Die erste Straßburg Woche des Neuen Jahres werde ich so schnell nicht vergessen. Ich habe sie sehr bewusst erlebt, obwohl mich eine Grippe geplagt hat. Im Mittelpunkt stand die zur Halbzeit der Legislaturperiode anstehende Neuwahl des Präsidiums. Eigentlich war es ja “ausgedealt”, dass unser Fraktionsvorsitzender Martin Schulz dem Christdemokraten Polen Jercy Buzek nachfolgen sollte. Dennoch blieb es spannend. Einmal, weil es zwei zusätzliche Kandidaturen gab, zum anderen, weil viele annahmen, dass so manches Mitglied der EVP Schulz etwas “dünsten” lassen wollte und ihm daher viele davon einen zweiten Wahlgang vergönnten. Schulz schaffte es gleich im ersten Anlauf mit 57% der Stimmen recht souverän. Wohl auch deshalb, weil er sich dafür stark macht den Einfluss des Europäischen Parlaments gegenüber Rat und Kommission auszuweiten. In seiner Antrittsrede machte er auch eine klare Kampfansage in Richtung “Merkocy”, deren Politik den Eindruck erweckt, “man könne ein Mehr an Europa mit einem Weniger an Parlamentarismus schaffen”.
Das Europaparlament zeigte mit einer mit überwältigender Mehrheit beschlossenen Resolution zur geplanten Fiskalunion seine Zähne, verlangte bei allen Verhandlungen beteiligt zu werden und kritisierte die einseitige Fixierung auf Haushaltskürzungen. Sollten die nationalen Regierungen auf ihrer Linie der zwischenstaatlichen Maßnahmen beharren und nicht auf die Gemeinschaftsmethode umschwenken, dann könnte es zu Konflikten mit dem Rat kommen, die bis zu einer Klagseinbringung reichen würden. Die dänische Ratspräsidentschaft kann sich diesen Argumenten durchaus anschließen. Wir erlebten, zunächst in der Fraktion und dann im Plenum eine sehr europafreundliche und der Gemeinschaftsmethode überaus positiv gegenüberstehende dänische Ministerpräsidentin. Helle Thorning –Schmidt beeindruckte mit einer nüchternen und zielorientierten Rede, die klar machte, dass der europäische Prozess auch trotz Finanzkrise weiterlaufen wird.
Dänemark hat sich beispielsweise vorgenommen, das Asylpaket nun endlich zu einem Abschluss zu bringen. Die europäische Sozialdemokratie kann stolz auf die Entwicklung in Dänemark sein und hoffen, dass sich die Mitte-Links Regierung konsolidiert. Eine erfolgreiche EU Präsidentschaft wäre ein wichtiger Baustein dafür. Dänemark war übrigens das erste Land mit einer rechtspopulistischen Bewegung. Bereits in den 1970-er Jahren hatte hier Mogens Glistrup gegen Fremde, den Staat und die Steuern gegeifert und den Verlust sozialdemokratischer Hegemonie eingeleitet. Beginnt vielleicht hier eine Trendwende? Geht vom Norden Europas die Erneuerung der Sozialdemokratie aus?
Anders sieht es jedenfalls in unserem östlichen Nachbarland Ungarn aus. Hier läuft alles schief und das Land steht am Abgrund: wirtschaftlich, sozial und moralisch. Dem großmundigen Reformator ist alles aus dem Ruder gelaufen. Er braucht Europa, dessen Werte er missachtet und dessen (viel zu leise vorgetragenen) Ratschläge und Bitten er bisher arrogant zur Seite geschoben hatte. Victor Orban hatte (ungefragt) gebeten, dem Europäischen Parlament seine Sicht der Dinge vortragen zu dürfen. Wie ein reumütiger Sünder saß er da, wenige Meter von mir entfernt, auf den für den Rat reservierten Sitzen auf der linken Seite des Plenarsaals. Er musste sich zunächst die Einwendungen des dänischen Ratsvorsitzes und dann die Anklage des Präsidenten der Kommission Barroso anhören.
