Der Damm ist gebrochen. Als ich das vor drei Wochen behauptete, da stieß ich bei manchen noch auf Unverständnis. Daran gibt es nichts zu deuteln. Die FPÖ ist auf dem Vormarsch. Nicht nur bei der Sonntagsfrage liegt sie deutlich vor den ehemaligen Großparteien. Viel schlimmer noch, bei der Lösung der Flüchtlingsfrage vertrauen 29% den Freiheitlichen und nur 10 bzw. 12% den Regierungsparteien.
Auf einmal ist der Hass allgegenwärtig
Ein Erdrutsch ist im Gang. Schwer zu stoppen. SPÖ und ÖVP scheinen nicht mehr dazu in der Lage zu sein. Wahrscheinlich geht das nur mehr, wenn seine Eigendynamik nachlässt. Also, wenn die FPÖ Fehler macht. Der Radikalismus ist bekanntlich des Radikalen Feind. Noch gibt es ja Hemmschwellen. Aber die vielen, die offen und ohne viel nachzudenken mit Hassparolen auf alles eindreschen, was ihnen nicht geheuer ist, werden täglich mehr. Wie bei einem kollektiven Besäufnis. Hin und wieder gibt es Momente, wo selbst die hartgesottensten Abhängigen in ihrem Rausch innehalten und nachzudenken beginnen. So ein Moment war, als letzte Woche die FPÖ-Abgeordnete Dagmar Belakowitsch-Jenewein der Innenministerin nahelegte, Abschiebungen mit Militärflugzeugen vorzunehmen, wo die “da drinnen schreien können, so laut sie wollen“. Vor allem aber letzten Samstag, als Strache (er zog diesen Beitrag später zurück) auf Facebook insinuierte, die tödliche Amokfahrt in Graz könnte einen religiös begründeten Hintergrund haben, da konnte man hoffen, jetzt würden vielleicht manche erkennen, auf dem falschen Dampfer zu sein. Für ein paar Tage war das Entsetzen allgegenwärtig. In den sozialen Medien kursierten Screenshots der ersten Reaktionen: „die Ratte gleich auf der Straße erschlagen“ oder: „Der Bosna gehört als Strafe mit Schweinefleisch vollgestopft und mit Votka vollgesoffen wen er nicht will dann gibt es einen Trichter und Handschellen (sic!)“
Solche Statements sind keine Einzelfälle. eaudestrache.at vermittelt ein trauriges Bild davon, wie sich das Gift des Hasses und des bösen Vorsatzes von Tag zu Tag mehr in Österreich ausbreiten. Und was passiert, wenn aus Worten Taten werden? Mir kommt ein Bild aus dem Geschichtsbuch aus meiner Mittelschulzeit – lange her – in den Sinn. Wie sich der Mob über einen Juden belustigt, der gezwungen wurde mit einer Zahnbürste den Gehsteig zu reinigen. Ich habe mich immer gefragt, wie so etwas möglich war. Wie vergiftet das Klima sein musste, um so etwas zu tun. Nein, ich will keine Parallelen herbeischreiben. Ich weiß, dass sich Geschichte niemals wiederholt, aber ich bin verunsichert. Hoffentlich kommt es anders. Es muss anders kommen. Es wird anders kommen.
Angst essen Seele auf ?
Wenn wir das aber ernsthaft wollen, dann ist nicht angebracht, angewidert die Nase über den Pöbel zu rümpfen. Schon gar nicht über dessen mangelnde Rechtschreibkenntnisse. Vielmehr müssen wir uns fragen, was Menschen dazu veranlasst, ihren Hass in solch selbstentblößender Weise in aller Öffentlichkeit kundzutun. Und wir sollten auch die Frage zulassen, ob das wirklich alles ernst gemeint ist. Natürlich gibt es die Hartgesottenen, die Neonazis – mehr als wir glauben wahrscheinlich – aber die Mehrheit der Verhetzten reagiert zunächst einmal verbalradikal. Maulhelden sind noch keine Massenmörder. Was aber ist der Grund, warum so viele zu Maulhelden geworden sind? Es ist die Angst vor dem Abstieg, die Angst vor dem Absturz. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, es könne nur noch schlechter werden. Die Alten, weil sie bezweifeln, ob die Versprechungen, die man ihnen einst gegeben hat, überhaupt noch eingehalten werden, die Erwerbstätigkeiten, weil sie um ihren Job, ihr Einkommen und ihre Zukunft fürchten und die Jungen, weil sie keine Zukunft für sich sehen. Das ist in der Tat ein bedrohlicher Cocktail. Vor allem, weil es sich um diffuse, Generationen-übergreifende Ängste handelt. Diese zunächst isoliert dastehenden Bedrohungen werden quasi gemeinschaftlich empfunden und erlebt. Dadurch schaukeln sie sich für viele in einem unerträglichen Maß auf und werden als nicht mehr lösbar empfunden. Die Politik, festgelegt auf die technokratische Abarbeitung von Problemfeldern, bietet keine Erklärung und vor allem keine Lösung. Die Menschen fühlen sich alleine gelassen.
Wer kümmert sich um die Ängste?
In dieses Vakuum stoßen die Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Ihr Angebot ist simpel und betörend. Sie antworten nicht auf die konkreten Ängste, vielmehr instrumentalisieren sie diese. Sie begegnen dem beängstigenden Gefühl, alleine gelassen zu werden, indem sie die Vision einer heilen Welt beschwören. Ihre Lösung besteht darin, die komplexe und oft verwirrende Realität zu negieren, indem sie unentwegt irgendwelchen Verschwörungen nachspüren und Schuldige personifizieren. Den alleine Gelassenen gaukeln sie das Konstrukt einer Volksgemeinschaft vor. Nach dem Motto, wären wir doch endlich wieder unter uns, dann ließen sich alle Probleme lösen. Die systematische und massenhafte Verbreitung von Unwahrheiten über vermeintlichen Asylmissbrauch bewirkt Verunsicherung und schürt Neid. Überall ist die Lüge präsent und erzeugt ein Gefühl, vernachlässigt zu sein und nicht ernst genommen zu werden. Oft habe ich bei meinen Sprechstunden gehört: um die Ausländer/Flüchtlinge kümmert ihr euch und unsere Sorgen sind euch egal.
Hier liegt das Problem. Und die Sozialdemokratie muss genau hier ansetzen, wenn sie noch den Funken einer Chance haben will. Dabei geht es nicht nur darum, sich offensiv mit den Lügen und Übertreibungen der Rechtspopulisten auseinanderzusetzen. Man darf sie auf keinen Fall unwidersprochen lassen. Wie oft habe ich in meiner Partei gehört, es wäre doch ratsam, der Diskussion des Ausländerthemas auszuweichen. Dreimal falsch. Genau dieses Verhalten ist der Grund dafür, wieso der xenophobe Diskurs sich so breit entfalten konnte. Entscheidend ist, dass wir die Sorgen und Problem der Menschen ernst nehmen, sie aufgreifen und politische Lösungen entwickeln. Klingt vielleicht banal. Aber das scheinbar Banale ist oft das Wichtige. Einstmals war genau dies die Stärke der Sozialdemokratie. Verankert und geerdet im Milieu der einfachen Menschen hat sie immer wieder die Fähigkeit bewiesen, reale Verbesserungen durchsetzen zu können. Diese Fähigkeit ist verloren gegangen.
Es gibt keine Ethik der Sachzwänge
Warum können so wenige nachvollziehen, dass die Forderung, den Gürtel enger zu schnallen keine politische Botschaft ist: Den Alten unentwegt ein schlechtes Gewissen zu machen, sie würden ihre wohlerworbenen Rechte nur zulasten der Nachkommenden in Anspruch nehmen oder den Erwerbstätigen mitzuteilen, ihr Arbeitsplatz wäre keineswegs sicher, weil man ja die Produktion verlagern könne. Das alles schafft ein Klima der Ratlosigkeit und Verzweiflung. Besonders schlimm ist das für die Jungen, die nach Möglichkeit drei Studien abschließen und gleichzeitig Praxiserfahrung im In-und Ausland aufweisen sollen, um dann mit einem schlecht bezahlten prekären Arbeitsverhältnis abgefertigt zu werden. Hören wir doch auf, alles als alternativlos hinzustellen. Natürlich gibt es Alternativen zum allgegenwärtigen Mantra, der Staat, müsse wie eine Firma geführt werden. Warum nicht den Staat wie ein Gemeinwesen führen? Es gibt keine Ethik der Sachzwänge. Menschen brauchen Gemeinschaft und die Gewissheit, dass sie sich auf etwas verlassen können. Der europäische Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit hatte genau dieses Bedürfnis befriedigt. Er hat die Menschen positiv beeinflusst und motiviert, somit die Grundlage für die goldenen Jahre Europas gelegt. Vor allem, weil er ihnen Respekt gezollt und Würde gegeben hat. Europa war solange stark, so lange ihm der soziale Zusammenhalt wichtig war. Mit der neoliberalen Wende, an deren endgültiger Durchsetzung leider auch Sozialdemokraten beteiligt waren, änderte sich das. Schröder und Blair waren es, die 1999 mit einem gemeinsamen Papier eine „angebotsorientierte Agenda für die Linke“ eröffneten. Verstärkt wurde dieser Kurs dann durch eine ideologisch aufgeladene und engstirnig an nationalen Egoismen ausgerichtete Austeritätspolitik als Antwort auf die Finanzmarktkrise. Der Sozialstaat wurde zum Kostenfaktor degradiert und die Demokratie als Kostentreiber problematisiert. Scheibchenweise wird seither der einstmals prägende Wohlfahrtsstaat demontiert. An den Folgen dieser Entwicklungen leiden die Menschen, indem ihre Arbeitsplätze unsicherer, die Löhne und Einkommen niedriger werden. Frappierend ist, dass immer mehr Menschen meinen, ein weiterer Abbau des Sozialstaates würde ihnen nicht schaden, sondern eher nutzen.
