Ein persönlicher Rückblick auf sieben Jahre europäische Flüchtlingspolitik und warum es höchste Zeit für eine europäische Migrationsagenda ist.
Während meiner Tätigkeit als Mitglied des Europäischen Parlaments konnte ich viele Erfolge erringen. Ein Bereich hat freilich alles überschattet: Flucht und Migration. Ich kenne (wirklich) niemanden der/die Europa in diesem Zusammenhang etwas Positives abgewinnen könnte. Dieses historische Versagen hat das europäische Projekt schwer beschädigt. Mir hat es meine Energie geraubt.
War ich doch als Mitglied des Ausschusses für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) mitten drinnen im Geschehen, aber zumeist hilflos, enttäuscht und oft verzweifelt. Immer wieder habe ich versucht mich einzubringen, immer wieder bin ich gescheitert, aber gerade deswegen bin ich überzeugt, dass nur ein gemeinsames europäisches Vorgehen weiterhelfen kann.
Hautnah dabei
Es gibt Momente, die ich nie vergessen werde. Vor allem die vielen Begegnungen mit geflüchteten und vertriebenen Menschen. Aufwühlend und bedrückend gleichermaßen. In Idomeni, dem Tor zur Balkanroute im nordirakischen Dohuk oder im iranischen Isfahan, in der libanesischen Bekaa Ebene oder im jordanischen Zataari, am Stacheldrahtzaun bei Röszke an der ungarisch- serbischen Grenze, während des Sommers 2015 am Wiener Hauptbahnhof oder in meiner Innviertler Heimat, am Grenzübergang bei Passau und Schärding.
Ich habe das alles hautnah erlebt, an den besagten Orten und anderswo. Verzweifelte Menschen – Frauen, Männer, Kinder – immer angespannt, immer bemüht keine Fehler zu machen, selten aggressiv. Ich sehe sie alle vor mir, die tausenden Augen die meinen Blick erhaschen wollten. So, als wollen sie mir sagen, schenke mir einen Augenblick. Mit vielen habe ich geredet. Sie haben sich an mich geklammert, mich umarmt.
Und oft hat mich das Gehörte bis in den Schlaf verfolgt. Menschen, deren Habseligkeiten von den Schleppern ins Meer geworfen wurden und die dann auf den Booten zusammengepfercht Todesängste ausstehen mussten. Junge Männer, die ihre Nieren verkauften, um die Schlepper bezahlen zu können. Ewig wird mir das Gespräch mit einer Frau in Nigeria in Erinnerung bleiben. Sie konnte mit EU-Hilfe aus einem libyschen Lager zurückkehren. Dort war sie von den Menschenschmugglern zur Prostitution gezwungen worden. Fünf Frauen wären sie gewesen und sie habe als einzige die Passage durch die Sahara überlebt.
Oder die Situation der Jesiden, die sogar auf der Flucht verfolgt wurden. In Griechenland haben sie mir die mit Messern aufgeschlitzten Zelte gezeigt – man wollte sie während des Schlafes töten. Oder ein Lager am Fuße des Olymp. Idyllischer ist es kaum möglich, oben der mystische Gletscher, unten die Meeresbucht und dennoch war es wie die Hölle. Primitive, überfüllte Zelte eingenebelt durch den Rauch der Lagerfeuer, weil es bitterkalt war und keine Elektrizität zur Verfügung stand.
Leid, unendlich viel Leid habe ich gesehen, Missbrauch in allen Varianten. Ich bin Zeuge eines grausamen Überlebenskampfes geworden. Man muss schon sehr unverfroren sein, den geflüchteten Menschen zu unterstellen, sie würden diese Strapazen und Torturen freiwillig auf sich nehmen. Unmoralisch und kriminell ist es, sie als Schachfiguren einer globalen Verschwörung darzustellen, die sich den Austausch der Bevölkerung zum Ziel gesetzt hätte, wie das ja mittlerweile nicht nur die Rechtsradikalen behaupten.
Wenn man die Prioritäten nicht erkennt
Als ich 2014 für weitere fünf Jahre ins Europäische Parlament gewählt wurde, da hätte ich nicht gedacht, dass Flucht und Migration einmal so zentrale Bedeutung erlangen würden. Bis 2015 war für die europäischen Staatskanzleien dieses Thema eigentlich nachrangig. Alle Politik wurde dem fundamentalistischen Ziel einer Sanierung der Staatshaushalte untergeordnet, das innenpolitische Kalkül dominierte und gemeinsame europäische Lösungen hatten an Attraktivität verloren. Europa, so die Strategie von Merkel & Co., sollte nicht gemeinschaftlich, sondern intergouvernemental gesteuert werden. Das hatte Merkel im Verlauf der Griechenlandkrise vorexerziert. Nur ja keine großen Sprünge. Alles Klein-Klein, den Ängsten gehorchend und immer im nationalen Alleingang. Europäisch nur, wenn‘s gar nicht mehr anders geht.
Kleinkariertheit, Engstirnigkeit und Unaufrichtigkeit sind freilich die beste Voraussetzung für kolossales Scheitern. In jenem denkwürdigen Sommer sollte sich das weisen. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist Resultat eines systemischen, multikausalen Politikversagens. Gleich auf drei Ebenen: Weder gab es eine europäische Einwanderungspolitik, noch funktionierte das Dublin-System, eines gesamteuropäischen Asylmanagements und schon gar nicht hatte man Vorkehrungen für die vielen Vertriebenen des syrischen Bürgerkrieges getroffen.
2012 hatte fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung ihren ursprünglichen Wohnort verloren. Rund 4,5 Millionen befanden sich im benachbarten Ausland, nur 60.000 im Schengenraum. Noch 2013/14 hätte man das alles ins Lot bringen können. Ich habe bereits 2013 eine Aktivierung der Massenzustromrichtlinie gefordert. Das hätte bedeutet, auf der Basis nationaler Kontingente, Vertriebene und Kriegsflüchtlinge aus Syrien vorübergehend in der EU unterbringen zu können. Auf diese Weise hätte man über Kriterien der Zuwanderung entscheiden und die Situation nach dem Krieg mitdenken können, vor allem hätte man vorab gewusst, wer nach Europa kommt. Mit Sicherheit wären viele der kriminellen Schleppernetzwerke gar nicht entstanden. Die Tragödie von Parndorf (August 2015) machte uns deren verhängnisvolle Rolle deutlich. Noch immer bin ich mit den Angehörigen einiger Opfer in Kontakt.
Ja, man hätte auf europäischer Ebene vieles vermeiden können. Man hätte bloß den, aus den Erfahrungen der Balkankriege entwickelten, Rechtsrahmen der Massenzustromrichtlinie aktivieren müssen. Dazu war der Rat der Innenminister aber nicht bereit. Als es schon 5 vor 12 war – im Dezember 2014 – da hat die österreichische Innenministerin Mikl-Leitner dem LIBE-Ausschuss einen in diese Richtung gehenden Vorschlag – „Save Lives“ – unterbreitet. Ich habe sie dabei unterstützt und die S&D-Fraktion dafür gewinnen können. Im Europäischen Parlament hätte ihr Vorschlag eine Mehrheit gehabt, im Innenministerrat allerdings verlief die Sache im Sand. Deutschland war einer der Verzögerungsfaktoren.
Sogar zu Jahresbeginn 2015 wäre es noch möglich gewesen eine europäische Lösung auszuverhandeln. Die politischen Frontstellungen, wie sie ab 2016 Europa lähmen sollten, existierten damals noch nicht. Noch waren die ungarischen Behörden lösungsorientiert und kooperativ. Das bestätigte mir die Ministerin, als ich sie vor Weihnachten in ihrem Büro in Wien aufsuchte. Wertvolle Zeit ging verloren, aber wenn man nur die nationalen Partikularinteressen im Kopf hat und daher alles nur halbherzig macht, dann braucht man sich nicht wundern, wenn man irgendwann, wie es dann im Sommer 2015 auch passieren sollte, von der Realität buchstäblich überrollt wird.
Kaputtgespart
Ausgelöst wurde der größte Flüchtlingsstrom, mit dem Europa seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert war, durch schäbige Knausrigkeit. Man berauschte sich an Parolen wie Nulldefizit oder Schwarze Null. Sparen, sparen, so das Mantra der Staatskanzleien und am besten dort, wo es das Wahlvolk nicht unmittelbar spürt. Wie etwa bei der Finanzierung internationaler Hilfsprogramme.
Bis zum Jahresbeginn 2015 konnten die Menschen in den Flüchtlingslagern rund um Syrien mit 1 Dollar pro Tag und Person rechnen. Ab Frühsommer war es weniger als die Hälfte. Wer nicht in der Lage ist daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, ist von politischer Torheit gezeichnet. Wiederholt wurden wir im EP mit den fatalen Perspektiven konfrontiert, im für Migration zuständigen LIBE-Ausschuss, im für die humanitäre Hilfe zuständigen DEVE-Ausschuss, von den eigenen Leuten in der Kommission, vom UNHCR und von den Medien.
