Das Werden der Arbeiterbewegung im Inneren Salzkammergut gehört zu den beeindruckenden Kapiteln der oberösterreichischen Geschichte.
In Österreich, ja in ganz Europa gibt es wenige Regionen, wo dieser Prozess so exemplarisch verlaufen ist. Aus rechtlosen, geknechteten Untertanen wurden Verantwortung übernehmende Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft. Das geschah mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit, konsequent und zwingend und in einem kurzen Zeitraum.Dazu bedurfte es keiner äusseren Einwirkung. Obwohl man offen, ja neugierig gegenüber dem Fremden war – Konrad Deubler ist ein beeindruckendes Beispiel – waren es die Kräfte, die aus dem Inneren der Gesellschaft kamen. Die nur darauf gewartet hatten, freie Bahn zu bekommen. Ein urwüchsiger Prozess geradezu.Treibender Faktor war der Wille, sich selbst zu helfen. Nicht mehr auf die Hilfe von oben angewiesen zu sein, vielmehr selbst aktiv zu werden und die Dinge gemeinschaftlich in die Hand zu nehmen. Dafür gab es genug Gelegenheiten. Kein Bereich der Gesellschaft blieb ausgespart. Im Inneren Salzkammergut vollzog sich in wenigen Jahren, was in anderen Gegenden Europas oft längere Zeiträume in Anspruch nahm.
Fast überall begann es mit den Arbeiterbildungsvereinen. „Wissen ist Macht“ und „Bildung macht frei!“ sind auch heute noch allgemein akzeptierte Erkenntnisse dieser Frühphase der modernen Arbeiterbewegung. Dabei wurde nicht nur Versäumtes nachgeholt und Fähigkeiten wie Rechnen, Schreiben, Lesen erworben, vielmehr bedeutete das auch Zugang zum Allgemeinwissen, zur Hochkultur und den Blick über den Tellerrand. Auf diese Weise verbreiteten sich Kenntnisse über erfolgreiche Modelle der Selbsthilfe wie die englischen Konsumgenossenschaften, Sparvereinen oder Versicherungen in Notfällen wie bei Krankheit oder Unfall oder bei Katastrophen wie Feuer.
Das Motto der Genossenschaftsbewegung „Einer für Alle, Alle für Einen“ fand freilich nicht nur in der Arbeiterbewegung Verbreitung. Es gab auch eine bürgerliche (Schulze-Delitzsch) und eine bäuerliche Variante (Raiffeisen), mitunter kam es in manchen Regionen zu Überschneidungen. Diese praktischen Erfahrungen standen am Beginn der modernen Massendemokratie. Sie prägten das Bewusstsein einer Politikergeneration, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts politische Verantwortung auf allen Ebenen des Staates übernehmen wollte.
Vieles von dem, was man auf lokaler oder regionaler Ebene gesehen und erprobt hatte verlangte nach allgemeiner und beständiger Regelung. Der Kampf um das Allgemeine Wahlrecht war eine unmittelbare Folge dieser Aktivitäten.
Dieses fiel nicht vom Himmel und ist auch nicht dem Wohlwollen gütiger Monarchen zum verdanken. Vielmehr der Einsicht dieser Gründergeneration, dass Probleme nur in einem demokratischen Rahmen nachhaltig gelöst werden können.
Der Kapitalismus war dazu nicht in der Lage, das hatten die Arbeiter im 19. Jahrhundert schmerzhaft erfahren müssen. Seine mitunter betörende Verheissung, dass jeder „seines eigenen Glückes Schmied“ sei, hatte zu Verelendung, Not und skandalöser Ungleichheit geführt. Die arbeitenden Menschen setzten dem eine gemeinschaftliche Vision entgegen, für die sie mit Überzeugung kämpften. Was man heute Sozialstaat nennt, das drückte ein damals sehr populäres Gedicht viel poetischer aus: „Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen, dass uns Arbeit und Brot gerüstet stehen, dass unsere Kinder in der Schule lernen und unsere Alten nicht mehr betteln gehen.
“Dass es schließlich soweit kam, bedurfte aber nicht nur staatlicher Regulierung durch demokratische Parlamente, sondern vor allem organisierter Gegenmacht. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ wurde zum selbstbewussten Leitspruch der überall entstehenden Gewerkschaften. Diese Idee war im Inneren Salzkammergut besonders populär, gab es doch im Bergbau eine lange Tradition der kollektiven Interessenvertretung.
Gerade die Sozialdemokratie, die im 20.Jahrhundert zum erfolgreichen Motor des modernen Wohlfahrtsstaates werden sollte war von Anbeginn an mit der Gewerkschaftsbewegung verbunden. In Österreich kann man von einer Gleichursprünglichkeit sprechen. Victor Adler nannte Partei und Gewerkschaft gerne „Siamesische Zwillinge“. Nicht überall war dieser Zusammenhang so direkt. Aber überall in Europa waren diese Elemente vorhanden, überall folgte das Entstehen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung dem gleichen Muster. Die Rezeptur war stets die gleiche: Bildung, Selbsthilfe und Solidarität und gewerkschaftlicher Zusammenschluss durften auf keinen Fall fehlen.
Der Blick zurück in die Geschichte ist viel mehr als die Befriedigung eines antiquarischen Interesses, er macht stolz. Weil er eindrucksvoll vermittelt, dass die Menschen ihre Geschichte selbst gestalten können. Sie müssen nur wollen und vor allem müssen sie zusammenhalten.
Im Inneren Salzkammergut ist das besonders eindrucksvoll gelungen. Das sollte allerdings kein Grund sein, sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Die Sozialdemokratie ist in einer schwierigen Situation, sie hat schon bessere Zeiten durchgemacht. Gerade jetzt kann der Blick zurück hilfreich sein. Wir brauchen eigentlich nur – mit modernen Methoden -das wiederholen, was schon die Generationen vor uns taten: Allen Menschen eine Heimat zu bieten.
Heimat, das ist, so der bekannte Philosoph Ernst Bloch, kein nostalgischen Schwelgen im Vergangenen. Sie ist Zukunft, weil sie an unseren Wurzeln ansetzt: „Die Wurzel der Geschichte ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende Mensch.“