine Partei so sehr selbst demontiert, wie dies der SPÖ in den letzten Monaten gelungen ist. Trotz guter Regierungspolitik und trotz einer weitgehend „sauberen Weste“.
Ich bin ein in der Wolle gefärbter Roter. Aber die gegenwärtige Situation überfordert auch mich. Wohin ich komme, herrscht Unverständnis. Ich habe viel mit jenen, von einem früheren Parteivorsitzenden zynisch als „Basiswappler“ bezeichneten Mitgliedern zu tun. Überall greift Resignation um sich. Mich erschreckt diese um sich greifende Passivität. Der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, ist allgegenwärtig. Lieber die Situation bejammern und nichts dagegen unternehmen, weil man ja nicht permanent enttäuscht werden möchte.
Barbara Blaha, die Präsidentin des Momentum-Kongresses, hat in ihrem Einleitungsstatement etwas sehr treffendes gesagt:
„Viel ist dieser Tage von der Alternativlosigkeit die Rede. Dass dem nicht widersprochen wird, ist die denkbar höchstentwickelte Form von Herrschaft. Die wahre Dominanz besteht nicht darin, dass sich niemand wehrt. Sondern darin, dass sich die Menschen für so machtlos halten, dass ihnen schon der Gedanke sich aufzulehnen, an den Verhältnissen auch nur zu rütteln, absurd erscheint.“
Dem ist wenig hinzuzufügen – außer die Frage vielleicht, wieso es sich eine politische Bewegung wie die österreichische Sozialdemokratie leisten kann, auf Frauen wie Barbara Blaha zu verzichten.
Wieso ist die SPÖ eigentlich nicht in der Lage, mit der kritischen, primär an Inhalten interessierten Jugend (zu der auch viele unverbrauchte Alte gehören), in einen Diskurs zu treten. Wieso ist man nicht bereit, sich einer grundsätzlichen Diskussion über die demokratischen Strukturen, über Pluralität in den Medien, über die Reform des Bankensektors oder über die Beseitigung der Korruption zu stellen. Wieso nicht willens, eigene Fehler einzugestehen und an deren Überwindung zu arbeiten.
Die österreichische Sozialdemokratie könnte jene Kraft sein, die Alternativen formuliert, zum Wirtschaftssystem und zu den korrupten Strukturen, die das Land zersetzen. Sie könnte der grassierenden Dummheit, die durch die Boulevardmedien täglich vergrößert wird, etwas entgegensetzen.
Es gibt genug Menschen, die genau solches erwarten. Würde die Sozialdemokratie diese Rolle einnehmen, dann würde unser Land nicht wie in einer Geiselhaft den Populisten ausgeliefert sein. Wer selbst keine Alternativen formuliert, der riskiert, dass es andere tun.
Im August verbrachte ich auf Einladung von Daran Kravan, dem Präsidenten der Khmer Anti Poverty Party, einige Tage in Kambodscha. Ich kenne Daran von einem Besuch, den er mir im Mai im Europäischen Parlament in Brüssel abstattete. Er lebt normalerweise in den USA, wo er wie viele andere Flüchtlinge aus seinem Land Zuflucht fand. Seine Flucht glich einer Odyssee und es grenzt an ein Wunder, dass er überlebte. Wie viele andere, die in die Flucht getrieben wurden, möchte er in seine Heimat zurückkehren und sie zum Positiven verändern.
In Kambodscha spielte sich eine der ganz großen Tragödien des 20. Jahrhunderts ab. Zunächst wurde das Land trotz des Versuchs neutral zu bleiben in den Vietnamkonflikt hineingezogen. Der Vietkong führte seine Waffenlieferungen über kambodschanisches Territorium durch. Die USA, die damals von der fixen Idee beseelt waren, dem Kommunismus keinen Millimeter nachgeben zu dürfen, wurden durch den Vietnamkrieg in ihre erste militärische Niederlage hineinmanövriert. Kambodscha kam am Ende dieses Dramas ins Spiel und wurde zum Zielpunkt großflächiger, systematischer Bombardements. 2.756.941 Tonnen Bomben töteten innerhalb eines Jahres mehr als 200.000 Menschen.
Amerika wollte Stärke zeigen, wie wir das ja auch aus der Gegenwart kennen. „Tough“ zu sein ist freilich kein Programm. Die amerikanische Politik wollte alles auf einmal erzwingen, mit größtmöglichem Materialeinsatz und ohne Rücksicht auf Verluste. Eine derart unsensible Vorgangsweise empörte die Betroffenen und machte sie zu Feinden Amerikas. So wie heute die Talibans und Al Kahida nutzten das extremistische Gruppen für ihre Propaganda. Die Khmer Rouge wären ohne die verfehlte Politik der USA niemals an die Macht gelangt.
