Ich freue mich schon auf meine Mairede, morgen in meiner Geburtsstadt Schärding, an einem der schönsten Stadtplätze Europas. Eine der frühesten Erinnerungen meiner Kindheit ist ein Schaukasten im Nachbargrundstücks meines Elternhauses. Nicht irgendwie mittig, sondern haarscharf an der Grenze zu uns. Ein rotgestrichener Holzrahmen mit einer Glasscheibe versehen, an zwei rostigen Profilträgern befestigt und quasi gekrönt mit den drei Pfeilen, dem Symbol der SPÖ, deren Parteigänger sich damals stolz Sozialisten nannten. Der Schaukasten war verschlossen. Den Schlüssel bewahrte der Nachbar auf. In regelmäßigen Abständen wechselte er den Inhalt aus. Er war Kranführer im nahegelegenen Steinbruch. Er hob sich deutlich von den anderen Steinbrucharbeitern ab, die in unserem Dorf, das eigentlich ein Bauerndorf war, wohnten.
Meine Eltern besaßen eine Gemischtwarenhandlung. Das war damals noch kein Selbstbedienungsladen, man wurde bedient und man hatte viel Zeit für die Kundschaft. Alle Bewohner des Dorfes kamen regelmäßg vorbei. Die sozialen Unterschiede waren klar ersichtlich. Die Bauern bezahlten bar, während der Großteil der Steinbrucharbeiter „aufschreiben“ ließ und erst zum Monatsende bezahlte. Das Geld war eben knapp, aber für den mitunter exzessiven Konsum alkoholischer Getränke reichte es trotzdem. Die Krämerei meiner Eltern war das Kommunikationszentrum des Dorfes. In den Abendstunden mutierte es regelmäßig zum Wirtshaus. Von der Arbeit heimkehrende Steinbrucharbeiter, Tagelöhner, Jagdkumpanen meines Vaters und Rentner, denen man die Verletzungen des Krieges, körperlich und psychisch, anmerkte. Fast ausschließlich waren es Männer, die an der Plage und Mühe ihrer Arbeit litten, irgendwie mit der neuen Zeit, die ins Dorf einzog, nicht zurechtkamen und ihren Frust im Alkohol ertränkten. Tagtäglich. Ich war schon damals neugierig und hörte gerne zu. Manches verstand ich nicht, weil ich mir nichts darunter vorstellen konnte. Etwa, wenn es um Stalingrad und „den Russen“, um Tapferkeit und Ehre oder warum „wir“ den Krieg verloren, ging.
Manches lernte ich zu verstehen. Warum manche Geld hatten, um sich Lebensmittel zu kaufen und andere nicht. Warum Väter ihre Kinder schlugen oder warum vor allem die Steinbrucharbeiter – sie litten an der Staublunge – alle „vor der Zeit“ starben. Schon als Kind begann ich zu begreifen, welche Auswirkungen soziale Ungleichheit hat. Unsere Eltern hatten wenig Zeit und so zog es meinen Bruder und mich oft zu den Nachbarn. Der Nachbar mit dem Schaukasten hatte es mir besonders angetan. Einmal, weil er drei Töchter hatte, die, etwas älter als wir, sich um uns annahmen. Zum anderen aber, weil er anders war. Ruhiger und besonnener, man hörte ihn nicht mit seinen Kindern schreien und auch dem Alkohol war er nicht zugeneigt. Er kam ohne Umwege nach der Arbeit nachhause, verbrachte viel Zeit im Garten und besaß auch Kleintiere. Wenn er die Abendnachrichten im Radio hörte, mussten wir ruhig sein. Er interessierte sich für das Weltgeschehen. Der Aufstand in Ungarn ist meine erste politische Erinnerung. Alles aus dem Radio. Und Zeitschriften und Zeitungen lagen auch herum. Andere als in meinem Elternhaus, wo katholisches Schrifttum in seiner ganzen Üppigkeit zur Verfügung stand.
Auch die Inhalte im Schaukasten standen im Gegensatz zur Umgebung, die von einer geradezu atavistischen Ursprünglichkeit geprägt war und in die die Moderne erst einzuziehen begann. Im Schaukasten war von sozialem Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit die Rede, hier wurde das ASVG, das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz abgefeiert und hier erfuhr ich auch, dass es einen Weltfrauentag gibt. Auch mit dem Wort Arbeitszeitverkürzung wurde ich erstmals auf diese Weise konfrontiert. Die Sprache glich jener aus den Radionachrichten. Hier wurde nicht geflucht. Die Plakate versprachen politische Lösungen für die Probleme unter denen die Menschen im Dorfe litten. Aber auf beklemmende Weise standen sie nicht im Bezug dazu. Niemals hörte ich jemanden, die Wörter aus dem Schaukasten verwenden, die ich als Schulbub zu buchstabieren versuchte. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals jemanden gesehen zu haben, der vor dem Schaukasten innehielt. Aber durch ihn war die neue, die moderne Zeit im Dorf präsent. Plakativ. Irgendwann einmal zerbrach die Scheibe, die aus Blech angefertigten drei Pfeile verschwanden, bis dann der Schaukasten aufgeben wurde. Jahrelang erinnerten die aus dem Boden ragenden Profilträger noch daran, dass es einmal jemanden gegeben hat, der sich als Außenposten einer anderen, besseren Welt verstand. Wann das alles passierte, weiß ich nicht mehr genau. Ich bin aus dem Dorf weggezogen und nur mehr sporadisch nachhause gekommen. Vor allem hat sich das Dorf selbst zu seiner Unkenntlichkeit verändert. In seiner damaligen Gestalt ist es nicht mehr existent.
Das Verschwinden des Schaukastens dürfte freilich zu einem Zeitpunkt vor sich gegangen sein, als die Sozialdemokratie in meinem Dorf erstmals den Bürgermeister stellte. Dies geschah 1967 bei den oberösterreichischen Landtags- und Gemeinderatswahlen. Erstmals und zum einzigen Mal war die oberösterreichische Sozialdemokratie die stärkste Kraft im Landtag. Viele Gemeinden wechselten bei dieser Gelegenheit den Bürgermeister. Meine Gemeinde sollte von da an mehr als vier Jahrzehnte von der Sozialdemokratie regiert werden. Der Wechsel damals war eine Sensation. Seit der Einführung einer demokratischen Gemeindeverfassung nach dem Ersten Weltkrieg hatten immer nur die Vertreter der Bauernschaft das Sagen gehabt. Der neue rote Bürgermeister war bezeichnenderweise der Gastwirt, beim dem die Steinbrucharbeiter einkehren zu pflegten. Der Bürgermeisterwechsel hatte nicht nur mit den zweifelsohne vorhandenen persönlichen Fähigkeiten des Kandidaten zu tun. Vielmehr war er Resultat eines Prozesses, der sich in den 1960er Jahren über ganz Westeuropa auszubreiten begann. In seinem Gefolge kam es zu gravierenden politischen Machtverschiebungen, die so etwas wie ein Goldenes Zeitalter der Sozialdemokratie einleiteten. Es war die Zeit, in der sich Menschen, wie ich, aus innerer Überzeugung der Sozialdemokratie anschlossen. Nicht, weil es uns in die Wiege gelegt war, sondern, weil wir von der Vorstellung der Gleichheit der Menschen überzeugt und von der Vorstellung getrieben waren, durch die richtigen Argumente die Welt zum Besseren verändern zu können. Nicht von ungefähr sprach man daher damals auch vom „Genossen Trend“, der für ein stetiges Wachstum der Sozialdemokratie sorgen sollte.