Back to Basics
Wir brauchen politische Antworten auf die irrationalen Ängste der Menschen, weil diese sonst über kurz oder lang die Demokratie zerstören werden. Daher müssen wir den Sozialstaat verteidigen und ihn ausbauen. Leider ist die Sozialdemokratie in diesen Fragen recht leise geworden. In Zeiten, wo es darum gehen soll, eine breite Unterstützung zu finden scheint sie wie gelähmt zu sein. Wie war das doch noch, vor etwas mehr als einem Jahrzehnt, mit dem Sozialstaatsvolksbegehren? Eine breite Bewegung weit über die Sozialdemokratie hinaus brachte den Sozialstaat in das Zentrum der politischen Debatte. Ich erinnere mich noch gern an die unzähligen Diskussionen. Und auch daran, dass die Partei anfänglich recht skeptisch war und zu ihrem Glück erst gezwungen werden musste. Bezeichnend für diese Skepsis allem gegenüber, was man nicht selbst initiiert hat, war denn dann auch das mangelnde Follow-up. Lieber macht man die Dinge allein. Der Sozialstaat wird aber nicht funktionieren, wenn man sich nur darauf beschränkt, ihn gut zu verwalten. Er braucht die Einbindung der Betroffenen. Die Menschen müssen erfahren, dass sie nicht allein gelassen sind, weil im entscheidenden Moment der Mechanismus der Solidarität funktioniert. Wenn sie arbeitslos, wenn sie krank, alt oder gebrechlich sind oder eine andere existenzielle Bedrohung auftritt. Nur wenn die Sozialdemokratie wieder fähig ist, ihr Basisgeschäft zu erledigen, wird es ihr gelingen, den Zerfall des Gemeinwesens, wie wir das gerade erleben, zu stoppen.
Ich bin ein alter Sozi. In diesen Tagen geht es mir nicht gut. Ich leide am Zustand meiner Partei. Ich bin entsetzt über die Vorgänge im Burgenland. Diese stellen eine historische Wende dar. Ein Dammbruch ist passiert. Der Damm ist an einem seiner schwächsten Punkte gebrochen.
Die Freiheitlichen sind zum Joker der österreichischen Innenpolitik geworden. Nichts geht mehr ohne sie. Kein Tag vergeht, wo sich nicht irgendein Sozialdemokrat zur derzeitigen Causa Prima Österreichs- ob man sich mit der FPÖ ins Bett legen soll – äußert. Niemand weiß, was dabei herauskommt.
Die Verwirrung ist allgegenwärtig. Verärgerung und Resignation machen sich breit. Menschen, für die die SPÖ einmal alles war, wenden sich ab oder verlassen die Partei, wie Sonja Ablinger und viele andere. Es tut mir leid, dass wir sie verlieren.
Kreiskys Erbe
Wir haben viele verloren seit 1970. In diesem Jahr, genau am 1.März bin ich in die Partei eingetreten. Es war eine großartige Aufbruchsstimmung. Viele waren Bruno Kreiskys Einladung gefolgt, ein Stück des Weges mit der SPÖ zu gehen. Die SPÖ wurde zu einer erfolgreichen Erneuerungsbewegung, gewann eine Wahl nach der anderen und legte den Grundstein für ein modernes und weltoffenes Österreich.
Noch heute zehren wir vom Erbe Kreiskys. Leider hat sich die SPÖ bei der Verwaltung dieses Erbes aufgezehrt. Die Hälfte der Wählerschaft ging verloren, bei den Mitgliedern war der Rückgang noch deutlicher. Konsum, BAWAG und Co. stehen nicht mehr zur Verfügung.
Und heute würde niemand mehr von der „Roten Reichshälfte“ reden.
Rot und Schwarz zusammen haben es gerade noch geschafft, eine einfache Mehrheit im Nationalrat zu erlangen. Das Problem liegt also nicht nur bei der SPÖ. Immer mehr Menschen verweigern sich den einstigen Großparteien, die gemeinsam die Zweite Republik aufgebaut haben. Die Zweite Republik – schon oft totgesagt – scheint nun wirklich an ihr Ende zu kommen.
Dieser Zusammenbruch ist nicht auf die Angriffskraft der FPÖ zurückzuführen. Der Zusammenbruch gleicht eher einer Implosion. Materialermüdung könnte man es auch nennen.
Christoph Kotanko meinte unlängst treffend: „Strache arbeitet mit wenig Eigenkapital, die Regierung verschafft ihm das Fremdkapital.“
Was ist passiert? Das Erfolgsmodell Zweite Republik war eine Art goldener Gleichgewichtszustand von eigentlich im Widerspruch zueinanderstehenden Partikularinteressen, zwischen den Sozialpartnern, zwischen Schwarz und Rot und zwischen den Ländern. Im Gegensatz zur fragmentierten Ersten Republik brachte das Österreich voran.
Allerdings hatte das seinen Preis. Konflikte wurden nicht mehr öffentlich ausgetragen, sondern hinter verschlossenen Türen geregelt. Die Folge waren ein strukturelles Demokratiedefizit, eine unterentwickelte Streitkultur mit häufig infantilen Zügen und eine entpolitisierte Medienlandschaft.
Jahrzehntelang erstickte die stolz zur Schau getragene Selbstgefälligkeit jeden Versuch, das System zu verändern.
Es mangelte keineswegs an der Erkenntnis, dass sich etwas ändern müsse. Aber alle Versuche scheiterten an Partikularinteressen. Besonders die Länder erwiesen sich als Bremsfaktor. Sie gerieren sich mitunter als wären sie unabhängige Staaten. Und niemand hindert sie, wie im Falle Kärntens, das einen finanziellen Megagau, an dem wir noch lange leiden werden, herbeiführte.
Das System der Sozialpartnerschaft deckt immer weniger ab, da vieles mittlerweile außerhalb der organisierten Bereiche geschieht. Und die beiden Ex-Großparteien befinden sich in einer existenziellen Krise.
Der Zerfall der Zweiten Republik ist aber auch auf externe Faktoren zurückzuführen. Der goldene Gleichgewichtszustand funktionierte nur unter Bedingungen eines weitgehend geschlossenen Systems. Spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist es mit der Ruhe vorbei. Zudem begannen die Kräfte der Globalisierung, der wir im Übrigen unseren, immer noch bemerkenswerten Wohlstand verdanken, ihre Wirkung zu entfalten.
Ein einziges Mal reagierten die Eliten richtig, als sie mit viel Propagandaaufwand den EU-Beitritt vorantrieben. Allerdings haben sie sich nie wirklich mit der neuen Situation angefreundet und die vielen neu entstandenen Chancen wirklich genutzt. Dabei sein und mitnörgeln reicht nicht aus, um die Bevölkerung zu überzeugen.
Die nationalen Probleme mit dem Versagen der EU zu erklären ist eine fatale Sackgasse.
Politik der Schuldzuweisung
Diese über jede Selbstkritik erhabene Politik hat dazu beigetragen, dass wir uns zum Opfer einer bedrohlichen Außenwelt stilisieren konnten. Immer mehr Österreicher leben in einer Parallelwelt, in der grundsätzlich nur die Anderen schuld sind. Ursache ist die Unfähigkeit der Eliten, Probleme zu erklären und die Menschen an deren Lösung zu beteiligen. Vor allem aber, dass vieles gar nicht angesprochen wird, wie die steigende Armut oder immer mehr um sich greifende Zukunftsängste der Menschen. Jetzt rächt sich, dass die Zweite Republik eine demokratiepolitische Wüste war und ein politischer Diskurs unabhängig von tagespolitischem Hickhack kaum existierte.
In einem solchen Vakuum haben es jene leicht, die einfache Erklärungen anbieten und Schuldige benennen. Schon lange spielt die FPÖ auf diesem Klavier. Seit dem Innsbrucker Parteitag ist sie zu einer rechtspopulistischen Partei mutiert, die erfolgreich die Unzufriedenen um sich sammeln konnte. Zentrales Element dieser Strategie war wie schon in den 30er Jahren die Idee der Volksgemeinschaft. Wir und die anderen: „Daham statt Islam“, „Österreich zuerst“ usw. bedienen dasselbe Sujet.
Diese Strategie funktioniert dann besonders gut, wenn die Realität ausgeblendet bleibt. Die fremdenfeindlichen Kampagnen der FPÖ verfangen dort besonders gut, wo der Migrantenanteil niedrig ist. Also je mehr die Menschen miteinander zu tun haben, umso geringer die Wahrscheinlichkeit der Schuldzuweisung. Die Menschen dürfen also nicht wissen, wie es wirklich ist. Die Realität wird zurechtgebogen und zurechtgelogen.
Die FPÖ ist in Migrationsfragen nicht konstruktiv. Sie ist konstruktivistisch unterwegs. Es grenzt an Verhetzung, was in sozialen Medien an falschen Zahlen kursiert und bereitwillig von ihren Funktionären verbreitet wird. Immer mehr Menschen halten die Hetze für Realität. Mit I-Phone ausgestattete junge Männer, die mit Lunchpaketen um sich werfen und mehr als ein durchschnittlicher Facharbeiter verdienen, bedrohen brave österreichische Bürger und zwingen ihnen eine fremde Kultur auf. Sie haben es sogar darauf abgesehen, uns daran zu hindern, mit unseren Kindern Nikolaus zu feiern.
So oder so ähnlich kann man das landauf und landab hören. Und dass es nur einen gäbe, der es den unfähigen „Weicheiern“, diesen gutgläubigen „Gutmenschen“ zeigen kann, den Anführer der sozialen Heimatpartei.
Je schwächer die ehemaligen Großparteien werden und je stärker die selbst ernannten Retter aus tatsächlicher und herbeigeredeter Not, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass dies zu Koalitionen mit ihnen führt. Das ist der arithmetische Aspekt. Schwer vom Tisch zu wischen.
Dann gibt es den populistischen Aspekt, man könnte es auch das einfältige Kalkül nennen. Wenn die Rechtspopulisten immer mehr Zuspruch finden, dann könnte man doch versuchen davon zu profitieren. In dem man diesen Regierungsverantwortung überträgt und auf diese Weise das Frust-Potenzial abarbeitet. Durch die Regierungsbeteiligung würden sie entzaubert und gleichzeitig würde man selbst an Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Ein fataler Irrtum. Das ist die Lehre aus den verlorenen Jahren von Schwarz-Blau.
Deshalb war Hans Niessls vorsätzlich herbeigeführte Koalition ein schwerer Fehler. Er bedeutet einen Wendepunkt. Ab nun sitzt die FPÖ immer mit am Tisch, kann ihre Bedingungen stellen und die beiden ehemaligen Großparteien vor sich hertreiben. Absurde Manöver, wie jenes in der Steiermark sind die Folge. Das letzte, was Schwarz und Rot noch an Gemeinsamkeit verblieben ist, wird beim Ringen, wer als Zweiter hinter der FPÖ landen wird, verloren gehen. Beide werden in infantiler Weise übereinander herfallen. Und lachen wird der Dritte, der sich historisch immer als dritte Kraft verstand und dem die Dritte Republik spätestens seit Jörg Haider ein Anliegen war.
Die Flucht in Rot-Blau, mit der manche sozialdemokratische Funktionäre liebäugeln, bedeutet den Schritt in eine andere Republik. In eine Republik, die sich vorrangig selbst genügt und wohl auch autoritärer konstruiert sein wird. Eine derartige Einschränkung von Weltoffenheit und individueller Freiheit fördert keineswegs den sozialen Zusammenhalt. Es ist ein großes Missverständnis zu glauben, es gäbe in der Sozialpolitik Schnittmengen zwischen Rot und Blau. Das kann nur jemand behaupten, der von Sozialpolitik und den Nöten der Menschen keine Ahnung hat.
