Ich bin gerade dabei, meine Homepage umzubauen und habe deshalb auf meiner bisherigen Seite herumgesucht. Mir fiel auf, dass ich mich im abgelaufenen Jahr dreimal mit den Vorgängen in unserem östlichen Nachbarland Ungarn auseinandergesetzt habe. Von Mal zu Mal in einem pessimistischeren Ton. Das erste Mal ziemlich genau vor einem Jahr.
Damals hatte Ungarn gerade die Präsidentschaft der Europäischen Union übernommen und war wegen seiner Mediengesetze ins Schussfeld geraten. Der Regierung Orban gelang es damals mit großer Geschmeidigkeit die Kritik zu entschärfen und das Ärgste abzuwenden. Es lag auch im Interesse der Mächtigen auf europäischer Ebene sich nicht in einen Konflikt mit einer amtierenden Präsidentschaft zu begeben. Ja und die konservativen Parteifreunde wollte man aus falsch verstandener Solidarität auch nicht verprellen.
Ein Jahr später sieht die Situation anders aus. Mit ungewöhnlicher Schärfe hat der Präsident der Europäischen Kommission Jose Manuel Barroso in mehreren Briefen, über die Weihnachtsfeiertage hindurch, versucht, auf die ungarische Regierung einzuwirken. Im Mittelpunkt seiner Intervention stand die durch die „Reformen“ Orbans gefährdete Unabhängigkeit der ungarischen Nationalbank. Schade nur, dass die übrigen Kritikpunkte wie die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes, die nationalistische Überdehnung des Staatsbürgerschaftsrechts oder die Einschränkung der Medienfreiheit zu kurz kamen. Schade auch, dass es zunächst der Demarche der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton bedurfte, die auch ganz unverhohlen und direkt von der Gefahr des Abrutschens in einen autoritären Staat sprach. Erst nach ihrer Intervention wagte sich auch der Präsident der Europäischen Kommission aus seiner Deckung. Aber immerhin. Fortan ist das, was in Ungarn passiert nicht mehr eine rein innere Angelegenheit. Die europäischen Institutionen sind gefordert. Nicht nur die Hüterin der Verträge, die Europäische Kommission, auch der intergouvernemental tickende Europäische Rat, bei dem sich hoffentlich einiges an Wissen über die Regeln der Regierungskunst angesammelt haben könnte.
Im Besonderen ist aber das Europäische Parlament gefordert. Es geht darum, klar zu Entwicklungen Stellung zu nehmen, die alsbald auch andere Mitgliedsstaaten heimsuchen könnten. Jetzt schweigen heißt für immer schweigen. In Ungarn ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, der sich ähnlich einer Kernschmelze durch ganz Europa fressen kann (wird?) und in einer Zerstörung von Wohlstand und Demokratie enden könnte.
Am 2. Jänner, als sich die herrschenden Eliten des Landes in Anwesenheit des Staatspräsidenten in der Budapester Oper trafen, um das Inkrafttreten der neuen Verfassung zu feiern, da demonstrierten 100.000 Menschen für die Ungarische Republik. Die Bezeichnung Republik ist ja mit der Verfassungsänderung verschwunden. Es beginnt sich Widerstand zu regen, neue Persönlichkeiten, abseits der alten Lager treten auf und neue Bewegungen, wie die der polnischen Solidarnosz nachempfundene Bewegung Szolidaritás um einen ehemaligen Gewerkschafter im Militärapparat. Diese greifen zu kreativen Protestformen und mobilisieren Gruppen, die bisher der Politik skeptisch gegenüberstanden.
Noch sitzt Orban fest im Sattel. Umfragen zeigen freilich ein dramatisches Absacken seiner Werte. Noch kann niemand sagen, ob es am Ende zu einer Wende kommt oder die Apathie überhand nimmt und so der rechtsradikalen Jobbik Tür und Tor geöffnet wird. Fest steht, dass sich viele Ungarn von Europa im Stich gelassen und unverstanden fühlen.
