Letzte Woche war ich in Ostende. Viele finden diesen Ort schrecklich. Ein touristischer Rummelplatz, dem man seine ruhmreiche Geschichte nicht mehr ansieht. Vor hundert Jahren war es ein mondänes Seebad, hier vergnügte sich halb Europa. Ich mag Ostende, weil ich hier zum ersten Mal das Meer sah. Am Weg von Schärding nach London. Ostende das war für mich als Kind die große weite Welt. Machte doch der Wien-Ostende Express täglich in meinem Heimatstädtchen Halt. Als Kind hatte ich mir immer gewünscht, einmal dort hinzukommen, wo dieser sagenhafte Zug endete. Ein Zug, der ganz anders war, als jene Züge, die auf dieser Strecke normalerweise verkehrten.
Auch als Abgeordneten in Brüssel packt mich noch hin und wieder die Sehnsucht nach diesem Ort. So auch in der letzten Woche vor der Sommerpause. Seeluft macht den Kopf frei und öffnet den Horizont. Diesmal war meine Begegnung mit Ostende anders. Ich konnte meinen Kopf nicht freikriegen. Eine Installation, von der Kommunalverwaltung an der Strandpromenade angebracht, zeigte ein Bild, auf dem Soldaten zu sehen sind, die die Stadt 1944 befreiten. Ich dachte an Stefan Zweig, der diesen Augenblick wohl gerne erlebt hätte. Zweig war oft an diesem Strand und im nahegelegen De Haan. Auch im Sommer 1914. Er berichtet (1) vom ausgelassenen Leben in diesen Tagen. „ Aber plötzlich schob sich etwas Neues dazwischen. Plötzlich sah man belgische Soldaten auftauchen, die sonst nie den Strand betraten. Maschinengewehre wurden – eine sonderbare Eigenheit der belgischen Armee – von Hunden auf kleinen Wagen gezogen.“
Zweig berichtet auch, wie lächerlich ihm und seinen Künstlerfreunden, mit denen er in einem Strandcafe saß, dieses martialische Gehabe vorkam und wie verärgert ein belgischer Offizier reagierte als die Tischgesellschaft einen der Hunde zu streicheln versuchte. Die meisten betrachteten diese Szene als „dummes Herummarschieren“, so auch Zweig. „Mir schien es völlig absurd, daß, während Tausende und Zehntausende von Deutschen hier lässig und fröhlich die Gastfreundschaft dieses kleinen, unbeteiligten Landes genossen, an der Grenze eine Armee einbruchsbereit stehen sollte.“ Wenige Tage später geschah das Unerwartete. Österreich-Ungarn erklärte Serbien den Krieg und setzte damit eine allen Beteiligten im Voraus bekannte Kettenreaktion in Gang. Zweig, der immer noch nicht an das Unvorstellbare Glaubende war glücklich, noch ein Zugticket nach Wien zu bekommen: „Denn dieser Ostendeexpreß wurde der letzte Zug, der aus Belgien nach Deutschland ging…….Wir standen in den Gängen, aufgeregt und voll Ungeduld….niemand vermochte ruhig sitzen zu bleiben oder zu lesen….Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: ich fuhr in den Krieg.“
Die Passagiere dieses letzten Zuges wurden unvermutet zu Zeugen des völkerrechtswidrigen Einmarsches des Deutschen Reichs in Belgien. Zweig beschreibt, wie sehr die Menschen in den Bahnhöfen in Deutschland und Österreich, an denen der Zug hielt bereits von der Kriegsbegeisterung erfasst waren und dass es ihm selbst schwerfiel, davon nicht unbeeindruckt zu bleiben. Mit Sicherheit hat der Ostende-Express damals auch in Schärding angehalten und Zweig wird wohl den alten Männern meiner Kindheit begegnet sein, die damals als junge Freiwillige wohl ebenso kriegsbegeistert waren. Solche ganz und gar unsommerliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, auf der Strandpromenade in Ostende, heuer im Juli 2014. Und ich fragte mich, ob wir nicht auch jetzt – hundert Jahre danach – ganz nahe am Abgrund dahin spazieren.
Sollte man nicht die Ereignisse rund um die Ukraine, um Gaza, in Syrien, im Irak und in Libyen als Menetekel dräuenden Unheils sehen? Sollten wir nicht alles daran setzen, dass sich politische Vernunft durchsetzt. Dass Diplomatie und Staatskunst zum Zuge kommen. In Europa bestehen dafür gute Voraussetzungen. Wir haben in der Tat viel aus unserer unheilvollen Geschichte gelernt. Vielleicht sollten wir in dieser angespannten, historisch aufgeladenen Situation auf den australischen Historiker Christopher Clark hören, der mit seinem Bestseller „Die Schlafwandler“ eine für die gegenwärtige politische Lage sehr hilfreiche Geschichte des Ersten Weltkriegs verfasst hat. Und wir sollten auch beachten, was er in seiner Rede bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele vor wenigen Tagen sagte. Er meinte, wir könnten eine Wiederholung dieser schrecklichen Dinge verhindern, indem er auf das europäische Einigungswerk verwies, das zwar gegenwärtig „eine schlechte Presse“ habe: „Aber wer die EU wie ich von außerhalb betrachtet …. sieht in ihr einen Akt transnationalen politischen Willens, der zu den größten Errungenschaften der Geschichte der Menschheit gehört.“ Das sollte uns nicht zur Selbstzufriedenheit verführen. Aber wir sind immerhin auf halbem Weg.
Stefan Zweig und seine Freunde, die mit ihm den Sommer 1914 auf dem Strand von Ostende verbrachten, die würden sich vor Fassungslosigkeit die Augen reiben, könnten sie erleben, was sich in diesen hundert Jahren verändert hat. Sie, die damals von einem Geeinten Europa geträumt hatten, würden wohl auch die hässlichen Bauten in Kauf nehmen, die heute den Strand verunzieren. Und auch, dass es keinen Ostende–Express mehr gibt.
1) Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Erinnerungen eines Europäers, 38. Auflage, Frankfurt am Main 2010, S. 251 ff.