Ja, viele von uns haben es gewusst, was auf uns zukommen würde und die Verantwortlichen hätten handeln müssen. In meinem Blogbeitrag vom 12. Mai 2015, also b e v o r das alles passierte, meinte ich:
„Manche Katastrophen ereignen sich nicht abrupt. Sie bereiten sich langsam auf …. Man hätte es im Nachhinein also wissen können .…Eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes kündigt sich an.“
Ich nannte das Verhalten der politisch Verantwortlichen damals „…unmenschlich, dumm und kurzsichtig.“
Europas fundamentalistische Sparpolitik schuf die Voraussetzungen für die Flüchtlingstragödie, die das europäische Grundverständnis erschüttern und das Europäische Haus beinahe zum Einsturz bringen sollte. Am Höhepunkt der Krise gab das Angela Merkel auch unumwunden zu: „Wir haben alle….ich schließe mich da ein, nicht gesehen, dass die internationalen Programme nicht ausreichend finanziert sind, dass Menschen hungern in den Flüchtlingslagern, dass die Lebensmittelrationen gekürzt wurden.“
Ehrlich und richtig. Freilich vergaß sie zu erwähnen, dass es vor allem die verfehlte, rein innenpolitisch motivierte Griechenlandpolitik war, die das Fass zum Überlaufen brachte. An Griechenland musste ein Exempel statuiert werden. Sparen, den öffentlichen Einfluss reduzieren, wo immer das möglich war. Rigoros und überall.
Um alles kümmerte man sich, bei so viel Detailbesessenheit übersah man ganz, dass sich dort schon seit längerem konstant hunderttausende, irreguläre Migranten aufhielten. Eine Folge des Dublin-Systems, das zu keinem Zeitpunkt funktionierte, weil es den Eintrittsländern im Schengenraum die volle Verantwortung auflastete und den Zielländern viele Möglichkeiten offenließ. Bei einem Besuch im Mai 2013 im griechischen Marathon konnte ich mich persönlich von den damaligen chaotischen Zuständen überzeugen. Hunderte pakistanische Migranten schliefen auf freiem Feld und verdingten sich als Erntearbeiter.
Mich wunderte es nicht, dass beim großen Flüchtlingstreck 2015 auch solche Menschen dabei waren. Anlass zu allerlei böswilligen Verdrehungen. Dass die seit Jahren angespannte Situation in Griechenland Auswirkungen haben würde, hätte man sehr wohl wissen können, ja müssen, auch auf europäischer Ebene und in den Staatskanzleien.
Spätestens seit dem März. Da hatten mehrere Minister, der um finanzielle Erleichterungen bemühten Regierung, Tsipras eindringlich darauf aufmerksam gemacht, den Verpflichtungen aus dem Dublin-System nicht entsprechend nachkommen zu können – wegen der durch das Spardiktat erforderlichen Kürzungen. Der rechtsnationalistische Verteidigungsminister hatte bei einer Wahlveranstaltung sogar gefordert, den Dublin-Mechanismus aufzukündigen. Die Folge wäre ein dramatischer Anstieg der Flüchtlinge. Das würde fatale Folgen haben, weil darunter auch Mitglieder des IS seien. Warnungen, in den Wind gesprochen.
Wenn die Dämme brechen
Merkel & Co sind in diese Krise regelrecht hineingeschlittert, weil sie jahrelang nach dem Motto: „Augen zu“ immer den Weg des geringsten Übels gegangen sind, immer nur den nächsten Schritt anvisiert und die Dinge nicht in ihrer Gesamtheit und Interdependenz gesehen haben. Die fatale Einstellung, die Probleme zu übersehen und sich aus der Verantwortung zu stehlen, wie das bei Migrationsfragen seit jeher der Fall war, hat diesen Schlamassel herbeigeführt.
Das trifft keineswegs nur auf Merkel und ihre CDU zu, sondern auch auf die Sozialdemokratie. Schon vor meiner Zeit als MEP habe ich als Präsident der österreichischen Volkshilfe die Verantwortlichen immer wieder angebettelt endlich aktiv zu werden und die Dinge beim Namen zu nennen, etwas zu tun. Manche haben dumm-dreist gemeint, das Boot wäre voll, andere meinten, ich hätte zwar Recht, aber man könnte damit keine Stimmen gewinnen, was immer man auch tut. Allerdings, Probleme löst man nicht, wenn man sich die Hände vor die Augen hält. Dieses Nichthandeln der Verantwortlichen hat den Boden dafür aufbereitet, dass bei der ersten Belastungsprobe, im Sommer 2015, alle Dämme gebrochen sind.
Spätestens seit 2011/2012 zeichnete sich ab, dass sich etwas ankündigte. Immer häufiger kenterten Boote auf der Flucht übers Mittelmeer. Zumeist kamen sie aus dem vom Westen destabilisierten Libyen. Wir haben im Parlament Gedenkminuten für die Ertrunkenen abgehalten. Heuchlerisch war das: schöne Worte und vergossenen Tränen.
Irgendwann verweigerte ich mich, wissend, dass sich am Balkan etwas viel Größeres anbahnte. Ich erinnere mich noch, als wäre es estern gewesen. Im April 2015 hatte ich im Europäischen Parlament in Brüssel eine Veranstaltung mit griechischen Freunden. Referate über die desaströsen Auswirkungen des (innenpolitisch motivierten) Spardiktats des deutschen Finanzministers Schäuble. In die triste Stimmung platzte der Bericht eines griechischen Filmemachers, mit dem ich fortan eng im Kontakt bleiben sollte.
Vassilis Tsartsanis erzählte, was sich seit einigen Monaten an der griechisch-mazedonischen Grenze abspielte. Immer mehr Menschen würden in Idomeni – nicht weit weg vom Haus seiner Eltern – versuchen ins Nachbarland zu gelangen. Im Niemandsland zwischen den beiden Grenzen würden mafiose Gangs ihnen die Pässe abnehmen und Schutzgeld erpressen. Das alles geschähe mit Wissen der mazedonischen Grenzpolizei. Häufig käme es zu körperlichen Misshandlungen. Die Opfer würden dann oft nach Griechenland zurückgebracht und vom lokalen Gesundheitszentrum behandelt. Allerdings würde es da vollkommen an den notwendigen Ressourcen mangeln, weil die öffentliche Gesundheitsversorgung wegen der europäischen Sparvorgaben kaputtgespart war. Ich blieb die ganze Zeit über mit Vassilis in Kontakt – bis zum heutigen Tag. Wir begannen regelmäßige Informationen auszutauschen und versuchten internationale Medien zu interessieren. Aber niemand wollte alldem so recht Glauben schenken. Und es trat das ein, was wir befürchtet hatten. Noch dazu um vieles schneller. Bald sollte auch Österreich davon betroffen sein.
Der Sommer, der alles veränderte
Ein Ereignis Ende Mai veränderte die politische Landschaft in Österreich nachhaltig. Die Innenministerin ließ auf dem Gelände der Linzer Polizei eine Zeltstadt für Flüchtlinge errichten. Wohl von der sich abzeichnenden Notsituation diktiert, aber vor allem dem beginnenden Landtags- und Gemeinderatswahlkampf in Oberösterreich geschuldet. Es war die Zeit der wechselseitigen Schuldzuweisungen der sich im Dauerzank befindlichen Regierungsparteien. Es ging schon lange nicht mehr um die besseren Lösungen, sondern ausschließlich darum, die andere Seite möglichst schlecht ausschauen zu lassen.
Die Rechnung dafür wurde den beiden Regierungsparteien prompt bei den Landtagswahlen in der Steiermark und im Burgenland im Juni mit zweistelligen Stimmzuwächsen der FPÖ präsentiert. Offensichtlich wurde die Botschaft aber nicht verstanden. Damit wurde dieser Wahlsonntag zum historischen Wendepunkt. Das politische Österreich übte sich fortan im Lieblingsspiel, über Koalitionen zu spekulieren. Mit oder ohne FPÖ, ein bisschen mehr Fremdenfeindlichkeit oder weniger, darauf reduzierte sich der politische Diskurs.
Dass die Zahl der durch Österreich ziehenden Flüchtlinge stetig zunahm, wurde von vielen Menschen mit Besorgnis registriert, führte allerdings zu keinen politischen Maßnahmen. Niemand war in der Lage zu erklären, was da vorging. Flüchtende Menschen auf den Bahnhöfen, überquellende Notquartiere… Unbegreifliches geschah und verstärkte das Gefühl die Kontrolle zu verlieren. Wären da nicht die, später als Gutmenschen stigmatisierten, AktivistInnen gewesen.
Die offizielle Politik verabschiedete sich in die Sommerpause. Dröhnendes Schweigen. Es dauerte Wochen, bis sich jemand in das Aufnahmezentrum Traiskirchen wagte. Einzig der Traiskirchner Bürgermeister Andi Babler hielt die Stellung. Manche SozialreferentInnen in den Bundesländern, wie z. B. Gerti Jahn in OÖ mühten sich redlich ab. Und in vielen Gemeinden gab es durchaus Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Es fehlte allerdings am politischen Gestaltungswillen auf der nationalen Ebene. Nur niemanden Erfolg gönnen. Die Bestellung eines Flüchtlingskoordinators der Republik, Christian Konrad, sollte offiziell erst im Oktober erfolgen. Da war der Höhepunkt schon überschritten.
Wenn es die Zivilgesellschaft nicht gegeben hätte…
In diesem denkwürdigen Sommer, nach dem alles anders werden sollte in unserer Republik, begegnete ich vielen engagierten Menschen, von denen ich vorher nichts gewusst hatte. Für mich, als langjährigen Volkshilfe Präsidenten kam das unerwartet, hatten wir doch immer wieder die schwindende Bereitschaft, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren beklagt.
Ich war erstaunt, was ich am Wiener Hauptbahnhof sah. Ohne auf das Know-how der etablierten Hilfsorganisationen zurückgreifen zu müssen, organisierten sich spontan Menschen unterschiedlichster Herkunft und managten ein heute nur mehr schwer vorstellbares Chaos. Eigentlich wäre das ja Aufgabe der staatlichen Organe gewesen.
