Rede anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Fier am 24.11 2012
Es freut mich, hier bei Ihnen sein und diese hohe Auszeichnung entgegen nehmen zu dürfen.
Vor einem Vierteljahrhundert wäre so etwas undenkbar gewesen. Ich hätte unmöglich nach Albanien reisen können und schon gar nicht das Wort ergreifen können. Albanien das war „terra incognita“, ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte. Ganz weit weg, obwohl geographisch nahe.
Albanien das war unzugänglich, verschlossen und abgeschottet. Seine Menschen durften es nicht verlassen und auch für Neugierige aus dem Westen war es nicht möglich, dorthin zu gelangen. Ich erinnere mich an einen Sommerurlaub im Norden Korfus – man konnte die Küste Albaniens erkennen – so nah und dennoch undenkbar, jemals dorthin zu gelangen. Ich wünschte mir genau das und mit den Menschen in Kontakt zu treten. Eine solche Möglichkeit gab es nicht. Und schon gar nicht für die Menschen dort. Mir ließ der Gedanke keine Ruhe, dass sie wohl jeden Abend die Lichter der griechischen Touristenorte sehen würden. Und wie trostlos wohl dieses Gefühl sein müsste, zu wissen, dort niemals hinkommen zu können. Was wog schon die Neugierde von Menschen wie mir gegenüber der Sehnsucht der Menschen in Albanien, der grausamen Realität entfliehen zu können. Albanien war auf eine seltsame Weise isoliert, wie kaum ein Staat auf der Welt.
Das einzige Lebenszeichen, das nach außen drang war Radio Tirana. Ob man wollte oder nicht, wurde man in meiner Jugend, sobald man nach Sendern suchte, mit den von martialischer Musik angekündigten Attacken des Senders gegenüber allen revisionistischen und reformistischen Abweichlern überall auf dieser Welt, konfrontiert.
Diese Zeiten sind vorbei, zum Glück. Die Menschen in Albanien können heute ihr Land, wann immer sie wollen, verlassen. Aber sie müssen plötzlich die Erfahrung machen, dass sie nicht immer willkommen sind. Das Interesse des Westens an Albanien ist einem gefährlichen Desinteresse gewichen. Schnell werden Vorurteile bemüht: „failed state“, „die werden noch lange brauchen“ oder „was geht uns das alles an“.
Diese Überheblichkeit mancher Kreise im Westen ist unfair und kurzsichtig. Vor allem ist sie ungerecht. Albanien hat, seit es seine Freiheit wiedergewonnen hat, unendlich viel geleistet. Kein anderes Land des ehemaligen Ostblocks hatte es schwieriger.
Vieles liegt noch vor Ihnen, aber Albanien ist im letzten Vierteljahrhundert einen weiten Weg gegangen. Das Licht am Ende des Tunnels ist ganz deutlich sichtbar.
Es gilt noch einiges an Hindernissen zu überwinden und die Gefahr, auf dieser letzten Etappe zu stolpern, besteht. Die Korruption, das Krebsübel vieler Gesellschaften muss mit aller Entschiedenheit bekämpft werden.
Nur wenn Rechtstaatlichkeit auf allen Ebenen der Gesellschaft vorherrscht und Willkür der Berechenbarkeit weicht, wird es den ersehnten allgemeinen Wohlstand geben. Rechtstaatlichkeit bedeutet ja vor allem die Sicherheit, sein Leben selbst gestalten zu können und an den eigenen Leistungen gemessen zu werden. Eine solche Sicherheit ist die elementare Voraussetzung für die für den Aufschwung notwendige Motivation der Menschen.
Der ersehnte Aufschwung wird nur dann nachhaltig sein, wenn möglichst viele davon profitieren. Gesellschaftliche Ungleichheit ist eine schlechte Basis. Wohlstand, der auf Ausbeutung und Benachteiligung beruht, ist auf Sand gebaut. Ungleichheit hat fatale Konsequenzen. Wir dürfen es niemals zulassen, dass Menschen, nur auf Grund ihrer sozialen Stellung benachteiligt werden. Gleichheit ist ein Grundprinzip des Europäischen Sozialmodells, genauso wie Freiheit und Solidarität.
Wir dürfen es nicht zulassen, dass einer dieser Werte verabsolutiert wird. Mit anderen Worten, es wird nur dann wirkliche Freiheit geben, wenn auch Gleichheit existiert und umgekehrt. Solidarität bedeutet den Willen der Gemeinschaft, den Einzelnen nicht alleine zu lassen und ihn damit zu überfordern.