Die Republik, in die wir hineinzuschlittern drohen, stellt keinen Fortschritt dar. Sie wird uns zurückwerfen und isolieren. Ob wir schon die Koffer packen sollen, wie das Christian Rainer im Profil meint, das bezweifle ich. Vor allem ist es keine Lösung. Und auch nicht, darauf zu hoffen, dass es den anderen Parteien schlechter als der Sozialdemokratie geht.
Angesichts einer derartigen Situation hat man es als Sozialdemokrat nicht leicht. Ich weiß gar nicht, wie lang das schon her ist, dass ich jemanden getroffen habe, der (die) eine positive Perspektive für die Sozialdemokratie gesehen hat. Alles scheint im Niedergang. Seit einiger Zeit habe ich Jura Soyfers Roman „So starb eine Partei“ am Nachtkästchen liegen. Die Parallelen zu den 30er Jahren sind frappant.
Aber ist das Ende wirklich unausweichlich. Ja, wenn wir so weiter tun wie bisher.
Nein, wenn wir beginnen, die Blockaden der letzten 70 Jahre zu überwinden. Das Unausweichliche vermeiden, heißt eingefahrene politische Rituale aufbrechen, Parteigrenzen überwinden und sachliche Koalitionen bilden. Heißt die Interessen und Nöte der Menschen, auch der Unorganisierten wahrnehmen. Vor allem müssen wir bereit sein, unangenehme Probleme anzusprechen und Lösungen aufzuzeigen. Ganz wichtig der Mut, sich vom Mainstream abzusetzen, ganz besonders in der Wirtschaftspolitik.
Bruno Kreisky hatte diese Fähigkeit. In dem er seine Partei führte, gab er dem Land eine Richtung vor. Seine staatsmännische Leistung bestand darin, für Ideen und Projekte zu werben und die Menschen daran zu beteiligen. Man konnte ihm gleichsam beim Nachdenken folgen.
Die Menschen wollen Veränderungen. Aber sie wollen dabei ernst genommen werden und sie wollen mittun. Gute Politik ist die beste Voraussetzung der rechtspopulistischen Antipolitik Einhalt zu gebieten.
Noch ist es nicht zu spät. Schon gar nicht für die Sozialdemokratie.
Gestern war ein wunderschöner Tag. Endlich einmal im Garten. Familie und gute Laune. Bis die Hochrechnungen aus der Steiermark auftauchten.
Ich erinnere mich an einen ebensolchen Tag im Garten. Ein Septembernachmittag. Die Kinder waren noch klein. Die Nachrichten kamen noch nicht aus dem I-Phone, sondern ganz klassisch aus dem Radio. Immer zur vollen Stunde. Jörg Haider hatte sich beim Sonderparteitag in Innsbruck an die Spitze der FPÖ geputscht.
Fast dreißig Jahre ist das her. Damals wurde der Geist der Verdrehung aus der Flasche gelassen. Und es ist nie wieder gelungen, ihn einzufangen. Mein ganzes aktives politisches Leben nicht. Meine Kinder sind damit aufgewachsen. Mit dem frustrierenden Erlebnis, das man Erfolg damit haben kann, wenn man die Dinge vorsätzlich verdreht und alles Fremde und Andersartige heruntermacht.
Österreich, ein großartiges und traditionell weltoffenes Land ist zum Experimentierfeld des Rechtspopulismus geworden. Ist quasi in einem „immerwährenden österreichischen Albtraum“ gefangen.
Es gab einige Momente, wo ich den Eindruck hatte, nun wäre der Spuk vorbei. Nach dem Parteitag von Knittelfeld und der darauf folgenden Niederlage der FPÖ, nach der Abspaltung des BZÖ, nach dem Tod Jörg Haiders, nach Bekanntwerden des größten Kriminalfalls der 2.Republik rund um die Hypo Alpe Adria oder mit dem Auftauchen Frank Stronachs.
Aber es war wie bei Krake Hydra. Kaum war ein Kopf abgeschlagen wuchs ein anderer nach. Deswegen habe ich es aufgegeben, auf das Ende des Albtraums zu hoffen, wenn einer dieser regelmäßig wiederkehrenden Momente auftaucht.
Entlarvung der Verdrehungspolitik
Es gab drei Hauptstrategien der Eindämmung des Rechtspopulismus. Alle erwiesen sich als ungenügend. Weder funktionierte es, sich relaxt zurückzulehnen und das Problem totzuschweigen in der Hoffnung, das Ganze werde sich von selbst erledigen. Noch klappte der Versuch der Hereinnahme in die Regierungsverantwortung. An den Folgen wird noch unsere Enkelgeneration leiden. Besonders fatal erwies sich die Strategie, sich bestimmte Elemente des Rechtspopulismus, anzueignen, in der Hoffnung diesem so das Wasser abzugraben.
Das Gegenteil war der Fall, so wie jetzt wieder in der Steiermark und im Burgenland. Weil das ganze unreflektierte Gerede von Integrationsunwilligkeit und Bedrohung der Sicherheit lediglich die Akzeptanz der rechtspopulistischen Verdrehungen verstärkte. Öl ins Feuer gießen nennt man so etwas.
Das Wahlergebnis dieses Sonntags markiert eine historische Zäsur. So wie 1986 der Innsbrucker Parteitag. Man mag einwenden, es handle sich bloß um einen kontinuierlich wiederkehrenden Moment des österreichischen Albtraums. Wir müssten uns halt irgendwie daran gewöhnen. Am Ende würde sich ja doch alles einrenken und nichts Schlimmes passieren.
Diesmal liegen die Dinge aber anders. Europa war noch nie so instabil, die Zentrifugalkräfte setzen dem europäischen Projekt immer mehr zu. Der Geist des Rechtspopulismus hat sich überall breitgemacht. Teilweise in bedrohlichem Ausmaß, wenn wir etwa an Ungarn denken.
Nicht zuletzt war die Botschaft der steirischen FPÖ, in einem bisher nicht bekanntem Maß, radikal und hetzerisch.
Die Menschen haben diesmal sehr wohl gewusst, was sie wählen. Das lässt sich nicht mehr einzig und allein als Protestwahl erklären. Es waren die Inhalte, die zu diesem Ergebnis geführt haben.
Wir müssen endlich aufwachen und beginnen, den Kampf mit der Hydra zu führen.
Natürlich gibt es regionale Ursachen, die regional angegangen werden müssen. Mir geht es hier um die österreichische und darüber hinaus die europäische Perspektive.
Das benötigt Zeit und Geduld. Was sich über Jahrzehnte verfestigt hat, das lässt sich nicht mit einem einzigen Kraftakt beseitigen.
Parallelen zu den 30er Jahren
Und es wird auch nicht reichen, das Phänomen nur auf der symbolischen Ebene des Antifaschismus zu bekämpfen. Vieles am modernen Rechtspopulismus verzichtet vordergründig auf historische Fundierung. Geschichte wiederholt sich eben nicht als Kopie des Vergangenen.
Wir müssen uns allerdings der historischen Konstellation bewusst werden. Diese ähnelt sehr wohl jener der 1930er Jahre. Eine falsche als alternativlos definierte Austeritätspolitik, führt zu sozialen Verwerfungen. Immer mehr Menschen haben das berechtigte Gefühl, dass die Politik sich nicht um sie kümmert. Neidgefühle werden geschürt und Sündenböcke definiert.
Auf einer solchen Basis entsteht gleichsam eine neue politische Tagesordnung. Diese hat zwar nicht mehr viel mit der eigentlichen Realität zu tun. Die Forderungen der rechtspopulistischen Parteien beziehen sich denn dann auch nur auf diese konstruierte Realität. Ein interessantes Phänomen in diesem Zusammenhang ist, dass Fremdenhass dort am größten ist, wo keine Fremden sind und gefühlte Unsicherheit sich vor allem in Gegenden mit niedrigen Kriminalitätsraten breitmacht. Auch am gestrigen Wahlsonntag ließen sich sowohl in der Steiermark als auch im Burgenland solche Phänomene beobachten.
Hier gilt es anzusetzen. Am eigentlichen Kern des Problems, dass der Rechtspopulismus unter den beschriebenen Gegebenheiten eine systematische Verdrehungspolitik betreibt. Die Entlarvung dieser Verdrehungspolitik ist daher die wichtigste Aufgabe.
Allerdings dürfen wir die Menschen mit der richtigen Erkenntnis der Probleme nicht allein lassen. Politik bedeutet, über unterschiedliche Lösungsansätze entscheiden zu können. Rechtspopulisten sind im Regelfall nicht an konstruktiven Lösungen interessiert. Ihre Welt ist eine konstruierte Welt.
Auch der für den fatalen Austeritätskurs verantwortliche Neoliberalismus tut sich damit schwer. Sein Dogma der Alternativlosigkeit beruht auf einer blinden, fast religiösen Marktgläubigkeit.
Von beidem hatten wir zu viel in Österreich und in Europa.
Eine für die Menschen attraktive Politik muss in der Lage sein, Angebote für die Lösung der realen Probleme zu formulieren. Sie muss wertschätzend und plausibel sein. Wenn ich (vermeintliche oder tatsächliche) Opfer bringen soll und gleichzeitig den Verlust meines Arbeitsplatzes befürchten muss, dann werde ich mit Recht an der Politik verzweifeln.
Ein dritter wesentlicher Punkt besteht darin, dass Menschen an der Politik beteiligt sein wollen. Niemand will, dass über ihren/seinen Kopf hinweg entschieden wird. Die meisten Menschen wollen gefragt werden und sie wollen beteiligt sein. Diesen Zusammenhang hat die „Reformkoalition“ in der Steiermark nicht verstanden. Das ist einer der Gründe, warum das Verdikt der Wählerinnen und Wähler so deutlich ausgefallen ist.
Dem immer stärker werdenden Rechtspopulismus wird man nur dann wirklich Herr werden, wenn man ihm die Maske vom Gesicht reißt, und eine an den wirklichen Problemen der Menschen ansetzende Politik betreibt, an der sich die Menschen auch beteiligen können und die daher dann auch ihre Politik ist.
In diese Richtung müssen wir gehen. Leicht gesagt. Aber eigentlich wissen wir das ja eh alle. Angehen müssten wir es halt. Viel Zeit ist nicht mehr.
Genau vor einem Jahr, da war ich überglücklich. Ein dreimonatiger Wahlkampf war zu Ende gegangen. Tag für Tag war ich unterwegs gewesen. Tausende Menschen hatten mir ihre Sorgen anvertraut, noch mehr – mir zugehört. Hunderte unterstützten mich freiwillig in der „Pro Joe“-Bewegung. Wesentliches Erfolgskriterium war eine voll motivierte Parteibasis. Geld hatten wir fast keines. Eher No-Budget als Low-Budget.