Es ist eine dreiste Lüge, zu behaupten, die Menschen wären damals durch eine naive „Willkommenskultur“ verführt worden. Das ist nicht nur in der zeitlichen Abfolge falsch. Die sogenannten „Gutmenschen“, die die Menschen damals auf den Bahnhöfen versorgten, taten dies keineswegs aus Jux und Tollerei. Vielmehr übernahmen sie politische Verantwortung, die eigentlich jemand anderer gehabt hätte. Ohne zivilgesellschaftliches Engagement wäre damals alles kollabiert.
Unvergesslich wird mir eine Nacht bleiben, die ich am Hauptbahnhof mit den AktivistInnen von „Train of Hope“ verbrachte. Ich war beeindruckt, wie die das alles unaufgeregt und reibungslos auf die Reihe kriegten. Selbstorganisation vom Feinsten. Noch immer erinnere ich mich an unsere intensiven Gespräche und den leidenschaftlich vorgetragenen Wunsch, sich künftig politisch zu betätigen. Deswegen habe ich sie auch nach Brüssel ins EP eingeladen. Mein Kontakt ist nie ganz abgerissen. Ich habe solche Menschen überall getroffen, nicht nur in Wien, auch in Passau, im serbischen Preševo ebenso wie in Belgrad oder in Gevgelija und Idomeni.
Die absurdeste Konsequenz dieses außergewöhnlichen Sommers war, dass das bedingungslose Engagement der vielen hilfsbereiten Menschen von den Regierenden auf eine geringschätzende Weise ignoriert wurde. Nur so war es dann den Rechten möglich, deren Rolle umzudeuten und sie schließlich zu dämonisieren. Es ermöglichte das törichte Narrativ einer „Willkommenskultur“ der „Bahnhofsklatscher“, das sich mittlerweile verfestigt und das Abgleiten in eine, die Realität abstreitende, Parallelwelt ermöglicht hatte. Wenn wir heute über den Sommer 2015 reden, dann wird das vollkommen verzerrt dargestellt. In der Tat waren die beinahe apokalyptischen Bilder durchziehender Geflüchteter für viele Menschen beunruhigend. Vor allem deswegen, weil die Regierenden schwiegen und damit Kontrollverlust signalisierten. Diese hilflose Passivität nährte ein immer mehr um sich greifendes Gefühl der Ohnmacht. Es wurden Ängste mobilisiert, vor allem dort, wo es keinen persönlichen Kontakt mit den Flüchtenden gab.
Das Spiel mit der Angst
In dieses Vakuum stieß die politische Rechte. Sie hatte Erklärungen parat, vor allem Schuldzuweisungen. Sie streute, sich orkanartig verbreitende, Falschmeldungen.
Der Erste, der diese politischen Möglichkeiten erkannte, war Viktor Orbán. Schon bevor alles startete, Anfang 2015 stand es nicht gut für ihn, Nachwahlen wurden verloren und immer mehr Menschen gingen auf die Straße. Orbán war angezählt und musste einen schleichenden Machtverlust befürchten, also musste er den starken Mann, den Regelverletzter mimen, der sich über Konventionen kühn hinwegsetzte. Zunächst begann er eine Diskussion über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Der im Frühling stetig anschwellende Flüchtlingsstrom bot freilich eine viel bessere Möglichkeit. Orbán inszenierte eine seiner berüchtigten „Volksbefragungen“ auf der Basis eines suggestiven Fragebogens. Im Mai 2015 musste er sich in Straßburg unserer Kritik stellen. Das Urteil des EP war eindeutig: „hochgradig irreführend, mit Vorurteilen behaftet und unausgewogen“. Unsere Kritik kam ihm nicht ungelegen, er brauchte uns als Agitationsbühne für zu Hause, was ich ihm in der Debatte auch vorhielt.
Orbán ging es nie darum Probleme zu lösen, schon gar nicht gemeinsam mit anderen. Was er brauchte, war das Image des starken Mannes, der die Probleme zu lösen imstande war. So ließ er Großflächenplakate in ganz Ungarn anbringen, auf denen die bereits überall sichtbaren Flüchtlinge in ungarischer Sprache (!!!!!) aufgefordert wurden, nicht in Ungarn zu bleiben. Seine Botschaft war klar: Das „christliche“ Ungarn würde durch diese islamistischen, von Terroristen durchsetzten Horden bedroht und Ungarn müsse zur Selbsthilfe greifen, weil es sich auf die liberalen Eliten in Brüssel nicht verlassen könne.
Alles war auf Zuspitzung ausgerichtet. Nur logisch, dass er bereits im Juni ankündigte, einen Grenzzaun zu Serbien errichten zu wollen. Orbáns Popularitätswerte begannen zu steigen und damit sank auch die Wahrscheinlichkeit einer europäischen Lösung. „Strongmen“ brauchen keine komplizierten, bürokratischen Konstruktionen, sie müssen einen Ausnahmezustand herbeireden, wo der „Uomo Virtuoso“ auf den Plan tritt und einen Grund hat auf den Tisch zu hauen. Das wusste schon Machiavelli.
Orbáns zunächst innenpolitisch ausgelegte Zuspitzungsstrategie hatte freilich fatale Auswirkungen auf ganz Europa. Überall fand er Nachahmer. Nicht nur bei der äußersten Rechten, sondern auch bei befreundeten Parteien in der EVP, besonders dort, wo das Maulheldentum tief verwurzelt ist, wie in der bayerischen CSU. Auch der noch Ende 2014 „mehr Willkommenskultur“ einfordernde Sebastian Kurz begann sich umzuorientieren.
Die Reaktionen aus Brüssel waren erwartungsgemäß halbherzig. Dort war man mit der „Griechenlandrettung“, wie man die Exekutierung des Spardiktats euphemistisch nannte, beschäftigt. Niemand erkannte den Ernst der Lage.
Orbáns Ankündigungen wirkten wie ein Brandbeschleuniger und befeuerten das Geschäftsmodell der Schlepper. In den kritischen Wochen Ende August 2015 konnte ich mir ein persönliches Bild von der Situation an der Balkanroute machen. Ich begleitete eine Hilfslieferung, die oberösterreichische Gewerkschafter für das kaputtgesparte, medizinische Zentrum in Polykastro zusammengestellt hatten. Die Situation in Idomeni war aus den Fugen geraten. Chaotische Zustände, alle wollten nach Norden. Die Menschen rannten buchstäblich um ihr Leben. Wen immer ich fragte, die Antwort war immer die gleiche: wir müssen uns beeilen, bevor Ungarn seinen Zaun fertigstellt. Die kriminellen Gangs waren von der griechisch-mazedonischen an die serbisch- ungarische Grenze weitergezogen. Dramatische Szenen und schockierende Bilder allerorten: von der Grenze, von der Autobahn und vom Keleti Bahnhof in Budapest.
Die Macht der politischen Lüge
Von Tag zu Tag stieg der Druck. Orbán verlangte Sondervollmachten und er wollte vor allem eine wichtige Rolle auf dem europäischen Parkett spielen. Nicht zuletzt, um in Ungarn mehr Gewicht zu erlangen. Jetzt hatte er einen Hebel.
Schon bislang scherte ihn das europäische Regelwerk wenig, die Massen wurden durchgewinkt. Und das war ihm auch nicht zu verübeln, hielt sich doch niemand an die absurden Dublin-Bestimmungen. In Ungarn anzukommen, bedeutete nicht mehr als eine wichtige Zwischenstation. Deswegen wurde der Budapester Keleti-Bahnhof zur Drehscheibe. Hier staute sich alles. Alle wollten einen Platz in einem der Züge nach Deutschland. Dem damalige ÖBB-Chef und späteren Bundeskanzler Christian Kern gelang es, das auf österreichischen Gebiet einigermaßen geordnet abzuwickeln.
Die Situation in Budapest hingegen war chaotisch, obwohl (oder gerade weil) der Grenzzaun Richtung Serbien mittlerweile weitgehend geschlossen war. Ohne Mühe hätte man ihn ganz schließen können. Lediglich ein Bahngleis, das nicht mehr für den Zugverkehr benutzt wurde, blieb offen. Diese Lücke war 40 Meter breit – technisch also kein Problem – und wurde von den ungarischen Behörden erst am 15. September… 10 Tage nach der sogenannten „Grenzöffnung“ geschlossen.
Orbán brauchte diesen Druck. Seine Botschaft war einfach: jemand musste es den „liberalen Weicheiern“ in Brüssel zeigen. So, wie bei der Errichtung des Grenzzauns fasste er wiederum eine (innenpolitisch motivierte) einsame Entscheidung, stoppte die Registrierung der Flüchtlinge und steckte diese in Busse, die sie an die österreichische Grenze brachten. Jetzt war Österreich im Zugzwang. Hektische Verhandlungen zwischen Berlin und Wien folgten. Werner Faymann suchte den Weg einer intensiven Zusammenarbeit mit Deutschland. Hätte unser Nachbarland seine Grenzen dichtgemacht, dann wäre das katastrophal für Österreich ausgegangen. Wir wären ein großes Idomeni geworden. Think about it!
Es stimmt auch nicht, wie das mittlerweile gebetsmühlenartig von den Rechten wiederholt wird, dass die Grenze über Nacht geöffnet wurde. Die beiden Regierungschefs ließen dann lediglich (vorübergehend) offiziell geschehen, was unter Beteiligung aller, vor allem auch der Ungarn, schon seit langem im Gange war.
Ausnahmezustand
Das Wochenende vom 4./5. September 2015 hinterließ historische Spuren. Fast 20.000 Flüchtende passierten Österreich, das war zwar für viele Menschen verstörend, gleichzeitig aber auch irgendwie erleichternd. Die meisten standen noch immer unter dem Eindruck der Tragödie von Parndorf vom 26. August. Die 71 halbverwesten Leichen hatten ganz Europa in einen Schockzustand versetzt. Viele freuten sich, dass es die überwiegende Mehrheit der Menschen schaffte, unversehrt in Sicherheit zu gelangen.
