Ich frage mich, über welche Themen wir dieses Wochenende debattiert hätten, wären nicht vor einer Woche mehr als 800 Menschen vor der libyschen Küste untergegangen. Wären es zum Beispiel über mehrere Wochen verteilt einige kleine Boote gewesen. So wie das normalerweise der Fall ist. Kein Sondergipfel hätte stattgefunden und wir hätten uns nicht über Talkshows ärgern müssen. Öffentliche Erregung hätte es so gut wie gar nicht gegeben und die Betroffenheit über die Vorfälle im Mittelmeer wäre um vieles ehrlicher gewesen. Dieses tragische Ereignis aber hat es in die Schlagzeilen geschafft. Schlagzeilen produzieren bekanntlich Politik.
Ob sich dadurch jetzt etwas ändert, oder ob es bloß bei symbolischem Handeln bleibt, das ist noch offen. Letzteres ist sehr wahrscheinlich. Sobald die Erregung vorüber ist, wird man vermutlich wieder zur Tagesordnung übergehen. Nämlich nichts tun und auf das Mittel der Abschreckung setzen.
Zumindest für das p.t. Publikum. Dem konnte man bislang leicht einreden, dass man eh alles Mögliche unternehmen würde, wenn da nicht die verbrecherischen Schlepperbanden wären. „Dreckige Verbrecher“ in der Terminologie von de Maizière. Der deutsche Innenminister hat über Monate hindurch auch behauptet, systematische Rettungsmaßnahmen, wie sie die italienische Marine seit der Tragödie von Lampedusa im Oktober 2013 unternommen hatte, würden einen Pull-Effekt ausüben und noch mehr Flüchtlinge anziehen. Deshalb wurde das Programm „Mare Nostrum“ beendet. An seine Stelle trat das in Umfang und Mission abgespeckte „Triton“. Der behauptete Effekt trat nicht ein. Vielmehr explodierte die Zahl der Hilfesuchenden. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis es zu dieser Katastrophe kam.
Politische Themenverfehlung
Eigentlich müsste dies bei den politisch Verantwortlichen ein Umdenken bewirken. Aber die Staats- und Regierungschefs und ihre Innenminister sind in ihrer Mehrheit nicht einmal zum Nachdenken bereit. Was sie bei ihrer Sondersitzung am Freitag vereinbarten, ist ein eklatanter Beweis für ihre Unfähigkeit die Zukunft konstruktiv zu gestalten. Besonders häufig tritt so etwas bekanntlich dann auf, wenn die Sicht auf das große Ganze durch die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner verstellt ist. Dieser besteht in der intergouvernementalen Europapolitik (also auf Ratsebene) häufig darin, vermeintliche Wahlniederlagen zu vermeiden.
Großbritanniens Vertreter etwa hatte den Auftrag, jede Einigung zu blockieren. Das von der Kommission vorgelegte Zehnpunkteprogramm ist eine perfekte Themenverfehlung. Nur drei Punkte sind hilfreich. Alles andere ist „more oft the same“ und ein Sinnbild der chronischen Unbelehrbarkeit vieler Mitgliedstaaten, wenn es um Zuwanderung geht. Man könnte es auch die Torheit der Regierenden nennen. Notwendig ist vielmehr eine differenzierende (und daher) an den Handlungs-und Gestaltungsmöglichkeiten ansetzende gemeinschaftliche Europapolitik. Das bedeutet in erster Linie, das Ganze im Auge zu behalten. Wieso sollen die an den Außengrenzen situierten Mitgliedstaaten den Großteil der Flüchtlinge aufnehmen, wie das die Dublin- Verordnung vorsieht? Solidarität, Grundprinzip jeder Union, bedeutet doch, allfällige Lasten gleichmäßig und gerecht zu verteilen.
Drei Kategorien von Flüchtlingen
Auch ist zu fragen, wer denn diese Menschen sind, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer auf sich nehmen. Wir sollten uns im Klaren sein, dass manche schlicht und einfach auswandern wollen. Wie das schon immer gewesen ist und wie das auch Millionen von Menschen aus Europa über Jahrhunderte gemacht haben. Das ist daher auch moralisch nicht verwerflich, wie das von Rechtspopulisten immer wieder suggeriert wird. Allerdings brauchen wir Regeln und vor allem legale Möglichkeiten dafür. Solche gibt es aber nicht, was bedeutet, dass viele gezwungen sind gefährliche und illegale Möglichkeiten zu suchen.
Dann gibt es die immer mehr zunehmende Gruppe der Asylsuchenden. Menschen, die aus politischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Gründen nicht mehr in ihrer Heimat bleiben können. Diese sind durch völkerrechtliche Abkommen geschützt. Aber sie können ihr Recht erst dann durchsetzen, wenn sie ihre Gründe an der Grenze zu einem Mitgliedsstaat der EU geltend machen. Hier gilt das Gleiche. Es gibt keine Möglichkeit das zu tun, außer man wählt den Weg übers Mittelmeer oder den illegalen Grenzübertritt.
Schließlich gibt es als Folge der Bürgerkriege in Syrien, im Irak, in Libyen und in vielen Teilen Afrikas Millionen von Vertriebenen, denen die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt ist. Sie vegetieren in Nachbarländern wie dem Libanon, der Türkei oder Jordanien unter nicht vorstellbaren Bedingungen, ohne Arbeit und ohne Schulbildung, schlecht ernährt und medizinisch unterversorgt. Wer kann ihnen verwehren, dass sie einen Platz auf dieser Welt suchen, wo sie ein halbwegs normales Leben führen können. Wer glaubt, diesem demografischen Druck durch die Bekämpfung des Schlepperwesens beikommen zu können, ist realitätsfremd. Das ist nichts anderes als Symptombekämpfung.
Rettung ohne Wenn und Aber
Vielmehr geht es darum, unionsweit Kontingente für einzelne Konfliktzonen festzulegen und im Wege eines Resettlement- Programms die schutzbedürftigen Personen auf die einzelnen Mitgliedsstaaten aufzuteilen. Die völlig überlasteten Nachbarstaaten brauchen großzügige Hilfe seitens der EU. Vor allem brauchen wir nach den unterschiedlichen Flüchtlingskategorien differenzierende Instrumente. So wie das Martin Schulz in seiner beeindruckenden Rede vor den Staats-und Regierungschefs letzten Freitag in Brüssel ausgeführt hat. Für alle Instrumente gilt. Das Zulassungsverfahren muss auch außerhalb Europas eingeleitet werden können (via UNHCR oder diplomatischen Vertretungen) und die Aufnahme und Unterbringung muss von den Mitgliedsstaaten solidarisch umgesetzt werden. Die wichtigste Konsequenz der tragischen Ereignisse muss aber sein, dass Menschen, wenn sie auf See in Gefahr geraten ohne Wenn und Aber gerettet werden. Wie meinte doch Martin Schulz: „Wir müssen die Ursachen der Migration bekämpfen, nicht die Migranten.“ Dazu gehört auch das ehrliche Bemühen die politische und ökonomische Situation zu stabilisieren. So wie das Europa mit dem einstigen Sorgenkind Albanien gelungen ist.