Nicht einmal fünf Minuten hatte er Zeit, seine Sicht der Dinge vorzutragen. Daran schloss sich eine intensive Debatte. Die Vorsitzenden der Fraktionen eröffneten die Diskussion. Verharmlosend der Vorsitzende der EVP Fraktion, Joseph Daul, klar und analytisch Hannes Swoboda, rhetorisch brilliant Dany Cohn-Bendit und emotional Guy Verhofstadt. Daran anschließend eine Vielzahl von Abgeordneten. Leider gelang es mir nicht, einen Platz auf der RednerInnenliste zu bekommen. Hätte das Kraut wahrcheinlich auch nicht fetter gemacht. Mehrere Stunden lang musste sich Orban die Beiträge anhören. In seiner Antwort, die vor Selbstgerechtigkeit strotzte, ging er nicht wirklich auf die Kritik ein. Sie war wohl an das ungarische Fernsehpublikum gerichtet. Immerhin erklärte er sich aber zu raschen Korrekturen bereit. Es waren wohl eher Lippenbekenntnisse und er wird wohl nur das Nötigste tun, um wieder an die europäischen Futtertröge zu kommen. Dennoch, es war eine Sternstunde für das EP. Hier ist der Ort an dem Debatten über Probleme von europäischer Bedeutung geführt werden müssen. Deshalb müssen wir Orban dankbar sein, dass er das EP für seine Show gewählt hat.
Künftig wird es keinem Regierungschef eines die europäischen Werte und Prinzipien verletzenden Mitgliedsstaates möglich sein, eine Einladung des Hauses abzulehnen. Und die Sache ist für Orban noch nicht gegessen. Weitere Reaktionen des Parlaments hängen davon ab, wie die ungarische Regierung auf die Vorstellungen der Kommission reagiert und wie der Bericht des Ausschusses für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE), dem ich angehöre, ausfällt. In den nächsten Wochen werden wir ein Hearing mit VertreterInnen der ungarischen Zivilgesellschaft durchführen. Ob der Bericht zu weiteren Reaktionen, wie einem Grundrechtverletzungsverfahren führt, hängt weitgehend von der stärksten Fraktion, der EVP ab. Diese macht immer noch in schändlicher Weise Orban die Mauer, obwohl man von christdemokratischen Kollegen auf den Gängen durchaus kritische Töne hört. Wir brauchen gute Argumente und eine gut recherchierte Faktenlage. Dann könnte es durchaus möglich sein, einige zu einem Meinungswechsel zu bewegen. Unwahrscheinlich, aber möglich.
Für einen “gelernten Österreicher” ist es ungewohnt zu erleben, dass in einem Parlament tatsächlich auch die Argumente zählen und nicht ausschließlich das, was vorher festgelegt wurde. So auch bei der Wahl des Fraktionsführers der S&D, die durch den Abgang von Martin Schulz notwendig geworden war. Es hatten sich drei Mitglieder der Gruppe, Stephen Hughes, Hannes Swoboda und Catherine Trautmann beworben. Der Wahl gingen Hearings und intensive Diskussionen in allen nationalen Delegationen voraus. Hannes erwies sich am Ende als der am besten vorbereitete und seine Vorstellungen erwiesen sich schon im ersten Wahlgang als mehrheitsfähig. 108 zu 45 (T) und 37 (H) bedeuteten einen klaren Sieg. Als gelernter österreichischer Sozialdemokrat, der es gewohnt ist, bei Personalentscheidungen lediglich die Option zu haben, jemanden streichen zu können, konnte ich mir da nur die Augen reiben. So geht’s offensichtlich auch: Es gibt einen Posten, um den sich mehrere Personen bewerben. Die stellen sich einer öffentlichen Diskussion und die Person gewinnt, die sich am überzeugendsten präsentiert. Alle haben jetzt das Gefühl eine gute Wahl getroffen zu haben. Ein derartiges Verfahren stärkt vor allem die Einigkeit.
Österreich holte mich aber auch bei einer öffentlichen Diskussion im ORF wieder ein. Da war sie plötzlich wieder die Unkultur des Phrasendreschens und Aneinandervorbeiredens. Vor allem Ewald Stadler (BZÖ) und Franz Obermayr (FPÖ) versuchten die Eurokrise mit populistisch–nationalistischen Pauschalverurteilungen zu erklären. Nicht um die nachhaltige Lösung der Krise ging es ihnen, sondern darum wie man kurzfristig möglichst viel politisches Kapital daraus schlagen kann. Gemeinsam mit Eva Lichtenberger ist es mir, so glaube ich, gelungen, den wichtigsten Punkt klar zu machen, dass es sich nicht primär um eine Schuldenkrise, sondern um eine Spekulationskrise handelt. Ja und neben den vielen Diskussionen gab es auch noch Entscheidungen, an denen ich mit meiner Stimme mitwirken konnte. So wird es künftig strengere Kontrollen für Schädlingsbekämpfungsmittel geben, ein neues Gesetz soll erreichen, dass das Ausmaß der weggeworfenen Lebensmittel in Europa um die Hälfte reduziert wird. Die Steigerung des Recyclinganteils bei Elektrogeräten etc soll die Abhängigkeit Europas von Rohstoffen verringern.
Link zur Homepage des Europäischen Parlaments: http://www.europarl.ep.parl.union.eu/
Rede von Daniel Cohn-Bendit auf Youtube: Link