Warum Symbolpolitik bei der Lösung der Migrationsfrage versagt hat
Ein absurder Wahlkampf geht zu Ende. Die wirklichen Probleme, um die es bei Wahlen eigentlich gehen sollte, nahmen wenig Raum ein. Oft hatte man den Eindruck, als würde nicht in Österreich gewählt, sondern in Phantasia: Mittelmeerroute, Balkanroute, Islam und wieder Islam. In allen Facetten: Kindergärten, Burkinis, Burkas und Kopftücher. Angst und negative Gefühle machten sich breit und vergifteten das politische Klima. Inszenierung allerorten, Scheingefechte und dreiste Übertreibungen ersetzten politische Argumente. Die unentwegt von verantwortungslosen Medien geschürte Angst vor dem Fremden, den Anderen ließ keinen Raum für Differenzierung. Die Flüchtlinge, die Ausländer, die Fremden wurden als die neuen Sündenböcke dämonisiert.
Seit dem denkwürdigen Sommer 2015 dreht sich alles um die „Flüchtlinge“. Das Land ist tief gespalten. Fakten spielen kaum mehr eine Rolle. Voreingenommenheit bestimmt die politische Debatte. Sachlichkeit und Lösungsorientierung bleiben auf der Strecke. Meinung ersetzt die Analyse. In einem solchen Klima gedeihen Ängste. Vor allem dann, wenn die Politik sich auf kurzfristige Scheinlösungen beschränkt und versucht mit dem Schüren von Ängsten Stimmen zu gewinnen. Obwohl die Zahlen der Asylwerber auf dem niedrigsten Stand seit 2004 sind, wird die Situation (noch immer) zum Ausnahmezustand hochstilisiert. Alles wird nur mehr durch diesen Meinungsfilter gesehen, wichtigere Probleme werden negiert und positive Nachrichten nicht mehr wahrgenommen. Eine brandgefährliche Situation, weil sie die Glaubwürdigkeit rationalen politischen Handelns unterminiert. Die Folgen werden noch lange nach diesem Wahltermin spürbar sein. Wenn uns die Zukunft der Demokratie etwas bedeutet, dann müssen wir alles tun, diesen Nebel zu durchdringen. Wir müssen zurück zu den Fakten, die Probleme benennen und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Und die gibt es.
Europa: Problem oder Lösung?
Immer wieder heißt es: Die EU hat das Flüchtlingsproblem nicht im Griff. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil nur durch ein gemeinsames Vorgehen die gigantischen Herausforderungen bewältigt werden können. Und das erwarten die Menschen eigentlich von Europa. Sie sind enttäuscht, weil das so gar nicht funktioniert. Der Grund dafür sind die nicht vorhandenen gesamteuropäischen Instrumente. Trotz häufiger Versuche im Lauf der letzten Jahrzehnte haben sich die Mitgliedstaaten nicht zu einem einheitlichen System durchringen können. Gemeinsame Kontrollen an den Außengrenzen wollte man nicht, weil das die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten eingeschränkt hätte. Ein europäisches Einwanderungsgesetz, das ähnlich wie in Kanada eine bestimmte Anzahl von Plätzen für Zuwanderer vorgesehen hätte, um die sich die Menschen in einem nachvollziehbaren Verfahren bewerben hätten können, wurde von Deutschland verhindert.