Wir beobachten gegenwärtig in Europa einen Trend, der ausgehend von den USA, einem Mantra gleich, die Freiheit des Individuums zum einzigen gesellschaftlichen Wert hochstilisiert und den Wettbewerb zur alleinigen Antriebsquelle des Fortschritts erklärt.
Dies ist ein Irrweg. Gegenwärtig können wir deutlich beobachten zu welch negativen Konsequenzen eine solche Verirrung führt. Die Ungleichheit in Europa steigt an und schwächt den Kontinent im Inneren und nach Außen. Sie befördert die Unzufriedenheit der Bürger, schafft Angst und stärkt den Nationalismus. Gleichzeitig verringert sie die Binnennachfrage und schwächt damit das Wachstum, was wiederum die Wettbewerbsfähigkeit Europas unterminiert.
Es gut zu wissen, dass hier in Fier die Uhren anders ticken. Ich bin sehr froh, dass meine Freunde in Ihrem Land, der Bürgermeister ihrer Stadt, Baftir Zeqaj und der im Kreis der S&D Fraktion sehr geschätzte Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Edi Rama meine Einschätzung teilen und wissen, dass wirtschaftliches Wachstum nur dann nachhaltig ist, wenn möglichst viele daran teilhaben können. Es gibt viele Beispiele in der europäischen Geschichte, dass ein solcher Weg funktioniert.
Eines der reichsten Länder Europas und der Welt, Schweden hat es uns vorgemacht. Als sich Pier Albin Hanson mitten in der Weltwirtschaftskrise, 1932 daran machte, den schwedischen Wohlfahrtstaat zu begründen, da galt dieses Land als Armenhaus des Kontinents. Das unbedingte Festhalten an Demokratie und Rechtsstaat und der Wille zum sozialen Ausgleich und zum Kompromiss sind die wichtigen Ingredienzien dieses Erfolgsrezeptes.
Gerade zu einem Zeitpunkt, wo Albanien den hundertsten Geburtstag seines Staatswesens feiert, ist es – neben dem berechtigten Stolz über vergangene Leistungen und überwundene Probleme – auch angebracht in die Zukunft zu blicken. Es ist nicht meine Aufgabe Ratschläge zu erteilen. Das steht mir auch nicht zu.
Aber wenn man in die Zukunft blicken will, dann ist es wichtig, zu wissen, wie es anderen europäischen Staaten gelungen ist, einen Weg des Wohlstandes und des sozialen Ausgleichs zu finden und ihn erfolgreich zu beschreiten.
Das europäische Projekt bietet ja vor allem die Möglichkeit von einander zu lernen und die Vielfalt der unterschiedlichen Erfahrungen fruchtbar zu machen.
Es ist ein wunderbares Gefühl, zu wissen, dass just zu diesem historischem Zeitpunkt sich Albanien klar zu einer europäischen Perspektive bekennt und dorthin zurückkehrt, wo es hingehört. Vorbei sind die Zeiten der Isolation, wo die Menschen darunter litten das Land nicht verlassen zu können und wo Leute wie ich sehnsüchtig versuchten, zumindest einen Blick auf das Land werfen zu können.
Albanien ist auf dem Weg in eine europäische Zukunft, und das ist gut so. Gemeinsam werden wir die momentan vielen noch unüberwindbar vorkommenden Schwierigkeiten überwinden, die dem Ziel, dass ihr Land zum vollwertigen Mitglied der europäischen Gemeinschaft wird, noch im Weg stehen.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die hohe Auszeichnung, die Sie mir zukommen lassen. Ich betrachte es als Auftrag, mich für die europäische Perspektive Albaniens einzusetzen. Ich werde dies mit voller Kraft tun, beflügelt durch Ihr Vertrauen, aber auch in der Gewissheit, dass gerade die Stadt Fier eine historische Verknüpfung mit Europa aufweist, wie wenig andere Städte.
Das antike Apolonia, dessen Erbe Ihre Stadt angetreten hat, war eine der Geburtsstätten der europäischen Zivilisation. Hier wurde schon vor über zwei Jahrtausenden diskutiert, was uns auch heute noch bewegt: Demokratie oder Oligarchie, Autonomie und Souveränität. Schon Aristoteles beschäftigte sich mit den Geschehnissen in Ihrer Stadt. Wir können daraus die Erkenntnis mitnehmen, wie sehr das gegenwärtige Europa auf diesen Fundamenten beruht.
Der Blick zurück lehrt uns aber auch, dass es immer möglich ist, neu anzufangen.
Einen solchen Augenblick sehe ich jetzt gekommen, hier in Fier, in Albanien und in Europa. Wer solche Augenblicke versäumt, das wissen wir auch, den bestraft die Geschichte.