Am Ende waren es mehr Vorzugsstimmen, als wir Euros zur Verfügung hatten. 28.328, davon fast 25.000 in Oberösterreich.
Ein solches Ergebnis verpflichtet. Vor allem zu inhaltlicher Arbeit. Ich hatte ja im Wahlkampf immer betont, wie viel man durch Sacharbeit im Europaparlament erreichen kann. Ich versuchte, mich daher, soweit möglich von den üblichen Machtspielen fernzuhalten. Einerseits wollte ich meine bisherige Arbeit im Innenausschuss und im Binnenmarktausschuss fortsetzen, weil mir noch vieles unerledigt schien.
Andrerseits wollte ich auch stärkere politische Inhalte setzen. Ich war daher sehr erfreut, als ich Mitglied des Menschenrechtsausschusses wurde und mich die Fraktion zum Menschenrechtssprecher machte. In dieser Funktion bin ich für die dringlichen Anfragen des Parlaments zu Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Ich mache das sehr gerne, weil ich etwas bewirken kann. Der Druck Europas hilft. Es ist immer wieder ein befriedigendes Erlebnis, wenn wegen unseres Druckes Menschen freigelassen werden oder Regierungen von menschenrechtswidrigen Praktiken ablassen. Besonders aktiv sind wir im Mittleren Osten. Ich war hauptverantwortlich für die klare und eindeutige Kritik des Europaparlaments an Saudi Arabien und habe mich in vielfältiger Weise für die verfolgten Jesiden und Christen in der Region eingesetzt.
Lösung des Flüchtlingsproblems
Ich habe die Region auch bereist, war im Nordirak, im Iran und im Libanon und die Probleme der Flüchtlinge und Vertriebenen aus eigener Anschauung kennengelernt. Hier liegt der Schlüssel zur Lösung des Flüchtlingsproblems.
Wenn es uns nicht gelingt, die Lage in der Region zu stabilisieren, dann werden wir auch nicht in der Lage sein, das Migrationsproblem zu lösen. Dazu braucht man Offenheit und Vernunft, Geduld und die Bereitschaft zu pragmatischen Lösungen. Schuldzuweisungen und Hetze lösen das Problem mit Sicherheit nicht. Sie schaffen noch mehr Unsicherheit.
Im Innenausschuss beschäftigen wir uns permanent mit dieser Entwicklung. Das Parlament war maßgeblich daran beteiligt, dass es zu einem Stimmungsumschwung auf europäischer Ebene gekommen ist. Weg vom ungerechten, nicht-funktionierenden Dublin System hin zu einem gerechten Verteilungsschlüssel und zu humanitären Einreisekorridoren. Es ist noch viel zu tun, damit aus diesen neuen Ideen auch eine neue Realität wird. Aber es darf nicht sein, dass jährlich tausende Menschen, beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren ertrinken.
Genauso wenig darf es sein, dass wir im Internet auf Schritt und Tritt überwacht werden und Firmen mit unseren Daten Geschäfte machen, ohne dass wir ihnen unsere Einwilligung dazugegeben haben. Sicherheit gibt es nur dann, wenn die Menschen auch die Gewissheit haben können, dass ihre individuelle Freiheit respektiert wird. Meine gegenwärtigen Berichte, wie die Verordnung zu Europol, der Bericht zu Technologie und Menschenrechte, sowie die Richtlinie zur Erdbeobachtung durch Satelliten haben alle damit zu tun. Die Weiterarbeit am Datenschutzpaket hat für mich oberste Priorität. Unser Leben ist weitgehend digital bestimmt. Auch wenn das alles für manchen konservativen Politiker, wie den deutschen Kommissar Oettinger offensichtlich noch immer Neuland ist.
Gemeinsam mit Abgeordneten der Europäischen Volkspartei, den Piraten und den Liberalen habe ich eine parteiübergreifende Intergroup „Digitale Agenda“ gegründet, der mehr als 70 Abgeordnete angehören. Unsere monatlichen Veranstaltungen finden großen Zuspruch, weil wir industrieunabhängig agieren und damit das wichtigste Korrektiv zum etablierten Politikbetrieb darstellen. Die Sicherung der Netzneutralität ist eines unserer wesentlichen Anliegen.
Europa- anstatt Konzernpolitik
Sachorientierte, parteiübergreifende Zusammenarbeit ist im Europaparlament der Regelfall. Argumente zählen mehr als Direktiven von oben. Und es ist auch gut so, wenn nicht immer alle der gleichen Meinung sind. Mit manchen meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Intergroup habe ich zum Beispiel, was TTIP betrifft große Meinungsverschiedenheiten.
Für mich bedeutet der Versuch der Europäischen Kommission TTIP, CETA & Co. durchzuboxen, den lange vorbereiteten Versuch die Politik zu entmachten. Eine Entmachtung der Politik – für die diese leider häufig selbst die Begründung liefert – hinterlässt keineswegs ein Vakuum. Vielmehr schafft sie Raum für demokratisch nicht legitimierte Interessendurchsetzung. Wenn es keine Politik gibt, dann schaffen die Konzerne an.
Das müsste eigentlich leicht zu durchschauen sein. Ist es aber offensichtlich nicht.
Deshalb bin ich gegen die sogenannten Investorschutzklauseln (ISDS) und auch gegen eine automatische (außerparlamentarische) regulatorische Kompetenz, wie sie durch derartige Handelsabkommen geschaffen wird.
Hier gilt es den Anfängen zu wehren. Ich bin absolut kein Fan von zu viel Regulierung, aber mitunter gleichen manche gut gemeinte Versuche der Deregulierung dem Versuch das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Mit großer Vorsicht sind daher die Versuche der Kommission unter dem Titel „Bessere Regulierung“ oder REFIT (Regulatory Fitness and Performance) zu beurteilen. Wie sagte doch unlängst der Präsident des DGB, Reiner Hoffmann dazu.
„Hinter dem biedermännisch daherkommenden Programm zum Abbau von Bürokratie verbirgt sich ein groß angelegtes Deregulierungs-Programm zum Abbau von Mindeststandards im Arbeitsrecht, in der Sozial- und Umweltpolitik sowie im Verbraucherschutz.“
Die nächsten Jahre werden diesbezüglich entscheidend. Wenn wir nicht aufpassen, dann wird hier das größte Entpolitisierungsprogramm der Geschichte abgezogen. Dann entscheiden am Ende nicht gewählte, „unabhängige“ „Experten“ darüber, worüber Parlamente überhaupt noch zu entscheiden haben. Wie im gegenwärtigen Vorschlag der Kommission zur Etablierung eines Kontrollrates (Scrutiny Board).
Sozialdemokratie muss sich beweisen
Ich werde auf jeden Fall genau darauf achten, dass bei dem durchaus richtigen Versuch des Bürokratieabbaus nicht übers Ziel hinaus geschossen wird. Ich möchte nicht, dass wir genau dort landen, wo uns der Urvater des Neoliberalismus Friedrich Hayek haben wollte, in einer Welt in der nur mehr Wirtschaftsinteressen dominieren.
Ich kann mir nicht helfen dieser geplante Kontrollrat erinnert mich fatal an Hayeks Weisenrat, der sein ganzes antidemokratisches Sentiment zum Ausdruck bringt.
Und ich werde auch das Gefühl nicht los, dass Europa sich gegenwärtig anschickt, sich vollends dem Neoliberalismus zu verschreiben.
Jetzt, wo es eigentlich jedem schimmern müsste, dass die neoliberale Wende gescheitert ist, weil sie Europa in große wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht und bislang nicht gekannte soziale Verwerfungen hervorgerufen hat. Diese verfehlte Politik ist für den steigenden Bedeutungsverlust Europas und vor allem für den immer bedrohlicher anwachsenden politischen Extremismus verantwortlich.
Das alles ist absurd. Und eigentlich wäre jetzt die Zeit der Sozialdemokratie gekommen. Doch davon sind wir meilenweit entfernt. Überall verliert sie an Bedeutung, nicht nur wie jüngst in Großbritannien. In Polen etwa erreichte die sozialdemokratische Kandidatin bei der Präsidentschaftswahl nicht einmal 5% usw. usf.
In den nächsten vier Jahren – so viel Zeit steht uns noch zur Verfügung – geht es vor allem darum, sich aktiv an der Rekonstruktion der europäischen Linken zu beteiligen. Nur wenn dies gelingt, hat auch Europa eine Zukunft. Das Europäische Parlament ist genau der richtige Ort solches zu versuchen. Deshalb haben mich auch die Menschen in meinem Wahlkreis nach Brüssel geschickt.
Ilham Heydar Aliyev, seit 2003 Staatspräsident Aserbaidschans (als direkter Nachfolger seines Vaters) ist ein Vertreter, jenes in der letzten Zeit immer häufiger auftretenden Typus autoritärer Politiker, deren primäres Ziel, die Optimierung privaten Vermögens ist. Putin, Orbán, Erdogan oder Gruevski folgen mehr oder wenig direkt diesem Muster.
Kleptokratie nennt man solche autoritären Systeme, wo es nicht mehr primär um Ideologie, wie bei den autoritären Potentaten des vorigen Jahrhunderts, wie Franco, Pinochet & Co geht. Ideologie ist nur dann wichtig, wenn dies der Machterhaltung dienlich ist. Ebenso geschmeidig, geradezu pragmatisch ist der Umgang mit demokratischen Institutionen und Verfahren. Solange sie nicht hinderlich sind, bedient man sich ihrer. Nicht zuletzt deswegen, um vom wahren Charakter der Herrschaftsausübung abzulenken.
Prestigebauten für sechs Milliarden Dollar
Ein besonderes Faible zeichnet autoritäre Politiker aber samt und sonders aus: die Vorliebe für symbolische Großprojekte. So etwas sichert die Zuneigung der heimischen Bevölkerung und sorgt für internationale Anerkennung. Nichts ist für autoritäre Potentaten wichtiger.
Aliyev hat 2012 ein ganz großes Ding an Land gezogen. Sein Land wird im Juni 2015, also in wenigen Wochen, die ersten „European Olympic Games“ veranstalten. Aserbaidschan war der einzige Bewerber. Bei der geheimen Wahl stimmten mehr als ein Dutzend Länder dagegen. So etwas schert einen Potentaten wenig, weiß er doch, dass er sich fast alles kaufen kann.