Europa hat sich auch nicht um die Fluchtursachen gekümmert, ja mit seiner Handelspolitik den Menschen geradezu ihre Lebensgrundlage geraubt. Zudem wurden die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zusammengestrichen. Das trifft im Besonderen auf Afrika zu. Dazu kamen kriegerische Auseinandersetzungen in der weiteren Umgebung, an denen der Westen nicht unbeteiligt war. Im Nahen Osten oder im Norden Afrikas. Um die Menschen in den Flüchtlingslagern der Herkunftsregionen kümmerte man sich unzureichend. Man war auch nicht bereit Kontingente für besonders Schutzbedürftige festzulegen, die eine sichere Einreise über humanitäre Korridore sicher ermöglicht hätte. Weil das alles nicht funktionierte und es keine klaren Strukturen gab, wurde das Asylwesen zur einzigen Möglichkeit nach Europa einzuwandern. Dafür ist es aber nicht gedacht. Es gab unzählige Versuche, das Asylsystem einzuschränken. Allesamt waren sie vergeblich, weil man nicht bereit war, das Problem an der Wurzel zu lösen. Diese gescheiterte Politik hat einen Namen: Dublin. Das bedeutet, für Asylsuchende ist immer das Ersteintrittsland zuständig. Natürlich kann das nicht funktionieren. Verantwortlich für Verfahren sind die Mitgliedstaaten mit einer Außengrenze. Betroffen sind aber alle Mitgliedstaaten. Von der großen Anzahl der Asylsuchenden überfordert, ließen einzelne Länder die Asylsuchenden einfach weiterreisen. Ein unwürdiges Hin- und Herschieben von Verantwortung setzte ein. Dublin wurde zum andauernden Selbstbetrug und zum Grundstein für die Flüchtlingskrise, die eigentlich eine europäische Solidaritätskrise ist.
Wenn man die Dinge schleifen lässt…
Jahrelang hatte man eine Politik des Nichthandelns, des Wegschauen und des Kleinredens betrieben. Migration, Asyl, Flucht und Vertreibung waren keine vorrangigen Themen. In den Staatskanzleien kannte man nur ein Mantra: Sparen, sparen und wieder sparen. Vor allem zu Lasten der sozial Schwachen. Das soziale Netz wurde immer mehr durchlöchert und viele fühlten sich im Stich gelassen. Leichtfertig überließ man das Migrationsthema der rechten Propaganda. Weder wurden die Sorgen und Nöte der verunsicherten „kleinen Leute“ ernst genommen, noch setzte man sich mit den Bedenken der humanitären Organisationen auseinander. Augen zu und nur nicht Anstreifen, so ging es jahrelang dahin. Das trug maßgeblich dazu bei, dass sich Mythen und Unwahrheiten festsetzten. Je offenkundiger dies wurde, desto mehr versuchte man von dieser Welle an Emotionen zu profitieren und sie zu politischem Kleingeld zu münzen. Provinzpolitiker aller Schattierungen gefielen sich in dieser neuen Rolle. Im Sommer 2015 sollte sich das alles rächen. Hunderttausende Menschen machten sich auf den Weg. Für viele Menschen waren diese beinahe apokalyptischen Bilder beunruhigend. Die überall spürbare Verunsicherung mobilisierte Ängste, vor allem dort, wo es keinen persönlichen Kontakt mit den Flüchtenden gab. Die Regierenden schwiegen. Es war ein dröhnendes Schweigen. Wochenlang ließ sich niemand von den Verantwortlichen blicken. Die Bilder aus Traiskirchen schockierten eine ganze Nation. Gleichzeitig mobilisierten sich freiwilliges bürgerschaftliches Engagement in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Ohne diese Aktivitäten wäre es zu einem Kollaps der öffentlichen Ordnung gekommen.
Dichtung und Wahrheit
Die gleichen Kreise, die sich damals vor ihrer Verantwortung drückten gefallen sich nun, von naiven Gutmenschen zu reden. Gebetsmühlenartig wird von einer Armada von Politikern wiederholt, „NGO-Wahnsinn“ und vorsätzliche Willkommenskultur wären verantwortlich, dass sich die Menschen nach Europa aufmachen. Damit wird auf perfide Weise von jahrelanger Untätigkeit abgelenkt. Statt die Probleme offen anzusprechen und mutig zu lösen, werden Scheinlösungen propagiert: Symbolische Politik, also eine Politik des „So tun, als ob“. Man wird halt schneller populär, wenn man dem Volk nach dem Mund redet und einfache (Schein)Lösungen propagiert. Den harten Typen darzustellen, der ja die Probleme nicht wirklich lösen muss, ist kurzfristig einträchtig. Symbolpolitik braucht die Vereinfachung: Gut-Böse, „Wir“ und die Anderen. Solches Schwarz Weiß Denken wird aber der Wirklichkeit nicht gerecht. Diese ist bunt, differenziert und komplex.