Es ist einfach nicht richtig, dass der größte Flüchtlingstreck in Europa seit dem 2. Weltkrieg von auf den Bahnhöfen klatschenden, den Flüchtenden zujubelnden „Gutmenschen“ ausgelöst wurde. Ja, es gab diese Szenen der Freude, aber sie waren eine Reaktion der Erleichterung und der Mitmenschlichkeit. Wie immer man diese Szenen retrospektiv beurteilen mag, sie spiegelten die damalige Stimmungslage wider. Natürlich blieben sie nicht ohne Auswirkungen, wie alles Spektakuläre in Zeiten der Sozialen Medien. So wie der Arabische Frühling eine Facebook-Revolution war, so wäre auch der Sommer 2015 ohne Facebook & Co anders verlaufen.
Als ich Anfang Oktober 2015 das Flüchtlingslager Zaatari an der jordanisch-syrischen Grenze besuchte, da zeigten mir junge Syrer auf ihren Smartphones solche Fotos, auch jenes berühmte Selfie mit Angela Merkel. Die Menschen waren tief beeindruckt. Und es gab wohl nicht wenige, die deswegen in dieses wunderbare Land im Zentrum Europas wollten.
Aber die von den Rechten verbreitete Erzählung stimmt nicht. Es gab nicht nur die schon beschriebenen Push-Faktoren (Krieg und Vertreibung, Ausbleiben der finanziellen Unterstützung etc.), sondern auch die systemimmanenten Mängel des Dublin-Systems, die zu einem chronischen Stau an Asylwerbern führten und innenpolitisch bestimmte Faktoren in fragilen Staaten (Erdogans Erpressungspolitik oder Orbáns Ablenkungsmanöver). Dies alles spielte kriminellen Netzwerken in die Hände, die allein 2015 über 6 Milliarden Euro verdienten. Ich erinnere mich an eine Diskussion im LIBE-Ausschuss, wo der Vertreter von EUROPOL meinte, dass der Großteil der Grenzübertritte in diesem Jahr mit Hilfe von Schleusern zustande kamen.
Merkels Selfie hatte damit schon gar nichts zu tun, weil das erst am 10. September zustande kam. Zu diesem Zeitpunkt war das keine Aufforderung, vielleicht eine menschliche Geste der Erleichterung, eher aber eine opportunistische Offerte an den Zeitgeist, der in diesen Septembertagen auf Seite der Flüchtenden war. Später sollte sich herausstellen, dass es eine Geste der Hilflosigkeit war.
Merkels Notlüge – Wir schaffen das!
Als die parlamentarische Sommerpause zu Ende ging, da war ein Hauch von Geschichte zu spüren. Alles hatte sich geändert. Und es war nicht mehr die „Griechenlandkrise“, wie wir noch Mitte Juli glaubten, die die Grundfesten des europäischen Projekts erschüttern sollte. Auf einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs war es schlussendlich zum großen Showdown und zu einer mühsamen Einigung gekommen, mit irreparablem Kollateralschaden für Deutschland. Die Regierung Merkel musste sich im Inland gegen Vorwürfe von der rechten Seite (bis weit in die CDU hinein) rechtfertigen, umgefallen zu sein und im Süden Europas galt sie hingegen, nicht zu Unrecht, als hartherzig, dogmatisch verbohrt und eigennützig. Das politische Kapital der Regierung Merkel war nach diesem Gipfel deutlich geschwächt. Keine gute Voraussetzung für die Probleme, die jetzt mit der Migrationskrise auf Europa zukommen sollten.
Merkels ursprünglich ganz unpathetisch hingesagtes: „Wir schaffen das“ stand am Beginn des kolossal gescheiterten Versuchs, die selbstverschuldete Krise zu bewältigen. Für viele – und ich zähle mich dazu – wirkte das erleichternd, endlich wollte jemand politisch handeln und die Probleme lösen. Die immer stärker werdende Rechte empfand das freilich als Kampfansage, im besonders in den Staaten Zentral- und Mitteleuropas. Im übrigen Europa betrachtete man den deutschen Aktivitätsdrang mit Skepsis. Nur, weil Deutschland jetzt in Bedrängnis geraten war, warum sollten nun alle solidarisch sein? Diese zögerliche Haltung erklärte unser damaliger Präsident Martin Schulz als Gegenreaktion auf Schäubles jahrelanges, innenpolitisch motiviertes Besserwissertum, vor allem gegenüber den südlichen Mitgliedstaaten:
„Jetzt kriegen wir die Quittung für dieses Verhalten.“
Europa musste handeln, das war den meisten klar. Aber wie?
Selten war die Chance für eine gemeinsame, europäische Migrationspolitik so groß, wie in diesen Wochen. Am 9. September machte Jean-Claude Juncker das in seiner Rede zur Lage der Union vor dem Parlament deutlich. Es wäre Zeit für mutiges, entschlossenes und gemeinsames Handeln der Europäischen Union, wo gemeinsame, europäische Geschichte geschrieben werden könne. „Eine Geschichte, die unsere Enkel mit Stolz erzählen werden.“
Das klang alles sehr feierlich und bestimmt und die meisten von uns hatten das Gefühl, die Union hätte endlich aus den Fehlern der letzten Jahre gelernt. Juncker appellierte an die Mitgliedstaaten, sich mit Schuldzuweisungen zurückzuhalten, vielmehr die bestehenden Instrumente weiterzuentwickeln. Er präsentierte überaus realistische Vorschläge. In diesen turbulenten Wochen war keine Zeit für kühne Visionen.
„Wir schaffen das“, so sollte sich bald herausstellen, bedeutete eigentlich nur: Zeit gewinnen. Es gab durchaus den Willen, etwas Größeres zu versuchen. Deshalb musste eine historische Geste her. Was lag näher, als ein gemeinsamer Auftritt der Staatsspitzen Deutschlands und Frankreichs im Europäischen Parlament in Straßburg. Mit Spannung warteten wir auf den Auftritt von Merkel und Hollande bei der ersten Plenarsitzung im Oktober. Ich konnte von meinem Sitzplatz aus die beiden aus allernächster Nähe beobachten. Harmonie war das keine. Es war ein Nebeneinander, keine gemeinsame Geste, wie wir das von Mitterand und Kohl beispielsweise kannten. Vergeblich warteten wir auf den Funken, der auf uns, die gewählten VolksvertreterInnen Europas, hätte überspringen können/sollen/müssen. „Die Zeit“ titelte treffend: „Kein Ruck geht durch Straßburg“. Seit dieser missglückten Beschwörung des europäischen Geistes war es eigentlich klar, dass das alles nicht so einfach werden würde.
Im Bann der „Realpolitik“
Immer wenn es kompliziert wird auf europäischer Ebene, dann tauchen deutsche Vokabel auf. Im Herbst 2015 war es das Wort „Realpolitik“. Nicht um Prinzipien, Werte oder Menschenrechte sollte es gehen, sondern ganz pragmatisch darum, den gewaltigen Druck zu reduzieren. Koste es, was es wolle. Pragmatische Deals statt komplizierter multilateraler Abmachungen. Auch wenn man dabei riskierte, autoritäre Machthaber wie Sisi oder Erdogan zu unterstützen, auch wenn man mit dubiosen Milizen in Libyen kooperieren sollte oder für Entwicklungszusammenarbeit (DEVE) gewidmete Mittel in der Sahel- Zone für militärische (durch die Verträge nicht vorgesehene) Ausgaben zweckentfremden wollte. Hinter den Kulissen gab es deswegen viel Streit. Ein Kommissar nannte mich deswegen einmal im Zorn einen „DEVE-Taliban“.
Wichtigstes Element dieser „Strategie“ war es vor allem mit der Türkei zu einem Agreement zu kommen. Das hätte man zwar schon lange vorher tun müssen, schon vor 2015. Es musste jedem klar sein, dass der sich innenpolitisch in Schwierigkeiten befindende Erdogan hier ein gewaltiges Druckmittel zur Verfügung hatte. Je länger sich das hinauszog, desto schwieriger sollte es werden. Zudem setzte man auf die falsche Person.
Ein sehr einflussreiches Mitglied der Europäischen Kommission erklärte mir einmal: „Unser Vertrauensmann ist Davutoglu“. Zwar brachte man nach vielen Monaten, inspiriert von Gerald Knaus, eine Vereinbarung mit der Türkei zustande. Dieses Abkommen trat am 18. März 2016 in Kraft. Heftig kritisiert und viel zu spät. Unbestreitbar ist, dass der Zustrom von Flüchtlingen rasch zurückging. Das beweist, dass Erdogan jahrelang ein politisches Spiel mit Europa getrieben hatte.
Die „Schließung“ der Balkanroute
Es spießte sich aber nicht nur mit der Türkei, auch auf europäischer Ebene gab es hinhaltenden Widerstand. Aus unterschiedlichen Motiven. Lediglich acht Mitgliedstaaten, darunter damals noch Österreich, arbeiteten mit großem Elan an einer gesamteuropäischen Strategie, zu der auch die Umsetzung der Beschlüsse zur Aufteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU (Relocation und Resettlement) gehörten. Diese „Koalition der Willigen“ war mit der türkischen Seite weitgehend handelseins. Am 19. Februar 2016 sollte der Deal, beim Gipfel in Brüssel, in der österreichischen Vertretung besiegelt werden. Wegen eines terroristischen Anschlags in Ankara ersuchte der türkische Ministerpräsident Davutoglu um eine Verschiebung des Termins.