Die Herrschaft der Khmer Rouge über ganz Kambodscha dauerte nur vier Jahre, aber sie verwüstete das Land für viele Generationen. Rund ein Viertel der Bevölkerung wurde ermordet. Zumeist ganz systematisch in sogenannten „Killing Fields“ , auf die die städtische Bevölkerung zwangsdeportiert wurde. Pol Pot, Bruder Nr.1 träumte von einer agrarkommunistischen Gesellschaft. All jene, die dem entgegenstehen hätten können, wurden als Klassenfeinde liquidiert. In Folterzentren wie dem berüchtigten Tuol Sleng in Phnom Penh wurden systematisch Schuldbekenntnisse fabriziert.
Dieses unermessliche Morden wurde durch eine Intervention von außen beendet. Vietnam unterstützte ein früheres Mitglied des Khmer Rouge Führungszirkels, Hun Sen, der noch heute Ministerpräsident ist. Ruhe kehrte deswegen nicht ein, wohl auch, weil ausländische Mächte wie China und die USA, Vietnam und die Sowjetunion den Konflikt am Köcheln hielten. Erst 1998, nach zwei weiteren Bürgerkriegen kam es unter UN-Vermittlung zu einem Settlement und damit zu einer gewissen Stabilität.
Seither wird das Land von einer korrupten „Elite“ um Hun Sen beherrscht. Das garantiert, dass sich die Regierenden genauso wie die Tycoons aus dem vietnamesischen Nachbarland und China ungehemmt ihre Taschen füllen können. Zu Lasten der Bevölkerung, natürlich. Die Armutsrate ist hoch, besonders dramatisch ist sie unter Kindern. Ein besonderes Problem stellen die hunderttausenden Invaliden dar, da bei weitem noch nicht alle Landminen beseitig sind. Menschenrechte gelten wenig in diesem Land. Dafür genießen die einstigen Massenmörder die stille Duldung des Regimes. Mühsam quält sich ein Internationaler Gerichtshof durch die Geschichte und hat bisher erst ein Urteil fabriziert. Mehr als dreißig Jahre danach.
Dafür geht man gnadenlos gegen alle vor, die die Machenschaften des Regimes aufdecken, wie der Fall des Umweltaktivisten Chut Wutty zeigt. Er wurde im April ermordet, weil er die illegale Rodung des Regenwaldes öffentlich machte. Kambodscha ist eine Goldgrube für den globalen Kapitalismus. Die Arbeitsbedingungen sind unbeschreiblich. Während meines Aufenthaltes berichtete eine lokale Tageszeitung, dass an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen dutzende Arbeiterinnen, die für H&M tätig waren, wegen Erschöpfung ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Mein Freund Daran zeigte mir all diese Erscheinungen des modernen Kambodscha, brachte mich mit NGOs, Studenten und Medienvertretern zusammen, vor allem zeigte er mir, dass es sehr viele gibt, die sich nach Freiheit und Gerechtigkeit sehnen.
Daran, der die Khmer Anti Poverty Party gründete und leitet, ist ein guter Mensch, hierzulande würden ihn seine Feinde als Gutmenschen bezeichnen. Er hat einen fast kindlichen Optimismus. Seine Biographie ist beeindruckend und zeigt, dass man selbst in den Momenten größter Erniedrigung Mensch bleiben kann. Selbst gerade seiner Exekution durch die Khmer Rouge entkommen, hatte er mehr als 30 Kindern Schutz gegeben, sie gemeinsam mit seinem 13-jährigen Gehilfen ein halbes Jahr lang versteckt und mit Nahrung versorgt. Dieser lebt in Kambodscha und nennt einen Kleintransporter sein eigen. Damit kann er gerade über die Runden kommen. Sein Leben ist ein ständiger Überlebenskampf. Dennoch hat er unlängst ein Baby adoptiert, das sonst nicht überlebt hätte. Um die Armut zu bekämpfen und die Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, will er Premierminister werden. Mücke gegen Elefant oder David gegen Goliath. Doch das Regime, das sich alle fünf Jahre zur Wahl stellt und dazwischen keine Rede-und Versammlungsfreiheit zulässt fürchtet ihn. Weder durften wir eine Pressekonferenz, noch eine öffentliche Versammlung abhalten. Als wir dies dann in seinem Hauptquartier als Privatveranstaltung etikettiert trotzdem taten, da wurden die Teilnehmer von der Polizei genau beobachtet. Und pünktlich zum Veranstaltungsbeginn fiel auch die Stromversorgung aus. Zwei Tage später erfuhr Daran, dass der Vermieter den Kontrakt auf Druck der Lokalbehörde kündigte. Mit solchen täglichen Widerwärtigkeiten müssen jene rechnen, die sich für ein demokratisches und sozial gerechtes Kambodscha einsetzen.
Menschen wie Daran verdienen unsere tatkräftige Unterstützung. Ich werde versuchen, das Meine dazu beizutragen, vor allem im Europäischen Parlament. An das alles sollten wir auch dann denken, wenn wir uns darüber freuen, wie günstig wir gerade wieder etwas gekauft haben. Oft oder zumeist geht dies zu Lasten der Menschen in „unterentwickelten“ Ländern.
1) Bree Lafreniere, Daran Kravanh, Music Through The Dark, University of Hawaii Press 2000.