Mehr als sechs Milliarden Dollar gibt Aliyev, der auch Präsident des Nationalen Olympischen Komitees ist, für die Prestigebauten aus. Zudem übernimmt er die Anreise- und Aufenthaltskosten der teilnehmenden Sportlerinnen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb das Nationale Olympische Komitee schweigsam ist, wenn es auf die systematischen Menschenrechtsverletzungen im Land angesprochen wird. Es ist das Schwarze Gold, der Ölreichtum Bakus, der jede Kritik verstummen lässt.
Je näher die Baku-Games kommen, umso rigider tritt das Regime gegen jede Form von Kritik auf. Oppositionelle werden inhaftiert, weil sie den Mund zu weit aufgemacht haben und die Protzsucht des Regimes, Korruption oder miserable Arbeitsbedingungen kritisiert haben. Aliyev will der Welt zeigen, dass ihn alle seine Untertanen lieben und schätzen, weil er ihnen unentwegt Gutes tut. Vor allem will er zeigen, dass Aserbaidschan zu Europa gehört
Ja, Aserbaidschan gehört zu Europa. Es ist Mitglied des Europarates und hat sich dadurch auch verpflichtet, dessen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu befolgen.
Der Menschenrechtskommissar des Europarates Nils Muižnieks ist ständig damit beschäftigt, den systematischen Verletzungen der EMRK nachzugehen. Seine Besuche in Baku bezeichnete er als die schwierigsten seiner Funktionsperiode. Sogar während seiner Präsidentschaft im Europarat habe das Land – ohne sich zu genieren – die Menschenrechte abgebaut.
Europa-Mitgliedschaft darf nicht käuflich sein
Die Liste der Fälle ist lang und das Regime ist ziemlich dreist bei der Begründung für die Verfolgung von politischen Gegnern.
Intigam Aliyev, Emin Huseynov und Anar Mammadli oder Rasul Jafarov sind bekannte Fälle. Sie wurden unter fadenscheinigen Vorwänden in Untersuchungshaft genommen. Ihre „Verbrechen“ bestanden darin, Verletzungen der EMRK aufgezeigt zu haben. Besonders negativ dürften die Behörden Aserbaidschans vermerkt haben, dass sie dies in Gremien des Europarates taten.
Besonders tragisch ist die Situation des Ehepaars Leyla und Arif Yunus. Ihren Fall kenne ich, weil Leyla für den Sacharow Preis des Europäischen Parlaments nominiert war. Seit vielen Jahren kämpfen sie für Presse- und Meinungsfreiheit, gegen Korruption und für die Aussöhnung mit dem Nachbarstaat Armenien.
In diesem Zusammenhang habe ich auch deren im holländischen Exil lebende Tochter Dinara Yunus kennengelernt. Ich mag sie. Hin und wieder stelle ich mir vor, dass auch meine Tochter einmal so für mich kämpfen wird, falls Leute wie ich – was glücklicherweise bei uns (noch) unvorstellbar ist – im Gefängnis landen.
Wo es geht, unterstütze ich ihren unentwegten Kampf für die Freilassung ihrer Eltern. Sie ist regelmäßig bei uns im Europaparlament zu Gast und sie verdient es, dass wir sie in Zukunft viel lauter und weit mutiger unterstützen. Ihre Mutter schwebt in akuter Lebensgefahr. Sie leidet an Diabetes, Hepatitis C und Nierendysfunktion.
Schweigen ist nicht Gold
Leider haben verschiedene Versuche stiller Diplomatie, an denen auch ich beteiligt war nichts bewirkt. Die aserbaidschanische Seite ist uneinsichtig. Wohl bestärkt im Glauben, dass sie sich alles – auch das Stillschweigen Europas, dem man so gerne angehören möchte – erkaufen kann.
Das dürfen wir nicht hinnehmen. Weil das nur weitere Autokraten auf den Plan rufen wird und weil es nicht sein kann, dass sich ein Land seine europäische Identität durch Brot und Spiele auf dem Rücken wahrhaftiger und mutiger Menschen erkauft.
Menschenrechte sind universell und zumindest in diesem Fall stimmt es nicht, dass Schweigen Gold ist.
Deshalb müssen wir reden, und wenn es sein muss – und das ist momentan ohne Zweifel der Fall – dann müssen wir fordern, diese Spiele zu boykottieren. Auch wenn dies den offiziellen Sponsoren Procter & Gamble, Tissot, Coca-Cola, McDonald’s, Motorola, Nestlé, Red Bull und BP nicht gefallen wird.
Manche Katastrophen ereignen sich nicht abrupt. Sie bereiten sich langsam auf. Bei entsprechender Bereitschaft ist das sichtbar. Man hätte es im Nachhinein also wissen können.
Wie zum Beispiel im Mittleren Osten. Nicht schon wieder werden jetzt viele einwenden. Auch mir geht es hin und wieder so.
Ich wollte diese Woche eigentlich etwas zum Europatag schreiben. Dann kam das britische Wahlergebnis und bestätigt meine Befürchtungen.
Mitten im Prozess des Überlegens dann hintereinander zwei Tweeds, die mich aufschreckten. Wahrscheinlich auch deswegen, weil ich letzte Woche im Europaparlament gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung zwei Gäste aus dem Irak eingeladen hatte. Die kurdische Abgeordnete Ala Talabani und der Terrorismusexperte Hisham Al-Hashimi berichteten, bei einer Veranstaltung über die Lage der JesidInnen, auch über die militärische Situation und dass in der nächsten Zeit entscheidende Operationen anstünden. Eine Explosion der Flüchtlingszahlen wäre zu erwarten.
Dieser Tweed schockierte mich:
Auf dem Hintergrund einer sich immer mehr zuspitzenden Situation ist es unerträglich zu erfahren, dass für die bis zu 3,4 Millionen Flüchtlinge im Irak, in der offiziellen Terminologie IDPs (Internally Displaced Persons) genannt, lediglich acht Prozent der benötigten Hilfe vorhanden ist. Die Lebensmittelvorräte gehen mit Juni zu Ende, es kommt zu Kürzungen in der Lebensmittelversorgung. Gehälter müssen gekürzt werden, was sich besonders dramatisch in der medizinischen Versorgung auswirkt und es kann vor allem die dringend notwendige sanitäre Ausstattung der Flüchtlingslager nicht mehr weiter ausgebaut werden.
Ich erinnere mich noch genau an meinen Besuch im Flüchtlingslager Khanke, als mir die Menschen erklärten, sie wären gar nicht unglücklich über die klirrende Kälte. Da wären sie relativ sicher vor der Ausbreitung ansteckender Krankheiten, wie Cholera etc.
Deshalb alarmierte mich die Nachricht über den Ausbruch von „scabies“, auf Deutsch Krätzmilbe, in einem kurdischen Flüchtlingslager. Vorbote einer Entwicklung, vor der alle gewarnt hatten. Eine Entwicklung, die je wärmer die Tage werden umso wahrscheinlicher wird.
Wir dürfen nicht zusehen, was sich da im Mittleren Osten abspielt.
Eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes kündigt sich an. Vor allem im Irak, und überall dort, wo Millionen Flüchtlinge und Vertriebene Zuflucht gefunden haben, im Libanon in Jordanien, in der Türkei oder in Ägypten.
Menschen, die rechtlos sind, unzureichend ernährt und mit fürchterlichen hygienischen Bedingungen zu kämpfen haben. Menschen, die nicht wissen, was sie den ganzen Tag tun sollen, weil sie keine Arbeit haben und die Kinder nicht zur Schule gehen können.
Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Wir müssen alles tun, dass die erforderlichen und auch grundsätzlich zugesagten Mittel endlich bereitgestellt werden. Sonst haben wir nicht das Recht, uns als Menschen zu bezeichnen.
Wir müssen es aber auch tun, weil das die einzige Möglichkeit ist, die ISIS-Terroristen zu stoppen. Wenn es darum geht, Bomben abzuwerfen – was in diesem Kontext wahrscheinlich auch notwendig ist, dann fragt niemand von den politisch Verantwortlichen nach den Kosten. Wenn es aber darum geht, dass unschuldig Vertriebene mit einem Rest an Würde überleben sollen – was auf jeden Fall notwendig ist, dann soll plötzlich knallharte Kostenrechnung gelten.
Das ist unmenschlich, dumm und kurzsichtig. Vor allem ist es das beste Argument, das wir den fundamentalistischen Gegnern der westlichen Zivilisation in die Hand geben.
Selten hat mich etwas so aufgewühlt wie mein Besuch im Heiligtum der Jesiden im kurdischen Lalish, heuer im Jänner.
Es schneite und es war grimmig kalt. Normalerweise darf man sich hier nur bloßfüßig bewegen. Das wollte man uns nicht zumuten.
Zeichen einer Flexibilität und Großzügigkeit, wie sie für diese, von ihren Feinden auch als „Teufelsanbeter“ denunzierten Religionsgemeinschaft charakteristisch ist. Bewusst verzichten sie auf Missionierung.
Solch uneigennütziges Verhalten fand freilich in der mehrtausendjährigen Geschichte nicht nur Würdigung. 73 mal waren sie von Ausrottung und Vernichtung bedroht. So auch im Sommer 2014.
Versuch der Ausrottung
Die Daesh-IS Terroristen setzten alles daran, die Jesiden auszurotten. Tausende Ermordete, tausende versklavte Frauen und hunderttausende Flüchtlinge und Vertriebene. Ich traf Augenzeugen der Massaker, entführte Frauen und Mädchen, die sich unter abenteuerlichen Umständen befreien konnten. Ich besuchte Flüchtlingslager und informelle Settlements. Überall das gleiche Bild. Menschen, die alles aufgeben mussten, ihre Lieben und ihr Hab und Gut verloren hatten, nur weil sie nicht in das Primitivschema der Fundamentalisten passten.
Darunter viele Christen. Manche von ihnen sprachen Aramäisch, die Sprache Jesu. Sie waren immer hier. Schon vor dem Islam und schon zu Zeiten, als in Mitteleuropa noch römische und germanische Götter verehrt wurden. Seit jeher war die nordirakische Ninive- Ebene von unterschiedlichen Ethnien und Religionen bevölkert. Trotz ständig wiederkehrender Verfolgungen.
Das Leid, das die Menschen in dieser Gegend – Jesiden, Christen, Shabbak, Schiiten und Sunniten, die sich der salafistischen Beugung des Islam nicht unterwerfen wollen innerhalb eines Jahres ertragen mussten, ist kaum vorstellbar. Ermordung, Entführung, Versklavung, Flucht und Vertreibung.
Vor allem Ungewissheit, ob man jemals wieder zurückkehren kann und was mit jenen ca. 3000 Jesidinnen und Jesiden geschieht, die teilweise seit August in der Gefangenschaft der Terroristen sind.
Mitunter konnten Einzelne flüchten. Ende April war dies einer größeren Gruppe gelungen. Das führte zu Strafmaßnahmen, Männer und Frauen wurden getrennt und ausgesondert.