Das war die Stunde der „Unwilligen“. Seit Wochen hatten Orbán und seine Bewunderer (Visegrad Staaten, CSU, Kurz etc.) mit immer größerem Erfolg gegen den Türkei-Deal Stimmung gemacht. Dieser hätte ja nicht nur bedeutet, die verhassten Quoten erfüllen zu müssen, vor allem wäre es dann nicht mehr möglich gewesen, innenpolitisch den starken Mann zu mimen. Ein Deal mit der Türkei hätte dieses politische Geschäftsmodell zerstört. Schon seit Wochen war Sebastian Kurz durch die Hauptstädte am Balkan getingelt, um sein Luftschloss „Schließung der Balkanroute“ zu propagieren.
Die unvorhergesehene Verschiebung des Treffens mit dem türkischen Premier kam daher wie bestellt. Jetzt durfte man keine Zeit verlieren. Die bereits vorbereiteten restriktiven, multilateralen Maßnahmen der Balkanstaaten wurden hastig intensiviert und am 24.2. in Wien bei einer Westbalkankonferenz zur Flüchtlingspolitik abgesegnet. Die Europäische Kommission sprach sich gegen dieses Vorgehen aus und war ebenso wie Griechenland von einer Teilnahme ausgeschlossen.
Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann, der noch eine Woche zuvor die österreichische Botschaft in Brüssel der „Koalition der Willigen“ zur Verfügung gestellt hatte, musste nun zur Kenntnis nehmen, dass er von seinem Koalitionspartner düpiert worden war. Österreich hatte auf Initiative des Außenministers die Seiten gewechselt und sich gegen eine europäische Lösung entschieden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. An dieser Frage hätte er die Koalition nicht scheitern lassen können. Die unentwegte Propaganda der Rechten war auf fruchtbaren Boden gefallen, nicht zuletzt genährt durch das Ausbleiben europäischer Lösungen.
(Un)Endlich hässliche Bilder
Die öffentliche Meinung war zu diesem Zeitpunkt für rationale Argumente nicht mehr zugänglich. Alles war zu kompliziert und unübersichtlich geworden. Niemand wollte mehr an baldige Lösungen glauben. In dieses Vakuum stießen jene, die einfache, schnelle Scheinlösungen versprachen.
Komplexitätsreduktion durch Symbolpolitik: Grenzen zu, Panzer an die Grenzen, Zäune und Stacheldraht. Das alles hielt zwar langfristig keine Flüchtlinge ab, aber es war kurzfristig einträchtig. Die Popularitätswerte stiegen. Wie oft sollte Sebastian Kurz sollte künftig gebetsmühlenartig behaupten: „I c h habe die Balkanroute geschlossen“.
Viele, sehr viele haben es ihm am Ende sogar geglaubt. Sie sind freilich einem Fake aufgesessen.
Die Balkanroute wurde am 18. März mit dem EU-Türkei-Deal (mit einmonatiger Verspätung) geschlossen. Nach diesem Zeitpunkt nahmen die illegalen Einreisen nach Griechenland drastisch ab.
Das Ergebnis der, ohne die EU und Griechenland durchgeführten, Wiener Westbalkankonferenz (24.2. 2016) war eine Verdichtung der polizeilichen Maßnahmen entlang der Route und die sukzessive Schließung der mazedonisch- griechischen Grenze in Gevgelija/Idomeni. Zunächst durften nur mehr einige hundert Flüchtlinge pro Tag („Obergrenze“) einreisen.
Ich war in diesen Tagen dort. Die Menschen waren verzweifelt, wollten unbedingt zu den wenigen gehören, die man (willkürlich) durchließ. Es war kalt, nieselte und die Menschen froren. Viele schliefen auf den morastigen, zugemüllten Feldern. Kinder suchten ihre Eltern. Es herrschte unvorstellbares Chaos. Ich werde diese Eindrücke niemals vergessen.
Mit diesen überhasteten Maßnahmen bewirkte man riesiges mediales Aufsehen und lieferte die gewünschten „schrecklichen Bilder“ für zuhause. Es wurde nämlich niemand davon abgehalten, die Ägäis zu überqueren. Was man erreichte, war, dass die Menschen, die das bereits geschafft hatten nunmehr feststeckten. Auf den griechischen Inseln, in Idomeni, in Tabanovce, Belgrad oder sonst wo. Und täglich kamen mehr. Erst mit dem Türkei-Deal hörte der Zustrom auf.
Die Menschen, vor allem jene ohne entsprechende Mittel, gerieten in eine kaum zu überwindende Zwickmühle. Wie weiter? Sie waren nach Griechenland gekommen, in der offensichtlich irrigen Annahme, es damit geschafft zu haben. Sie konnten darauf vertrauen, irgendwie weiterzukommen, so wie Hunderttausende vor ihnen. Gab es doch sogar (gegen die Stimmen von Ungarn, Tschechien, Slowakei und Rumänien) einen (Mehrheits-)Beschluss des Rates vom September 2015, einen großen Teil, der in Griechenland Festsitzenden, nach einem bestimmten Schlüssel, auf die Mitgliedstaaten aufzuteilen. Man nannte das Relocation.
Das funktionierte freilich mehr schlecht als recht, nicht nur, weil es von Orbán & Co vehement bekämpft wurde. Die vorgesehenen Quoten waren bewältigbar. Im Falle Ungarns wären das genau 1.294 Personen gewesen. Den Beweis lieferte ausgerechnet der ungarische Autokrat Anfang 2018 selbst, als die Opposition im Wahlkampf aufdeckte, dass das Land klammheimlich, offensichtlich um auf der sicheren Seite zu sein, 1.300 Flüchtlinge aufgenommen hatte.
Es ging also nicht darum, ob man das alles im Sinne Merkels schaffen konnte, vielmehr brauchte man eine Nicht-Lösung, um ganz im Sinne der Symbolpolitik, den starken Mann mimen zu können.
Aussichtslos festgefahren
Die Flüchtlinge saßen also seit dem, zum historischen Wendepunkt hochstilisierten, Täuschungsmanöver „Schließung der Balkanroute“ fest. Mir ließ das keine Ruhe. Und immer häufiger bedrängte mich die Frage, warum es denn nicht möglich sein sollte, einmal Beschlossenes auch umzusetzen. Im März 2016 befanden sich 43.000 registrierte Flüchtlinge in Griechenland, die meisten am Festland, nur 7.000 auf den Inseln. Mit der Umsetzung des Beschlusses hätte es zum Jahresende in Griechenland fast keine Asylsuchenden mehr gegeben. Damit hätte man den Zustand von vor 2015 wiederhergestellt und hätte sich nun einerseits der Integration der bereits in Europa befindlichen Menschen widmen, endlich die notwendigen legislativen Reformen (Dublin, Asylverfahren, Eurodac, Frontex etc.) abschließen und sich um die Stabilisierung in den Herkunftsregionen kümmern können.
Aber warum funktionierte das mit der Relocation so gar nicht?
In dieser Zeit war ich einige Male in Griechenland. Mir ging es darum, die Gründe für das kolossale Scheitern in Erfahrung zu bringen. Was ich sah, kommunizierte ich auch immer wieder in persönlichen Gesprächen mit den Entscheidungsträgern.
Ein wichtiger Faktor war die mangelnde Vorbereitung auf europäischer Seite. Noch im Herbst 2015 verfügte man nicht über genügend technische Geräte, um eine lückenlose Dokumentation der Geflüchteten zu gewährleisten. Gescheitert war das an der notorischen Unterfinanzierung und dem ritualisierten Beharren auf nationaler Souveränität. Man hatte aber auch keinen mit den Mitgliedstaaten akkordierten Umsetzungsplan. Das war ein wesentlicher Grund für die maßlosen Verzögerungen und vor allem ein Quell für allerlei Ausreden, die mit dem Ansteigen der Fremdenfeindlichkeit immer mehr zur Normalität wurden.
Und dann gab es ein beträchtliches Unvermögen auf der griechischen Seite, diese große Anzahl von Menschen entsprechend den europäischen Vorgaben zu administrieren. Es gab viel zu wenig ausgebildetes Personal, ohne die große Empathie der Menschen im Land und die organisatorischen Kapazitäten der griechischen Armee hätte wohl gar nichts funktioniert.
Vieles war chaotisch. Als ich im Sommer 2016 in Nordgriechenland ein Lager mit 4.000 Registrierten besuchte rieten mir meine griechischen Freunde, nach der Zahl der ausgegebenen Mahlzeiten zu fragen. Am Tag meines Besuchs waren das 1.800. Auf meine Frage, wie man diese Differenz erklären könne, zeigte der Verantwortliche auf die nahen Berge. Hier spielte es überhaupt keine Rolle, dass es in Idomeni/Geveglia einen von den selbsternannten Rettern des Abendlandes hochgepriesenen Grenzzaun gab. Man musste halt die Schlepper bezahlen können.
Griechenland war also komplett überfordert. Da konnten auch eilig bereitgestellte finanzielle Zuwendungen aus dem Unionsbudget nicht weiterhelfen. Diese waren eher kontraproduktiv, weil sie selten dort ankamen, wo die Probleme waren. „Fakalaki“ auf Griechisch. Nicht nur das, vielmehr hätte es eines konzertierten Einsatzes griechischer Einsatzkräfte, europäischer Aufsichtsorgane und der Experten, der aufnehmenden Staaten, bedurft. Dieses Schnittstellenmanagement gab es nicht. Mehrmals forderte ich, solche Teams in Griechenland einzurichten. Das war durchaus umsetzbar. Manche aufnahmewilligen Länder entsandten Experten nach Griechenland, um ihre Verpflichtungen bezüglich Relocation zu erfüllen.