Die westlichen Kritiker der Entwicklung sind zumeist über Verletzungen marktwirtschaftlicher Prinzipien besorgt, stoßen sich an symbolischen Fragen und kritisieren die Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Das sind alles entscheidende Dinge. Die Entwicklung in Ungarn zu verstehen und damit die notwendigen Lehren für die Abwendbarkeit der ungarischen Krankheit ziehen zu können, erfordert es auch den materiellen Hintergrund der Vorgänge auszuleuchten. Ungarn zahlt heute die Zeche für eine ungehemmte Privatisierungspolitik, an der sich seine westlichen Nachbarn sehr zu deren Vorteil beteiligten. Dies erschwert auch eine klare Sicht auf die Probleme.
Ein Kommentar im Pester Lloyd einer liberalen deutschsprachigen Internetzeitung vom 31.12. 2011 macht dies deutlich: „…dem Thema IWF-Verhandlungen, Zentralbankgesetz und „Bürden für ausländische Banken“ wird deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der gesteuerten, systematischen Verarmung und Entrechtung der unteren Einkommensschichten durch Flat tax, neue Arbeitsgesetze und viele andere Maßnahmen. Die Unabhängigkeit der Nationalbank ist Europa und „seinen“ Medien wichtiger als die Umwidmung von Frührentnern zu Sozialhilfeempfängern……..“ In Ungarn genauso, wie in anderen Mitgliedsstaaten führt die Verarmung breiter Kreise und die Entsolidarisierung in der Gesellschaft zu einer Unterminierung der demokratischen Strukturen. Nur auf so einem Boden gedeihen autoritäre Denkmuster, die zu Entwicklungen wie in Ungarn führen. Europa begreift diesen Zusammenhang nicht und ordnet sich gefügig dem Mantra der Marktreligion unter, wonach sich alles von selber zum Besten regle wenn die Menschen untereinander im Wettbewerb stehen. Mit dem Mut der Verzweiflung versucht der Kommentator europäische Solidarität einzuklagen: „Denn tatsächlich kämpft die EU-Kommission, der Rat sowieso, wie ein Löwe für die Durchsetzung des Binnenmarktes, erklärt sich aber bei „Grundrechten“ für nicht zuständig und verweist dabei auf die Gerichtsbarkeit. So falsch sind die Prioritäten in der EU gesetzt. Eine Umkehr ist für Europa jedoch überlebenswichtig.“
Was in Ungarn passiert geht uns alle an. Hier sehen wir mit welchen Konsequenzen wir rechnen müssen, wenn wir weiterhin blind auf die Marktlogik setzen. Orbans abenteuerlicher autoritärer Kurs ist nichts anderes als der Versuch, von den eigenen Fehlern abzulenken, Sündenböcke zu suchen und Ersatzhandlungen vorzunehmen. Zu glauben, dass man nur den Regeln des Binnenmarktes Geltung verschaffen müsste ist eine brandgefährliche ideologische Fixierung. Wer die Lebenswelten der Menschen aus dem Auge verliert, der bereitet den Boden für rechtsextreme Verführer. Ja, es geht genau darum: wir müssen die Sozial-und Grundrechte einmahnen. Der Lissabon Vertrag hat die Grundrechtscharta zum bindenden Recht erklärt. Hier findet sich alles, was Ungarn als „benchmark“ benötigt, um aus seiner selbstherbeigeführten Krise herausfinden: Meinungsfreiheit, Diskriminierungsfreiheit, Vielfalt der Kulturen, Recht auf soziale Sicherheit, Freiheit der Kollektivverhandlungen, Unabhängigkeit der Justiz etc.
Europa soll seine eigenen Positionen ernst nehmen und Ungarn daran erinnern, dass es die Verträge unterzeichnet hat. Die ungarische Krise kann nur politisch beantwortet werden. Das Europäische Parlament ist der Ort dafür. Hier muss über den Fall Ungarn, über seine möglichen Auswirkungen auf Europa und über politischen Konsequenzen diskutiert und entschieden werden. Ohne Rücksichtnahme auf parteipolitische Loyalitäten und nicht nur wegen der Verfolgung ökonomischer Interessen. Dies wird zur großen Herausforderung für die stärkste Fraktion im Parlament, die Europäische Volkspartei. Im Interesse Europas und unser aller Zukunft wegen wird dies notwendig sein. Um so früher sich die Blockierer dazu durchringen, umso besser.