Neue Massenerschießungen
Seither gibt es widersprechende Meldungen. Gesichert ist, dass 57 Frauen und Mädchen auf Sklavenmärkte verschleppt und dannverkauft wurden und dass es offensichtlich am Freitag zu einer Massenerschießung kam. Nach Angaben des Gouverneurs von Mosul sollen 185 Menschen den Tod gefunden haben. Andere Quellen sprechen von 500. Es ist schwer möglich diese Zahlen zu verifizieren.
Feststeht, dass in diesen Tagen im Nordirak ein weiteres grässliches Kriegsverbrechen geschehen ist. Feststeht auch, dass dies eigentlich die wenigsten interessiert.
Wäre ich im Jänner nicht im Nordirak gewesen, so wären diese Gräueltaten wahrscheinlich auch an mir vorbeigegangen.
Bei meinem Besuch im Heiligtum der Jesiden in Lalish habe ich mir geschworen, alles zu tun, um diesen Menschen zu helfen. Vor allem die Entscheidungsträger zu bewegen nicht wegzuschauen.
Ich habe Memos geschrieben, Kollegen agitiert, habe Resolutionen des Europaparlaments zur Lage von Jesiden und Christen lanciert und ausverhandelt und mich wiederholt in der Fraktion, im Ausschuss und im Plenum zu Wort gemeldet. Und auch wenn ich manchen lästig fallen muss, ich werde weitermachen. Solange bis diese Menschen ein Leben ohne Angst und Furcht führen können und die Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof stehen.
Ich frage mich, über welche Themen wir dieses Wochenende debattiert hätten, wären nicht vor einer Woche mehr als 800 Menschen vor der libyschen Küste untergegangen. Wären es zum Beispiel über mehrere Wochen verteilt einige kleine Boote gewesen. So wie das normalerweise der Fall ist. Kein Sondergipfel hätte stattgefunden und wir hätten uns nicht über Talkshows ärgern müssen. Öffentliche Erregung hätte es so gut wie gar nicht gegeben und die Betroffenheit über die Vorfälle im Mittelmeer wäre um vieles ehrlicher gewesen. Dieses tragische Ereignis aber hat es in die Schlagzeilen geschafft. Schlagzeilen produzieren bekanntlich Politik.
Ob sich dadurch jetzt etwas ändert, oder ob es bloß bei symbolischem Handeln bleibt, das ist noch offen. Letzteres ist sehr wahrscheinlich. Sobald die Erregung vorüber ist, wird man vermutlich wieder zur Tagesordnung übergehen. Nämlich nichts tun und auf das Mittel der Abschreckung setzen.
Zumindest für das p.t. Publikum. Dem konnte man bislang leicht einreden, dass man eh alles Mögliche unternehmen würde, wenn da nicht die verbrecherischen Schlepperbanden wären. „Dreckige Verbrecher“ in der Terminologie von de Maizière. Der deutsche Innenminister hat über Monate hindurch auch behauptet, systematische Rettungsmaßnahmen, wie sie die italienische Marine seit der Tragödie von Lampedusa im Oktober 2013 unternommen hatte, würden einen Pull-Effekt ausüben und noch mehr Flüchtlinge anziehen. Deshalb wurde das Programm „Mare Nostrum“ beendet. An seine Stelle trat das in Umfang und Mission abgespeckte „Triton“. Der behauptete Effekt trat nicht ein. Vielmehr explodierte die Zahl der Hilfesuchenden. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis es zu dieser Katastrophe kam.
Politische Themenverfehlung
Eigentlich müsste dies bei den politisch Verantwortlichen ein Umdenken bewirken. Aber die Staats- und Regierungschefs und ihre Innenminister sind in ihrer Mehrheit nicht einmal zum Nachdenken bereit. Was sie bei ihrer Sondersitzung am Freitag vereinbarten, ist ein eklatanter Beweis für ihre Unfähigkeit die Zukunft konstruktiv zu gestalten. Besonders häufig tritt so etwas bekanntlich dann auf, wenn die Sicht auf das große Ganze durch die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner verstellt ist. Dieser besteht in der intergouvernementalen Europapolitik (also auf Ratsebene) häufig darin, vermeintliche Wahlniederlagen zu vermeiden.
Großbritanniens Vertreter etwa hatte den Auftrag, jede Einigung zu blockieren. Das von der Kommission vorgelegte Zehnpunkteprogramm ist eine perfekte Themenverfehlung. Nur drei Punkte sind hilfreich. Alles andere ist „more oft the same“ und ein Sinnbild der chronischen Unbelehrbarkeit vieler Mitgliedstaaten, wenn es um Zuwanderung geht. Man könnte es auch die Torheit der Regierenden nennen. Notwendig ist vielmehr eine differenzierende (und daher) an den Handlungs-und Gestaltungsmöglichkeiten ansetzende gemeinschaftliche Europapolitik. Das bedeutet in erster Linie, das Ganze im Auge zu behalten. Wieso sollen die an den Außengrenzen situierten Mitgliedstaaten den Großteil der Flüchtlinge aufnehmen, wie das die Dublin- Verordnung vorsieht? Solidarität, Grundprinzip jeder Union, bedeutet doch, allfällige Lasten gleichmäßig und gerecht zu verteilen.
Drei Kategorien von Flüchtlingen
Auch ist zu fragen, wer denn diese Menschen sind, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer auf sich nehmen. Wir sollten uns im Klaren sein, dass manche schlicht und einfach auswandern wollen. Wie das schon immer gewesen ist und wie das auch Millionen von Menschen aus Europa über Jahrhunderte gemacht haben. Das ist daher auch moralisch nicht verwerflich, wie das von Rechtspopulisten immer wieder suggeriert wird. Allerdings brauchen wir Regeln und vor allem legale Möglichkeiten dafür. Solche gibt es aber nicht, was bedeutet, dass viele gezwungen sind gefährliche und illegale Möglichkeiten zu suchen.
Dann gibt es die immer mehr zunehmende Gruppe der Asylsuchenden. Menschen, die aus politischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Gründen nicht mehr in ihrer Heimat bleiben können. Diese sind durch völkerrechtliche Abkommen geschützt. Aber sie können ihr Recht erst dann durchsetzen, wenn sie ihre Gründe an der Grenze zu einem Mitgliedsstaat der EU geltend machen. Hier gilt das Gleiche. Es gibt keine Möglichkeit das zu tun, außer man wählt den Weg übers Mittelmeer oder den illegalen Grenzübertritt.
Schließlich gibt es als Folge der Bürgerkriege in Syrien, im Irak, in Libyen und in vielen Teilen Afrikas Millionen von Vertriebenen, denen die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt ist. Sie vegetieren in Nachbarländern wie dem Libanon, der Türkei oder Jordanien unter nicht vorstellbaren Bedingungen, ohne Arbeit und ohne Schulbildung, schlecht ernährt und medizinisch unterversorgt. Wer kann ihnen verwehren, dass sie einen Platz auf dieser Welt suchen, wo sie ein halbwegs normales Leben führen können. Wer glaubt, diesem demografischen Druck durch die Bekämpfung des Schlepperwesens beikommen zu können, ist realitätsfremd. Das ist nichts anderes als Symptombekämpfung.
Rettung ohne Wenn und Aber
Vielmehr geht es darum, unionsweit Kontingente für einzelne Konfliktzonen festzulegen und im Wege eines Resettlement- Programms die schutzbedürftigen Personen auf die einzelnen Mitgliedsstaaten aufzuteilen. Die völlig überlasteten Nachbarstaaten brauchen großzügige Hilfe seitens der EU. Vor allem brauchen wir nach den unterschiedlichen Flüchtlingskategorien differenzierende Instrumente. So wie das Martin Schulz in seiner beeindruckenden Rede vor den Staats-und Regierungschefs letzten Freitag in Brüssel ausgeführt hat. Für alle Instrumente gilt. Das Zulassungsverfahren muss auch außerhalb Europas eingeleitet werden können (via UNHCR oder diplomatischen Vertretungen) und die Aufnahme und Unterbringung muss von den Mitgliedsstaaten solidarisch umgesetzt werden. Die wichtigste Konsequenz der tragischen Ereignisse muss aber sein, dass Menschen, wenn sie auf See in Gefahr geraten ohne Wenn und Aber gerettet werden. Wie meinte doch Martin Schulz: „Wir müssen die Ursachen der Migration bekämpfen, nicht die Migranten.“ Dazu gehört auch das ehrliche Bemühen die politische und ökonomische Situation zu stabilisieren. So wie das Europa mit dem einstigen Sorgenkind Albanien gelungen ist.
An diesem Wochenende war ich in Albanien, wo ich an einer von Fate Velaj (Künstler und Aktivist) an der Universität Vlora veranstalteten Konferenz über die europäischen Perspektiven Albaniens teilnahm. Mit dabei der Ministerpräsident des Landes Edi Rama und mein Kollege Knut Fleckenstein, der im Europaparlament für den Fortschrittsbericht über die Beitrittsverhandlungen zur EU zuständig ist. Wir diskutierten die sichtbaren Fortschritte, die das Land dabei macht.
Hätte das jemand vor 30 Jahren vorhergesagt, ich hätte ihn für verrückt erklärt. So etwas war jenseits aller Vorstellbarkeit.
Als ich damals im Norden Korfus urlaubte und den deutlich erkennbaren Verlauf der albanischen Küste beobachtete, habe ich keinen einzigen Gedanken darauf verschwendet, mir so etwas vorzustellen. Damals schmerzte mich die Vorstellung, nicht mit den Menschen dort in Kontakt treten zu können.
Der Gedanke, dass sie wohl jeden Abend die Lichter der griechischen Touristenorte sehen würden, ließ mir keine Ruhe. Aber was wog schon die Neugierde von Menschen wie mir, gegenüber der Sehnsucht der Menschen in Albanien, ihrer grausamen Realität entfliehen zu können. Albanien das war so etwas wie Nordkorea. Ein riesiges Gefängnis, in dem der Einzelne nichts zählte und die Menschen totaler Willkür ausgeliefert waren.
Albanien war auf eine seltsame Weise isoliert, wie kaum ein Staat auf der Welt. Ein einziges Gefängnis.
Albanien war „terra incognita“, unzugänglich, ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte. Ganz weit weg, obwohl geografisch nahe. Als einziges Lebenszeichen drang Radio Tirana nach außen. Ob man wollte oder nicht, war man beim Herumsuchen nach Sendern mit den von martialischer Musik angekündigten Attacken des Senders gegenüber revisionistischen und reformistischen Abweichlern konfrontiert.
Diese Zeiten sind längst vorbei. Der Kommunismus ist zusammengebrochen. Heute können die Menschen in Albanien ihr Land, wann immer sie das wollen, verlassen und sie können ihre Entscheidungen treffen. Frei und ohne Bevormundung.