Saudade
Eines davon war Portugal. Ein Land mit dem ich eigentlich wenig zu tun hatte. Aber Ana Gomes, meine (ehemalige) Kollegin im Innenausschuss war von Anfang an sehr an meinen persönlichen Erfahrungen interessiert. Wahrscheinlich auch, weil uns seit langem eine Sympathie für die Zukurzgekommenen und eine tiefe Abneigung gegen korrupte Strukturen verband und auch, weil wir dazu neigten misstrauisch zu sein und die Dinge systematisch zu hinterfragen. Anfang Jänner 2015, also noch bevor alles Unheil startete, begleitete sie mich in den Nordirak, wo wir mit den Repräsentanten der jesidischen Gemeinschaft zusammentrafen.
Im Dezember 2015, just zu dem Zeitpunkt, als sich die Koalition der Willigen immer mehr Gegenwind ausgesetzt sah, hatte die neue portugiesische Linksregierung unter Antonio Costa angekündigt, doppelt so viel Asylwerber (insgesamt 10.000) aufzunehmen, als verlangt. Diese Meldung ging freilich im anschwellenden Gezeter unter. In den Staatskanzleien fühlte sich niemand angeregt einem solchen Ansinnen näherzutreten.
In den Tagen der Grenzschließung in Idomeni bekam ich viele Anfragen verzweifelter Menschen – fast alle wollten nach Deutschland – ob sie ausharren sollten und den Beteuerungen vieler NGOs Glauben schenken sollten, dass sich das bald ändern würde, wenn sie nur genug Druck ausübten. Meine Antwort war alles andere als aufmunternd, aber sie war deutlich: Lasst euch nicht instrumentalisieren, das wird so schnell nichts. Ich wollte aber nicht nur negativ sein, daher verwies ich regelmäßig darauf, dass die Kommission entsprechend der Beschlusslage beabsichtige, zügig die Umsiedlung der Flüchtlinge in andere Mitgliedstaaten voranzutreiben. Portugal zu nennen war naheliegend.
Das Interesse war sehr groß. Einige Abende verbrachten Ana Gomes und ich mit unseren MitarbeiterInnen in meinem Büro und skypten mit Hilfesuchenden in Idomeni. Wir, im Brüsseler Büro, die, in Unterkünften in Nordgriechenland, die man nur mit viel Wohlwollen als Zelte bezeichnen konnte. Alles organisiert von meinem Freund Vassilis. Die Menschen, viele von ihnen waren Jesiden, wollten alles Mögliche über Portugal wissen, vor allem, wie es um das Klima bestellt wäre, Arbeitsmöglichkeiten, ob es schwierig sei Portugiesisch zu lernen, ob man sich dann auch in ganz Europa frei bewegen könne usw. Viele waren interessiert an Portugal, obwohl vorher niemand daran gedacht hatte.
Allerdings war das dann doch nicht so leicht. Es oblag nicht der Entscheidung der Menschen, in welches Land sie umverteilt werden sollten. Dies war den europäischen Beamten vor Ort vorbehalten, die jede Form einer „Priorisierung“ von einzelnen Personen und Personengruppen vermeiden sollten. Das war im Prinzip auch richtig. Beim Asylverfahren geht es ja nicht um Zuwanderung, sondern um das Vorliegen individueller Verfolgungsgründe.
In der konkreten Situation, wo das Dublin-System offensichtlich zusammengebrochen war, erwies sich das freilich als hinderlich. Viel zu lange dauerte es, bis die Verfahren abgeschlossen werden konnten. Manche Hilfesuchende erzählten mir, sie hätten monatelang auf ihre Interviewtermine warten müssen. Eine positive Erledigung hieß auch noch lange nicht, der katastrophalen Situation in Griechenland entkommen zu können. Vor allem war damit noch nicht entschieden, wo man am Ende landen würde.
Die meisten blieben in großer Ungewissheit in Griechenland hängen, obwohl die Kommission dem Land zugesagt hatte, innerhalb zweier Jahre 66.000 in anderen EU-Mitgliedsstaaten unterzubringen. Ich erinnere mich noch gut an eine Aussage des zuständigen Kommissars Avramopoulos, er würde pro Woche 6.000 Flüchtlinge (aus Griechenland und Italien) umsiedeln. Weit daneben. Bis Juli 2016 waren es ganze 1.994 aus Griechenland, also nicht einmal 2.000.
Ich konnte und wollte es nicht verstehen, dass so gar nichts weiterging. Enttäuscht, dass Europa so gar nicht funktionieren sollte und empört darüber, dass deswegen die Demagogen, die immer mehr wurden, die politische Debatte bestimmten.
Ana und ich versuchten, alles zu tun das ernst gemeinte Angebot Portugals, mindestens 10.000 Geflüchtete (also die doppelte Quote) aufzunehmen, zu ermöglichen. Am 4. Juli 2016 führten wir mit den verantwortlichen Regierungsmitgliedern in Lissabon intensive Gespräche.
Das Interesse war sehr groß, auch in der Öffentlichkeit und wir kamen überein, das alles im Paket zu sehen. Unsere Überlegung war ganz einfach: einer möglichst großen Gruppe eine gemeinsame Perspektive in Portugal zu geben.
Wir meinten, dass die Jesiden dafür am besten geeignet wären. Wir identifizierten Gemeinden, wo die Ansiedlung einer größeren Zahl möglich gewesen wäre. Alles schien in Richtung Durchbruch zu laufen. Wir kamen stolz nach Straßburg zurück. Voller Zuversicht. Die positive Nachricht sprach sich herum. Noch in derselben Woche konsultierten mich irische Kolleginnen, die auch mitmachen wollten.
Wir waren sehr enttäuscht zu erfahren, dass unser Vorhaben auf europäischer Ebene nicht gewünscht war, man könne doch keine Gruppe bevorzugen… unsere Einwände, es ginge doch auch und vor allem um die künftige Integration einer mehrfach verfolgten Gruppe wurden übergangen. Nichts ging weiter. Mit einem Besuch in Nordgriechenland im November 2016 konnten wir zumindest erreichen, dass die schlimmsten Unterkünfte aufgelöst wurden. Ich musste einmal, entgegen meiner Art sehr laut werden. Alles ging schleppend dahin, immer neue bürokratische Einwände, endlose Diskussionen, was denn „most vulnerable“ wirklich bedeute etc.
Irgendwann im März 2017 kamen dann zwei Flugzeuge mit jesidischen Flüchtlingen in Lissabon an. Es waren freilich nicht jene, die sich dafür interessiert und auf unserer Liste gestanden waren. Es wurden einfach irgendwelche Jesiden ausgewählt und zwangsbeglückt. Sie wussten nicht, wie ihnen geschah. Nach ein paar Wochen waren alle nach Deutschland weitergezogen. Das war alles furchtbar enttäuschend für uns.
Symbolpolitik ersetzt Realpolitik
Mir war spätestens zu diesem Zeitpunkt klar, dass die im September 2015 von der Junker-Kommission groß angekündigten Relocation Maßnahmen nicht funktionieren würden. Nicht, weil es an Aufnahmekapazitäten fehlte, vielmehr scheiterte es am (innenpolitisch motivierten) fast schon missionarischen Unwillen einzelner Staaten, aber auch an der administrativen Unfähigkeit der lokalen Behörden, verschlimmert durch den von der europäischen Ebene verordneten Bürokratismus.
Probleme zu lösen, darum ging es schon lange nicht mehr. Probleme zu sehen, auch dort wo keine waren, ja sie herbeizureden das war jetzt en vogue. Auch in Österreich, wo sich Sebastian Kurz mit seinem Balkanrouten-Mantra schon für seine künftige Rolle warm zu laufen begann und Werner Faymann nach Strich und Faden desavouierte. Dieser Rolle blieb er erst recht treu, als diesem Christian Kern nachfolgte.
Immer wieder habe ich versucht, meine Erfahrungen den Verantwortlichen zuhause näher zu bringen. Die Reaktionen waren irgendwo zwischen Desinteresse und freundlich gemimten Wohlwollen. Immer war eine latente Angst spürbar. Nur nichts angreifen und sich ducken, ob der nationalistischen Welle, die sich überall in Europa breitmachte. Ein paar meiner Parteifreunde meinten gar, es wäre besonders weitblickend ein bisschen auf den Wellen der nationalen Kleingeisterei mitzusurfen. Nicht bedenkend, dass die nächste größere Welle sie verschlucken könnte, wie das einem Verteidigungsminister passierte, der am Brenner Panzer zur Flüchtlingsabwehr einsetzen wollte.
Aus seiner persönlichen Perspektive betrachtet hatte er ja recht. Die Situation war unübersichtlich geworden, niemand wusste mehr, wie es weitergehen sollte und niemand war da, der relativ eindeutige Sätze sagen konnte. Also musste ein symbolischer Akt gesetzt werden.
Die Angstmacher und die Vereinfacher hatten ganze Arbeit geleistet. In einer solchen Situation war das Verlangen nach holzschnittartig gefassten Botschaften groß. Legionen von Politikern, Politikdarstellern und Möchtegern-Politikern – allesamt Männer – versuchten sich nach 2015 mit mehr oder weniger Geschick in diesem Genre. Keiner von ihnen trug zur Problemlösung bei, aber für einige zahlte sich die Flucht in die Symbolpolitik aus, sie brachte die gewünschten Stimmengewinne, weil sie unerträglich gewordene Spannungen scheinbar auflöste. Ein geradezu manischer Drang nach einfachen Lösungen verunmöglichte differenzierte, schon längst überfällige Reformen.
