Ich habe nicht mit dem Brexit gerechnet. Genauso wenig wie meine Kolleginnen und Kollegen von der Labour Party. Unsere Büros sind (oder soll ich schon sagen: waren) nebeneinander im 13. Stock des Europaparlaments. In den letzten beiden Wochen war es ganz leer am Gang geworden. Alle waren in ihren Wahlkreisen. Am Einsatz konnte es nicht gelegen sein. Alle waren motiviert, weil sie wussten, was auf dem Spiel stand. Die Befürchtung war immer vorhanden, dass es am Ende nicht reichen würde. Jeden Tag und bei jedem Gespräch. Aber irgendwie hatten wir darauf vertraut, dass nicht geschehen könne, was nicht geschehen darf.
Die Entscheidung des britischen Volkes wird weitreichende Folgen haben. Da geht es um sehr viel mehr als um den Austritt eines Mitgliedsstaates. Was gestern passierte, das kann in der Folge überall passieren und überall wird es die gleiche Botschaft sein: alleine können wir es besser. Mitnichten. Aber das interessiert ja die Nationalisten, deren Horizont über ihren Wahlkreis kaum hinausreicht, nicht. Sie sichern so ihr politisches Überleben, so wie im Fall des Brexit Boris Johnson oder Nigel Farage. Jahrzehntelang hatten sie darauf verzichtet, konstruktive Kritik zu betreiben. Vielmehr lebten sie ganz gut davon, alles schlecht zu reden. Johnson als langjähriger Brüssel Korrespondent des Daily Telegraph. Er war bekannt für seine Übertreibungen und trug maßgeblich zum negativen Image der EU- Institutionen bei. Lange zögerte er, ob er für oder gegen den Brexit sein sollte. Als er die Chance sah, dass er David Cameron ablösen könne ergriff er sie. Er war das Gesicht der Austrittskampagne. Mit Nigel Farage allein wäre das Ergebnis wohl anders ausgefallen. Er ist ein arroganter Exzentriker, der sich seit 1999 vom Europaparlament finanzieren lässt und einer unser faulsten Abgeordneten. Ich sitze ihm gegenüber, daher weiss ich das. Er benutzt Europa, um es zu zerstören. Solche Typen gibt es viele, viel zu viele. Und ich traue etlichen Kollegen zu, Ähnliches wie den Brexit im eigenen Mitgliedsstaat loszutreten.
Die nächsten Jahre werden nicht leicht. Vieles hat diese EU ausgehalten und ist dabei zumeist stärker geworden. Aber das jetzt? Der Brexit könnte sogar ihr Todesstoß gewesen sein. Seit einiger Zeit trage ich den Gedanken mit mir herum, ob die EU nicht ein ähnliches Schicksal wie Jugoslawien treffen könnte. Ich weiss, dass Vergleiche hinken. Zwar war Jugoslawien keine Demokratie, allenfalls auf dem Weg dorthin. Aber es war ein gemeinsamer Lebensraum mit einem gemeinsamen Binnenmarkt. Zusammen hatten die jugoslawischen Völker auch Gewicht auf der internationalen Bühne. Ziemlich auf den Tag genau vor 25 Jahren begann die Auflösung Jugoslawiens mit allen bekannten Konsequenzen: Bürgerkrieg, Genozid und Vertreibung. Der Zusammenbruchs des Binnenmarktes führte zu gravierenden Wohlstandsverlusten von denen sich die Region bis heute nicht erholt hat.
Vor 25 Jahren da haben viele Menschen in Österreich – ich gehörte auch dazu-
die Unabhängigkeitsbestrebungen im ehemaligen Jugoslawien begrüßt. Und niemand wäre auf die Idee gekommen, was da alles wenige Jahre später passieren sollte. Dieser Prozess lässt sich auch nicht rückgängig machen. Feststeht nur, dass ohne eine europäische Perspektive die Situation in der Region um vieles trister wäre. Und die Lage ist wirklich trist. Ich fürchte mich davor, dass aus EU-rope in nicht allzu ferner Zukunft YU-rope werden könnte. Ein YU-rope Szenario, das wäre die Katastrophe des 21. Jahrhunderts. Noch sind wir weit davon entfernt, aber wir müssen auf der Hut sein. Was es jetzt sofort braucht sind kluge und wohl überlegte Massnahmen. Ohne Zweideutigkeit. Genau das fehlte in den Neunziger Jahren im ehemaligen Jugoslawien. Damals schlug die Stunde der nationalistischen Vereinfacher, der Hetzer und Maulhelden. Die Besonnenen waren zu leise und die Reformer zu wenig mutig.
Wenn, wann nicht jetzt sollten wir uns daran machen, für ein anderes, ein besseres Europa zu kämpfen. Das Europäische Parlament wird bereits am Dienstag zu einer außerordentlichen Plenarversammlung zusammentreten. Es werden außerordentliche Massnahmen diskutiert werden. Alle wissen wir, dass es so nicht weitergehen kann. Mit dem Europa a la carte, wo sich Unternehmen aussuchen können, wo sie Steuern zahlen. Schluss mit Steuer und Lohndumping und Schluss mit einer unsolidarischen Migrationspolitik, wo die einen sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen und die anderen Zäune hochziehen. Wir brauchen ein mutiges Reformprojekt, wo sich die Menschen wiederfinden. Keine Halbheiten mehr. Deswegen wird es sehr bald einen Reformkonvent geben müssen, der die notwendigen Beschlüsse einleiten muss. Wir haben keine Zeit zu verlieren und die S&D Fraktion ist auf diese Aufgabe vorbereitet. Wir werden schon am Dienstag die entsprechenden Vorschläge einbringen.