Als damals die lang ersehnte Freiheit plötzlich und ganz unverhofft da war, wussten die Menschen wenig damit anzufangen. Viele wollten ganz schnell reich werden und setzen dafür alles ein. Nun wurden die Ellbogen verwendet, ganz nach dem Motto: „Only the hard come through.“ Und wenn das nichts nutzte, dann griff man zu List und Trickserei. Korruption machte sich breit und erstickte alle Versuche, Rechtsstaatlichkeit nach westlichen Standards zu etablieren. Dem organisierten Verbrechen waren die ersten Ansätze demokratischen Engagements ein Dorn im Auge. Alles lief auf die Etablierung einer Art Kleptokratie hinaus. Die neuen, untereinander verfeindeten Eliten steckten ihr Territorium ab. Wie die Mafia. Zahlen sollten die kleinen Leute, denen man das große Glück versprach. Bezeichnenderweise führte 1997 eine Art Pyramidenspiel zum Beinahekollaps des Landes.
Mehr als die Hälfte der Albaner verloren ihre Ersparnisse. Es kam zum sogenannten „Lotterieaufstand“. Die Waffendepots wurden geplündert.
Albanien stand kurz vor einem Bürgerkrieg. Eine Situation, wie wir sie aus vielen Ländern rund um Europa kennen. Es war drauf und dran zu einem „Failed State“ zu werden.
Die internationale Gemeinschaft wollte das allerdings nicht zulassen, was zu einer langjährigen Präsenz der OSZE im Land führte. Diese Bemühungen, über die man in einzelnen Aspekten sicherlich unterschiedlicher Meinung sein kann, bewahrten das Land vor dem Absturz und sicherten die Zukunftsfähigkeit des Landes. Einen großen Anteil daran hatte Franz Vranitzky, dem es gelang, mit Verhandlungsgeschick und Überredungskunst die Konfliktparteien zu Kompromissen zu drängen. „Soft power at its best.“ Man kann eine Krise auch zerreden.
Vranitzkys Leistung als Moderator dieses Konfliktes ist heute weitgehend vergessen. Ebenso wie die Bilder von den überladenen Flüchtlingsschiffen, die schon vorher, seit etwa 1991 regelmäßig ins nahe Italien aufbrachen. Und die ablehnende Reaktion der Italiener, die mit einem derartigen Zustrom nicht zu Rande kamen und zwischen Hilfsbereitschaft und Repression schwankten. Ein besonders tragischer Zwischenfall ereignet sich im Sommer 1991 auf dem stark havarierten und völlig überfüllten Dampfer Vlora. Mehr als 10.000 Menschen wollten in Bari an Land gehen. Die von einem Christdemokraten geführte italienische Regierung verweigert die Einreise und zwingt sie auf dem seeuntüchtigen Boot auszuharren. Nachdem es zu Selbstmordversuchen und Krawallen kommt, evakuiert die Küstenwache das Schiff und sperrt die Flüchtlinge in ein Fußballstadion. Hier herrschen chaotische Zustände. Die Menschen werden von Hubschraubern überwacht, von denen auch Lebensmittel abgeworfen werden.
Zug um Zug werden die Flüchtlinge dann erkennungsdienstlich erfasst und nach Albanien zurückgeschafft.
Albanischen Schiffen wird künftig das Anlegen in italienischen Häfen verwehrt, was das Entstehen eines neuen lukrativen Geschäftszweiges, dem organisierten Menschenschmuggel zur Folge hat. Statt diesem die Geschäftsgrundlage zu entziehen, wird der europäische Grenzschutz auf -und ausgebaut. Ohne den gewünschten Erfolg. Heute leben mehr als 500.000 Menschen aus Albanien in Italien und stellen einen unverzichtbaren Bestandteil der Wirtschaft dar.
In den letzten Jahren gehen viele der ehemaligen Flüchtlinge wieder zurück in ihre Heimat. Vor allem aus Griechenland.
All das, wovor die damaligen Rechtspopulisten, wie die deutschen Republikaner und ihre Adepten in den etablierten Parteien, gebetsmühlenartig warnten, ist nicht eingetreten. Wir wurden nicht überflutet, oder gar überfremdet. Unsere Wirtschaften sind gewachsen und die gegenwärtige Krise hängt nicht mit überbordender Zuwanderung, sondern mit deregulierten Finanzmärkten zusammen.
Das alles ging mir durch den Kopf, als ich auf der Heimreise aus Albanien von der tragischen Schiffskatastrophe vor der libyschen Küste erfuhr.
Die Dinge scheinen sich offensichtlich zu wiederholen. Allerdings in noch schlimmerer Dimension. Im Gegensatz zu Albanien damals schert sich die internationale Gemeinschaft heute überhaupt nicht um Libyen. Verantwortungslose Ignoranz hat sich breitgemacht. Viele vertrauen darauf, das autoritäre Ägypten würde schon aus nachbarschaftlichem Eigeninteresse zur Stabilisierung beitragen. Also nichts mit der so effizienten, europäischen „Soft Power“, mit professioneller Diplomatie oder dem Druck auf den demokratischen Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen.
Aber nicht nur in Libyen versagt die internationale Gemeinschaft.
Der Zerfall des Irak oder die ausweglose Paralyse Syriens, das in allen Regionen präsente Phänomen Daesh/ISIS – es ist immer dasselbe. Wegschauen, nicht einmischen, keine Rezepte und viel Blabla. Rundum Europa mehr schlecht als recht funktionierende Staaten oder gar „Failed States“.
Kein Wunder, dass die Menschen davon wollen bzw. vielen gar nichts anderes überbleibt. Im Irak, in Syrien, in Libyen und in den daran angrenzenden Staaten, die Flüchtlinge in nicht mehr bewältigbarer Quantität beherbergen. Dazu kommen instabile Staaten mit aussichtsloser Wirtschaftslage und periphere Krisenherde, wie am Horn von Afrika oder im von Boko Haram gepeinigten Westafrika. Vorsichtig geschätzt sind das 20 Millionen potenzielle Flüchtlinge.
Diesen Druck kann man nicht durch noch mehr Grenzsicherung bewältigen. Auch nicht durch eine rigorosere Bekämpfung des Schlepperwesens. Das hat lediglich einen Placeboeffekt für die heimische Öffentlichkeit. Sowie in den Neunzigerjahren in der Albanienkrise.
Eine nachhaltige Lösung gibt es nur, wenn uns eine politische Stabilisierung der Krisenregionen gelingt. Dazu braucht es die Bereitschaft, mit den betroffenen Regionen faire Handelsbeziehungen zu etablieren und den Mut, auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze zu bestehen.
Albanien hat gezeigt, dass dies möglich ist. Ein solcher Prozess ist mühsam und mit Rückschlägen verbunden. Aber er ist alternativlos.
Dieses Osterwochenende wird vielleicht einmal in die Geschichtsbücher eingehen.
Es war am Gründonnerstag, als sich die Nachricht verbreitete der Iran hätte sich mit den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates, der EU und der Bundesrepublik Deutschland geeinigt, den jahrelangen Atomstreit endgültig beizulegen.
Ein Dauerbrenner der internationalen Politik, dessen komplizierte Verästelungen nur mehr ausgesprochenen Spezialisten erschließbar waren, scheint zu erlöschen. Auf dem Verhandlungsweg, und ohne die Anwendung militärischer Gewalt, die über lange Zeit im Raum stand.
Auffallend defensiv die Reaktion der Opponenten, die den Iran unbeirrt auf der Achse des Bösen verorten und zurückhaltend besonnen das Verhalten jener, die sich auf diesen Kompromiss eingelassen. Durchaus einer gewissen Müdigkeit und Erschöpfung geschuldet, aber möglicherweise auch ein Zeichen von Ratlosigkeit und Unsicherheit.
Ob es wirklich im Juni zu einem formellen Abschluss kommen wird, ist nach wie vor offen. Zwar wahrscheinlich, aber keineswegs sicher. Zu viele Stolpersteine liegen herum.
Aber es gibt einen klaren politischen Willen im Verhältnis zum Iran ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die Menschen dort spüren das.
Das war keineswegs immer der Fall. Es ist noch nicht lange her, da schien die Option eines Militärschlages im Bereich des Möglichen. Vor allem Benjamin Nethanjahu wurde nicht müde, diese einzufordern.
Ich erinnere mich noch genau daran, weil es in meiner ersten Rede als Abgeordneter darum ging, durchzusetzen, dass Europa auf derartige militärische Optionen von vornherein verzichten sollte. Gemeinsam mit den Grünen, den Linken und einigen Abweichlern in der EVP konnten wir das auch im Resolutionstext verankern.
Ich habe damals auch die Meinung vertreten, dass Sanktionen kein Allheilmittel wären, vielmehr ginge es darum „sticks and carrots“ einzusetzen.
Diese Position war keineswegs von allen akzeptiert. Und in der Delegation für die Beziehungen mit dem Iran, der ich seit meinem Einzug ins Parlament angehöre, gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen, ob wir überhaupt mit dem Iran reden sollten. Ich habe mich ohne Wenn und Aber dafür ausgesprochen und dabei auf das Beispiel der deutschen Ostpolitik verwiesen. „Wandel durch Annäherung“ hieß das damals unter Willy Brandt.
Immer wieder gab es in unserer Delegation Diskussionen, ob wir einer schon lange ausgesprochenen Einladung des iranischen Parlaments Folge leisten sollten. Eine solche, den Gepflogenheiten entsprechende Reise wurde immer wieder hinausgeschoben und wenn es dann soweit sein sollte, regelmäßig boykottiert. Einmal von der, einmal von der anderen Seite.
Einmal waren wir knapp davor und hatten uns bereits auf den Weg zum Flughafen gemacht. „Trip cancelled“ hieß es lapidar in einer SMS, die mich gerade noch erreichte.
Trotz dieses Rückschlages ließen wir den Gesprächsfaden nicht abreißen. Es gab eine Reihe von vertraulichen Gesprächen, an denen ich maßgeblich beteiligt war. Im Oktober 2013 -also nach der Installierung des neuen Präsidenten Hassan Rouhani- reiste eine Delegation der S&D Fraktion unter Führung von Hannes Swoboda nach Teheran. Das war gleichsam der Eisbrecher. Nach einer Pause von fast sieben Jahren fand dann schließlich im Dezember 2013 der erste offizielle Besuch des Europäischen Parlaments statt.