Was zählte in einem solchen Klima schon, dass auf europäischer Ebene ein umfangreiches und differenziertes Migrationspaket erarbeitet worden war. Ein ganzheitlicher Ansatz sollte es nach dem Willen von Kommission und Parlament sein, alle Aspekte ausgehend von den Fluchtursachen umfassend, Menschenrechte, Grenzschutz, Asylverfahren, Datenerfassung, Integration beinhaltend. Wir arbeiteten mit Hochdruck an einem großen historischen Kompromiss. Als zuständiger Vizepräsident der S&D- Fraktion war ich dafür verantwortlich, den Überblick zu bewahren. Die Verhandlungen waren naturgemäß kontroversiell und betrafen unterschiedliche Aspekte. Manches war schon in der vorherigen Legislaturperiode gestartet worden und bekam erst durch die Dynamik der „Flüchtlingskrise“ eine besondere Brisanz. Der Vorschlag der Kommission wurde in vielen Punkten entscheidend abgeändert und für viele war es überraschend, dass das aus sieben verschiedenen Gesetzesvorschlägen bestehende Paket am Ende auf eine breite Zustimmung gestoßen war. In einem Parlament, dessen Mitglieder es ernst meinten, notwendige und sachlich gerechtfertigte Positionen zu politischen Kompromissen verdichteten. Oft wunderte ich mich, wer da mit wem trotz aller politischen und geografischen Rivalität reden konnte. Wir alle – vielleicht sollte ich sagen, die meisten von uns – wussten, was wir unseren Wählerinnen und Wählern, die uns nach Brüssel geschickt hatten, schuldig waren: eine europäische Antwort auf die sie bewegenden Fragen. Das ließ uns, trotz aller weiterbestehenden Gegensätzlichkeiten, zusammenrücken.
Wir wussten, dass eine gemeinsame europäische Position nur möglich war, wenn wir alle legislativen Vorhaben, die mit Flucht, Migration und Grenzsicherung zu tun hatten, in einem legislativen Gesamtpaket behandelten. Das eine sollte nicht gegen das andere ausgespielt werden.
Das gemeinsame Migrationspaket war natürlich ein Kompromiss, mit allen seinen Schwächen, aber es war eine europäische Antwort, ein Ausweg aus dem Dublin-Dilemma, das so viel Ungewissheit und damit in der Konsequenz Unheil über Europa gebracht hatte.
Enttäuschend war, dass unsere ganze Arbeit umsonst war. Der Rat wollte sich ganz und gar nicht auf unseren Paketansatz einlassen. Er konnte es auch nicht, weil eine europäische Lösung das politische Geschäftsmodell der auf der populistischen Welle zu Macht und Einfluss gelangten Regierungschefs beschädigt hätte.
Immer wieder versuchte der Rat das Paket aufzuschnüren, auch die österreichische Ratspräsidentschaft drängte, alle Ratschläge und Bitten ignorierend, vergeblich darauf. Wir Parlamentarier hielten am Paketansatz fest, weil nur so ein Neubeginn, so bescheiden er schlussendlich auch sein mochte, möglich gewesen wäre und die Handlungsblockade Flucht und Migration betreffend überwindbar war.
Bis heute hat sich nichts bewegt. Alles wie gehabt.
Keines der Probleme ist gelöst
Die Probleme blieben. Die Grenzen entlang der Balkanroute waren seit 2016 mehr oder weniger dicht und die Menschen steckten fest. Überall wurde den Flüchtenden das Leben schwer gemacht. Jedes Land hatte seine eigene Inszenierung. Österreich gleichsam zum Auftakt seiner Ratspräsidentschaft mit einer 1/2 Mio. teuren „Pro Borders“- Übung/Show am Grenzübergang Spielfeld oder der Umbenennung der seit Jahrzehnten bestehenden Erstaufnahmezentren in „Ausreisezentren“.
Am schlimmsten war es aber an der serbisch-ungarischen Grenze. Mein Besuch in Röszke im Mai 2017 wird mir niemals aus dem Kopf gehen. Das war ein Gefängnis, ohne erkennbarem Nutzen für die ordnungsgemäße Abwicklung der Asylverfahren, einzig und allein dazu da, Härte zu zeigen, nach innen und nach außen, unter Missachtung des europäischen Rechtsbestandes.
Ich war für die S&D- Fraktion für die Einleitung des Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn, das darauf ausführlich Bezug nahm, verantwortlich. Wir benötigten eine 2/3 Mehrheit, was uns im Herbst 2018 auch gelang. Das war alles anderes als einfach, meine Energie für die vielen erforderlichen Gespräche bezog ich aus dem Erlebten. Das Verfahren wird zwar immer noch von einigen Regierungen hinausgezogen, aber der EuGH hat im Fall Röszke 2020 im Mai ein klares Urteil gefällt und Ungarn zur Rücknahme seiner diesbezüglichen Maßnahmen gezwungen.
Aber Ungarn war nicht allein, auch an der kroatischen Grenze kam es immer wieder zu schlimmen Vorfällen, wie etwa der mysteriöse Tod der sechsjährigen Afghanin Madina Hussiny. Ich habe das zum Gegenstand einer schriftlichen Anfrage gemacht.
Die „Schließung“ der Balkanroute löste also keines der Probleme, vielmehr brachte sie Willkür und Hass mit sich und hinterließ Unsicherheit. Besonders dramatisch entwickelte sich die Situation in Bosnien. Was sich in den letzten Monaten im bosnischen Vu?jak abspielte, ist eine Schande für die europäische Zivilisation. Menschen wurden wie Müll behandelt. Zigtausende blieben irgendwo am Balkan hängen, mitunter jahrelang. Faktisch wurde nichts erreicht, außer dass das politische Klima auf Jahrzehnte hinaus vergiftet sein wird.
Zu einer fürchterlichen Katastrophe artete diese Politik des Nichthandelns auf den, der türkischen Küste vorgelagerten, Inseln aus. Zwar hatte sich der Zuzug infolge des Türkei-Abkommens drastisch verringert, kam allerdings nicht gänzlich zum Erliegen. Nachdem aber die Weiterreise aufs griechische Festland erschwert wurde, stieg dadurch die Zahl der auf den Inseln, auf die Zuerkennung des Asylstatus, wartenden Menschen kontinuierlich an. Seit Jahren waren die immer unerträglicheren Zustände Thema im LIBE-Ausschuss. Die gegenwärtige Katastrophe auf Lesbos zeichnete sich seit langem ab. Alle Warnungen waren ungehört verhallt, vor allem in jenen Regierungskanzleien, die an ihrer Abschreckungspolitik festhielten. Ihnen ging es nicht um Problemlösung, sondern ums Recht haben. Moria gibt es nur, weil es keine europäische Flüchtlingspolitik gibt.
Endlich den Tatsachen ins Auge sehen!
Flucht und Migration dürfen wir daher nicht den oberflächlichen Politikdarstellern überlassen. Wir brauchen lösungsorientierte Antworten. Monokausale Erklärungen helfen nicht weiter, dafür ist das Thema viel zu komplex.
Und Migration tritt nicht erst in unseren Tagen auf. Seit Jahrhunderten sind die Menschen aus Europa a u s gewandert. Aus vielfältigen Gründen: wirtschaftliche Not und die Hoffnung auf ein besseres Leben, Verfolgung aus politischen oder religiösen Gründen, Kriege und Vertreibung. Millionen Europäer fanden eine neue Heimat. Auch Österreich war einmal ein Auswanderungsland, in den USA leben beispielsweise 160.000 Menschen mit burgenländischen Wurzeln.
Aber aus dem ehemaligen Auswanderungskontinent wurde ein Einwanderungskontinent. Seit zwei Generationen ist das so. Eigentlich etwas Positives. Unser Kontinent ist attraktiv geworden, weil Europa Perspektiven bietet und weil es schon solange Frieden gibt und die Fluchtursachen weggefallen sind. Die Menschen kommen aus unterschiedlichen Motiven nach Europa. Das sind zunächst einmal die Arbeitskräfte, die aus wirtschaftlichen Gründen benötigt werden. Ohne einen entsprechenden Zuzug ließe sich unser Wohlstand nicht aufrechterhalten und würde unsere überalterte Gesellschaft kollabieren.
Europa hat sich freilich nie zu einer koordinierten Einwanderungspolitik durchringen können. Es ginge auch anders, wie das Beispiel Kanada zeigt, Europa könnte diesbezüglich einiges lernen. Als Mitglied einer Delegation des LIBE-Ausschusses konnte ich wichtige Erkenntnisse aus Kanada mitnehmen und mich mit der Idee durchsetzen, im Rahmen der Dublin-Reform das kanadische Partnerschaftsmodell zu übernehmen. Es gab auch eine Parlamentsmehrheit dafür. Bei der Reform des Blue-Card-Verfahrens waren wir weniger erfolgreich, dieses Thema wird seit Jahren wie eine heiße Semmel behandelt. Die meisten Regierungschefs meinen, es würde ihnen nutzen, wenn es keine gemeinsame europäische Migrationspolitik gibt. Eine absurde Vorstellung, weil der gemeinsame Binnenmarkt auf dem Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit basiert und ein gemeinsames europäisches System zur Steuerung der Arbeitsmigration daher eigentlich zwingend wäre.
Seit Jahrzehnten wird allerdings auch konsequent verdrängt, dass es schwerwiegende Push-Faktoren für wirtschaftliche Migration gibt. Die Menschen werden dazu gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, die Gründe sind vielfältig. Immer häufiger spielt dabei der Klimawandel eine Rolle und die dadurch verursachte Dürre und Trockenheit, gerade was Afrika betrifft. Den wenigsten ist bekannt, dass das Ausmaß der innerafrikanischen Migration um ein Vielfaches höher ist als nach Europa. Und es gibt auch eine West-Ost Wanderung Richtung Arabische Halbinsel. Allein die Zahl der Personen, die jährlich in den vom Bürgerkrieg zerstörten Jemen flüchten, liegt bei geschätzten 100.000. Das alles lässt sich nur dadurch erklären, dass viele Menschen keine Perspektiven mehr für sich sehen.
Zeit zum Handeln
Natürlich hängt das alles auch mit einer falschen, weil kurzsichtigen Handelspolitik Europas zusammen. Gerade was Afrika betrifft. Dieser erzwungenen Migration kann man nur durch einen radikalen Politikwechsel begegnen. Wir brauchen eine andere, eine nachhaltige Handelspolitik, die nicht von ökonomischer Überlegenheit diktiert wird. Dialog statt Diktat, nicht paternalistisch, sondern auf Augenhöhe, europäisch ausgerichtet und nicht von nationalen Interessen dominiert. Einen Nord-Süd Dialog, der zu mehr Kooperation führt, so wie das Willy Brandt im Auftrag der Weltbank schon vor vierzig Jahren visionär vorausdachte.
Die Voraussetzungen dafür wären vorhanden. Ich habe das selbst bei einem Besuch in Benin City, Edo State in Nigeria gesehen. Aus diesem Staat stammen fast die Hälfte der Menschen, die aus Nigeria über Libyen nach Europa zu gelangen versuchen. Wir hatten die Gelegenheit, mit jenen zu reden, die mit Hilfe der EU 2018 aus libyschen Lagern rückgeführt wurden. Sie erzählten uns, was ihnen Schreckliches widerfahren war. Fast alle waren von professionellen Schmugglern unter falschen Versprechungen zur Migration verleitet worden.
Die lokale Regierung war sich der Problematik bewusst und bereit diese Menschen wieder willkommen zu heißen. Wir trafen den Gouverneur, Godwin Obaseki, der eine eigene Migration-Taskforce eingerichtet hatte. Sein Staat soll eine Vorbildrolle einnehmen, die Ursachen für die hohe Migrationsquote ergründen um darauf aufbauend der lokalen Bevölkerung eine dauerhafte Perspektive zu geben. Dazu gelte es eng mit den Zielländern der Migration zu kooperieren, sowohl bei der Rückübernahme illegaler Migranten als auch der parallelen Öffnung legaler Migrationswege. Nicht Abschottung, sondern Zusammenarbeit über die Gräben hinweg und Know-how-Transfer wären die Antwort. Ich lud daraufhin den Gouverneur ins Europäische Parlament ein, seine Vorstellungen zu präsentieren, der er innerhalb weniger Wochen nachkam. Das Interesse meiner KollegInnen war allerdings bescheiden. Diese interessierten sich, allen voran der Präsident des Hauses Antonio Tajani, zu diesem Zeitpunkt, für eine Intensivierung der Grenzsicherungen im benachbarten Niger. Ohne nachhaltigen Erfolg, wie wir schon nach kurzer Zeit zur Kenntnis nehmen mussten.
Der innenpolitischen Profilierung dienende Showmaßnahmen lösen die Probleme nicht. Es geht um nachhaltige Veränderungen.
Nur eine faire und gerechte Wirtschaftsordnung ist die Basis für Frieden und internationale Kooperation. Kriege und innerstaatliche Konflikte sind ein zusätzlicher Auslöser für erzwungene Migration. Auch die vielen Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen, die das Jahr 2015 prägten, resultieren ursächlich aus einer verfehlten Politik. Das Nichtvorhandensein einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik ist oft Auslöser für langwierige und schwer lösbare Auseinandersetzungen in unserer Nachbarschaft, wie etwa in Syrien oder in Libyen. Eine gemeinsame europäische Strategie, der auch ein gemeinsames Auftreten folgt, könnte vieles verhindern oder zumindest in einem friedlichen Rahmen halten. Als Brandbeschleuniger wirkt der massive Export von Waffen, der für einige Mitgliedsstaaten zu einem zentralen Element ihrer Exportstrategie geworden ist. Die EU ist weltweit der zweitgrößte Waffenlieferant, 40% aller Waffenexporte gehen in den Nahen Osten, vor allem nach Saudi Arabien.
Dem Europäischen Parlament ist es gelungen, das zu thematisieren, erstmals 2016 als wir die Mitgliedsstaaten aufforderten den Saudis keine Waffen mehr zu liefern. Immerhin sind die Niederlande sowie Dänemark und Finnland der Empfehlung des Parlaments gefolgt. Der Lobbydruck auf uns MEPs war damals enorm. Manche Regierungen, allen voran Deutschland und Frankreich waren ihm offensichtlich nicht gewachsen. Hier ist sie also wieder diese Doppelbödigkeit. Alle wissen es: es ist falsch und steht klar im Widerspruch zum (vage formulierten) gemeinsamen Konsens, Kriegsparteien nicht mit Waffen zu beliefern, aber für das eigene Land müssen Ausnahmen gelten. So ist es eben, wenn sich das Europaverständnis auf die rechte Beschwichtigungsformel „Europa der Vaterländer“ reduziert.
Ähnliches, mit vielleicht noch gravierenderen Folgen, passierte im Asylbereich. Menschen, die aus politischen, religiösen oder ethischen Gründen ihre Heimat verlassen müssen, haben ein Recht darauf, woanders Zuflucht zu finden. Punkt. Dieses Recht international zu garantieren, ist eine wichtige Erkenntnis aus den tragischen Jahren der europäischen Geschichte. Man muss allen Versuchen das einzuschränken entschieden entgegentreten und genau deswegen kann das Asylverfahren auch nicht als Ersatz für nicht vorhandene Einwanderungsregeln herhalten. Genau das ist aber passiert. Und es ist nicht primär den Menschen anzulasten, die – auch auf Grund gezielter Fehlinformationen – versuchen, solche Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen.
Weil es keinen gemeinsamen politischen Willen gab, die Zuwanderung in die EU zu regeln, wurde das Asylverfahren zum einzigen Ventil. Dafür war es allerdings niemals gedacht. Man begann am Asylverfahren herumzudoktern, ohne eine praktikable Lösung zu finden. Das Dublin-Regime sollte eine einheitliche europäische Asylpolitik gewährleisten, war aber inkonsistent und funktionierte von Anfang an nicht. Vor allem das Prinzip, wonach der jeweilige Ersteintritt in den Schengen-Raum entscheidend ist, war eine fürchterliche Illusion. Das europäische Asylsystem ist ungerecht und nicht zielführend, vor allem untergräbt es das so dringend notwendige Vertrauen der Mitgliedsstaaten und stellt perspektivisch das gesamte Schengen-System in Frage.
Es ist absurd, dass man einen Asylantrag im Prinzip nur an der Schengen Außengrenze stellen kann. Immer wieder habe ich die Wiedereinführung des Botschaftsasyls, die Schaffung von EU Contact-Points in Krisenländern zur Abgabe von Asylanträgen oder die Einrichtung humanitärer Korridore für besonders Schutzbedürftige gefordert. Letzteres findet sich auch in der Parlamentsposition zur Reform der Dublin-Verordnung wieder. Mit der Blockade des Migrationspakets ging auch diese Möglichkeit verloren. Dass es möglich wäre, zeigen einzelne Initiativen, wie das vom italienischen Außenministerium unterstützte Projekt „Corridoi Umanitari“. Die Asylberechtigten werden bereits in den Herkunftsländern überprüft, dann auf sicherem Weg nach Italien gebracht und dort mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen versorgt. Leider blieb das ein Pilotprojekt.
Nicht nur in Fällen, wo Menschen individuell oder auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen verfolgt werden, sondern vor allem im Bürgerkriegsfall muss es für Flüchtende und Vertriebene bereits vor Ort Möglichkeiten geben in Sicherheit und ohne auf Schlepper angewiesen zu sein, Zuflucht zu finden. So war das auch nach dem 2. Weltkrieg immer wieder der Fall. Zum letzten Mal im Verlauf der Jugoslawienkriege. Ohne viel Aufregung wurden die Menschen als Kontingentflüchtlinge auf einzelne Staaten aufgeteilt, mit der grundsätzlichen Perspektive einer späteren Rückkehr. Ähnliches hätte auch im Zug des Syrienkonflikts geschehen müssen.
Dieses Versäumnis war wohl einer der Gründe, dass 2015 alles aus den Fugen geraten ist.
Seit fünf Jahren ist daher das Thema Flucht und Migration in den Händen populistischer Glücksritter. Sie brauchen das Chaos und die „schrecklichen Bilder“. Die daraus resultierenden Ängste vor allem Fremden sind die Basis ihrer Macht. Deshalb gibt es schon seit langem keine lösungsorientierte Diskussion mehr, die ja nur darin bestehen könnte, dass komplexen Problemen differenzierte Lösungen gegenüberstehen müssen.
Diese Stimmen der Vernunft sind immer leiser geworden, weil sie vom Gebrüll der Vereinfacher übertönt wurden. Was vor wenigen Jahren noch als extremistisch galt, ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen, auch auf der europäischen Bühne ist das zu beobachten. Noch vor wenigen Jahren galt die Position der Visegrad Staaten als exzentrisch. Das mit vielen Vorschusslorbeeren erwartete neue Asyl- und Migrationspaket vom September 2020 muss leider als regelrechte Anbiederung verstanden werden. Von ganzheitlicher Problemlösung keine Spur mehr, dafür innenpolitisch motivierte Vortäuschung von Handlungsfähigkeit und Reduktion auf einen einzigen Lösungsansatz: Abweisung. Zynisch nennt sich das dann „Rückführungspartnerschaft“.
Keines der beschriebenen Probleme lässt sich auf diese Weise lösen, dringend notwendige Maßnahmen werden auf die lange Bank geschoben. Auf die Dauer wird das nicht funktionieren, das hat uns 2015 eindringlich vor Augen geführt. Dieses Verhalten ist nicht nur töricht, es gefährdet die gemeinsame Substanz und das wechselseitige Vertrauen.