Über diesen beeindruckenden Besuch, bei dem wir auch mit den beiden Sacharow- Preisträgern Nasrin Soutodeh und Jaafar Panahi zusammentrafen, meinte ich damals:
„Die Menschen im Iran wollen einen Wandel. Sie brauchen unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Kontakt zu halten und die Gesprächsbasis zu erweitern, ist die wichtigste Waffe gegen jene Kräfte, im Inneren und im Ausland, alles daransetzen, dass alles beim Alten bleibt. Diese Kräfte profitieren davon, dass Unruhe herrscht und die Menschen unterdrückt bleiben. Es ist höchste Zeit, dass sich im Iran und in unserem Verhältnis zum Iran etwas ändert. Wir können alle davon nur profitieren.“
Seither war ich einige Male im Iran, hatte häufige Kontakte mit Regierungsvertretern, Oppositionellen und Experten, nicht nur in Teheran, auch in Brüssel und Wien. Ich bin immer mehr zur Überzeugung gekommen, dass eine Entspannung nur von Vorteil sein kann. Dieser Prozess ist nicht einfach. Man braucht einen langen Atem und man muss auch mit Rückschlägen rechnen.
Vor allem muss man diesen Prozess auf gleicher Augenhöhe angehen. Dialogisch und nicht belehrend. Das heißt nicht, kontroverse Themen auszuklammern. Ganz im Gegenteil.
Die iranischen Gesprächspartner schätzen Offenheit und Klarheit, was freilich nicht heißt, dass sie umgekehrt nicht auch für sich das Recht in Anspruch nehmen, bei ihrem Standpunkt zu bleiben.
Beachtet man diese Grundsätze, dann kann man sich möglicherweise auch vorstellen, warum in den letzten Jahrzehnten so vieles falsch gelaufen ist. Historiker werden vielleicht einmal die letzten dreieinhalb Jahrzehnte als die Geschichte der großen Missverständnisse beschreiben.
In der aktuellen Situation sind freilich keine Historiker und keine Ideologen gefragt, schon eher Psychologen oder Diplomaten und Geschäftsleute. Menschen mit dem Blick für Chancen und Möglichkeiten. Vor allem Menschen, die die Zusammenhänge einer globalisierten Ökonomie und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen verstehen wollen.
Wer dazu bereit ist, der wird sich auch aus den Zwängen einer in Jahrzehnten aufgebauten Konfrontationslogik lösen können
und plötzlich die „win-wins“ klar vor Augen haben. Das betrifft alles, was mit Handel, wirtschaftlichen Kooperationen oder Energieversorgung zu tun hat. Die Entwicklung des Tourismus ist ein weiteres Feld von gegenseitigem Interesse, ebenso die Zusammenarbeit im wissenschaftlichen Bereich.
Es ist bemerkenswert, dass die erste Frau, die die Fields- Medaille, den Mathematik Nobelpreis gleichsam, verliehen bekam, aus dem Iran stammt. Der Iran ist ein Land mit einer jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung. Dies ist für einen überalterten Kontinent wie Europa von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
In der gegenwärtigen instabilen Situation der Region gibt es auch gemeinsame Sicherheitsinteressen. Einmal im Kampf gegen Daesh/IS. Der Iran hat deutlich gemacht, dass er zu einer gemeinsamen Anstrengung bereit und auch dazu in der Lage ist. Es wäre wichtig, ihn in eine künftige Sicherheitsarchitektur einzubauen. Auch bei der Lösung des Syrienkonflikts könnte/müsste das Land eine tragende Rolle spielen. Einiges ist in dieser Richtung in Fluss gekommen. Schon jetzt kooperieren der Iran und der Westen in manchen Regionen, wie etwa im Irak.
In anderen Bereichen, wie im Jemen läuft das momentan eher auf eine Konfrontation zu. Das gilt es zu verhindern und das ist nur dann möglich, wenn man auf Kooperation und Einbindung setzt. Wieso sollte gerade jetzt ein jahrhundertealter Gegensatz zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen kriegerisch entschieden werden. Alle die darauf setzen, gefährden die Zukunft vor allem unsere Sicherheit. Ein solcher Flächenbrand, der sich recht schnell aus den Glutnestern in Syrien, im Irak und im Jemen entwickeln könnte, würde zu einer nachhaltigen Bedrohung unserer Zivilisation führen.
Deshalb brauchen wir einen neuen Anfang. Der Iran ist ein wichtiger Baustein dafür. Vielleicht der Wichtigste. Dies ist auch im Interesse der langfristigen Sicherheit Israels. Das klingt vielleicht blauäugig. Sicherlich ist militärische Stärke ein nicht zu unterschätzender Faktor. Aber es braucht eben auch die Bereitschaft der Gegner sich auf einen modus vivendi mit dem Feind einzulassen. Ich habe mir jedenfalls zur Gewohnheit gemacht, bei jedem Gespräch, das ich mit einem iranischen Politiker führe, auf die Notwendigkeit der Anerkennung Israel hinzuweisen.
Der „Response“ ist ermutigend. Natürlich gibt es die Holocaustleugner in Teheran und es gibt auch manche Politiker, wie den früheren Präsidenten Ahmadinejad, die solche Tendenzen fördern, aber im Iran ist kein systematischer Judenhass festzustellen. Es gibt über zwanzig aktive Synagogen und einen gesetzlich garantierten Abgeordneten für die über 30.000 Juden im Land. Man kann einwenden, dass dabei manches möglicherweise Show wäre, aber in vielen arabischen Ländern findet sich nicht einmal Vergleichbares.
Es wäre durchaus sinnvoll, auf diesen Fakten aufzubauen und sie nicht beiseite zu wischen. Genauso wie ich glaube, dass der Iran in der Menschenrechtsdiskussion darauf festzulegen ist, welche internationalen Abkommen er unterzeichnet hat. Von dieser Basis ausgehend, könnte sich ein sinnvoller Dialog entwickeln. Da gibt es sehr viel zu tun. Und der Iran wird sich bald einer differenzierten Kritik stellen müssen. Vor allem erwarten wir, dass die lange Liste der Menschenrechtsfälle angegangen wird. Es wäre ein wichtiges Zeichen, wenn Nasrin Soutodeh und Jaafar Panahi den, ihnen vom Europäischen Parlament verliehenen, Sacharow Preis endlich persönlich in Straßburg in Empfang nehmen könnten.
Nur wer die Menschenrechte respektiert, der kann auf längere Sicht auch zu einem wirklichen Partner werden. Die hohe Zahl der Hinrichtungen ist aus europäischer Sicht nicht hinzunehmen. Und auch die Versicherung, dass es sich dabei zu einem Großteil um Drogenhändler handle, entschuldigt dies nicht. Das Argument iranischer Freunde, auch Saudi Arabien, China, ja sogar die USA würden Hinrichtungen vornehmen, weise ich zurück. Was die Menschenrechte betrifft, darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Das gilt auch für die EU als solche.
Sich für Menschenrechte einzusetzen darf aber nicht heißen, sich in innenpolitische Vorgänge einzumischen. Oft erfordert dieses Postulat eine Gratwanderung, aber wohin sich das Land entwickeln soll, das ist einzig und allein Sache des Iran. Von außen können und dürfen wir keinen Regimewechsel verlangen. So etwas muss von innen kommen. Entscheidend ist, dass sich der Iran an völkerrechtliche Verträge hält und Möglichkeiten der Mitgestaltung und Mitentscheidung auf demokratischer Grundlage vorsieht.
Was mich am meisten überrascht hat, seit ich mich intensiver mit dem Iran beschäftige, ist das relativ hohe Ausmaß an Differenziertheit und Unterschiedlichkeit innerhalb eines freilich sehr engen, von der religiösen Führung vorgegeben Korsetts.
Der Iran ist keine Demokratie, aber es gibt so etwas wie Gewaltenteilung, einen gewissen Pluralismus und eine Regelhaftigkeit des politischen Prozesses. Es ist nicht von vornherein vorhersehbar, wer bei Wahlen als Sieger hervorgeht. Das haben die letzten Präsidentenwahlen gezeigt.
Auch wenn immer wieder von Manipulationen die Rede war, so fehlte es auf jeden Fall nicht am Überraschungsmoment, das eines der wesentlichen Elemente der Demokratie darstellt.
Es gibt Institutionen, die über eine gewisse Legitimität verfügen. Die Regierung muss sich bemühen, den Atom-Deal durch das Parlament zu bringen. Das ist keineswegs eine ausgemachte Sache. Die Hardliner, die im Majls, dem iranischen Parlament eine breite Mehrheit haben, werden wohl am Ende nur deswegen zustimmen, weil sie um ihre Wiederwahl fürchten.
Die Menschen im Iran wollen einen Wandel. Sie wollen nicht, dass es so weiter geht wie bisher. Und sie wissen, dass sie es vorsichtig angehen müssen. Der Schock der gescheiterten grünen Revolution von 2009 sitzt vielen noch im Nacken. Die nächsten Parlamentswahlen im Februar 2016 werden Schicksalswahlen. Viel hängt davon ab, wie transparent und offen sie stattfinden. Wenn dies garantiert ist, dann könnten sie einen weitreichenden Wandel einleiten. Dann könnte der Iran zu einem Modellfall für die islamische Welt werden.
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in der Region, wo es immer mehr „failed states“, oder „stateless actors“, wie den IS , gibt, existiert hier eine Staatlichkeit.
Der Iran ist ein islamisches Land, eine islamische Republik und das sollten wir akzeptieren. Er ist aber auch ein Land mit Potential, das wir im gemeinsamen Interesse nutzen sollten. Es ist nicht gut, einen potentiell bedeutsamen Partner allein zu lassen und ihm die Wertschätzung zu verweigern.
Europa verbindet mit dem Iran eine lange Geschichte der Wertschätzung, des Austausches und der Kooperation.
Als der Aufklärer Montesquieu das absolutistische Regime Frankreichs kritisieren wollte, da lief er angesichts der vorherrschenden Zensur Gefahr, verfolgt zu werden. Also ließ er 1721 zwei Perser durch Frankreich reisen, die sich über die Rückständigkeit und Kulturlosigkeit der Franzosen lustig machten. Auch wir Deutschsprachigen haben mit Goethes „West-östlichem Divan“ ein Zeugnis für die wechselseitige, von Neugierde getriebene Wertschätzung beider Kulturen. Hier heißt es:
„Wer sich selbst und andere kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“
(Foto: Amir Pourmand/AFP/Getty Images)
Es würde durchaus Sinn machen, an diese historischen Bezüge anzuknüpfen. Im Westen sind sie vergessen, überschattet von den Verstörungen der letzten Jahrzehnte. Im Iran sind sie allerdings überall präsent. Das zeigte sich vor wenigen Wochen, als das wiedergegründete Teheraner Symphonie Orchester Beethovens Neunte aufführte, die Ode an die Freude im deutschen Original.
Das Konzert hatte noch nicht begonnen, da gab es schon Standing Ovations des iranischen Publikums. Diese galten nicht nur dem Orchester, sondern auch der Symbolik dieses Events.