Immer wieder heißt es, Angela Merkels Selfies und die „Bahnhofsklatscher“ hätten einer regelrechten Invasion von Fremden die Bahn geebnet. Orbán versucht es gar verschwörungstheoretisch und sieht einen von George Soros erfundenen Masterplan zur Unterwanderung des christlichen Abendlandes dahinter. Die Wahrheit zu finden, ist ganz einfach. Man muss die Dinge bloß im zeitlichen Ablauf betrachten. Merkels Selfies, die Errichtung des ungarischen Grenzzauns, das „Durchwinken“ und die immer wieder zitierten Willkommensszenen standen am Ende einer Kette von Ereignissen. Am Anfang war das Versagen des Westens, in den Kriegsregionen und in den Teilen der Welt, wo bittere Not herrscht. Weder war man in der Lage für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen, noch bereit, die Versorgung der Menschen nahe der Krisengebiete zu garantieren. Schon seit Anfang 2015 hatte die internationale Gemeinschaft immer wieder auf den drohenden Kollaps der chronisch unterfinanzierten Versorgungsstrukturen in den Lagern im Libanon und im Nordirak hingewiesen. Niemand wollte diese Rufe hören. Im Gegenteil, jene die heute bei jeder Gelegenheit betonen man müsse „vor Ort“ helfen, waren für die Kürzung der Hilfsgelder verantwortlich. Auch in Österreich. Der Flüchtlingstreck wurde ausgelöst, weil die durchschnittlichen monatlichen Aufwendungen von 28$ pro Flüchtling auf 13$ gesunken waren. Die Folgen solch kurzsichtiger Politik liegen klar auf der Hand.
Dazu kommt das verantwortungslose Handeln nationalistischer Politiker. Ungarns Orbán schlug das Angebot einer europäischen Lösung aus und setzte, aus innenpolitischen Motiven, auf Grenzen dichtmachen und Abschottung. Das ließ seine Popularitätswerte ansteigen. Und es kümmerte ihn wenig, dass seine Ankündigung einen Grenzzaun zu Serbien zu errichten einen regelrechten Ansturm auslöste und erst die Geschäftsgrundlage für kriminelle Schlepperbanden schuf. Die 71 Toten von Parndorf hätten Mahnung genug sein sollen. Nach heutigem Wissenstand wäre diese Tragödie vermeidbar gewesen, wenn damals die ungarischen Behörden die ihnen zugänglichen Daten ausgewertet hätten. Aber man war mit anderem beschäftigt. Ungarns Flüchtlingspolitik war auf Zuspitzung ausgerichtet. Daher auch die chaotischen Zustände damals am Keleti Bahnhof in Budapest. Die meisten haben vergessen, dass die nächtliche Grenzöffnung, die Merkel und Faymann einvernehmlich vornahmen einen ganz banalen Grund hatte. Orbán hatte die Flüchtlinge in hunderte Busse gesteckt und sie an die österreichisch-ungarische Grenze verfrachtet. Für die beiden Regierungschefs gab es keine wirkliche Alternative. Deutschland hätte seine Grenzen dichtmachen können, aber das wäre sicher nicht im Interesse Österreichs gewesen. Auf keinen Fall stimmt, dass die Grenzöffnung den Zustrom ursächlich ausgelöst hat. Sie war ein pragmatischer Versuch Kontrolle über die Abläufe zu bekommen. Tempo und Druck reduzieren, hieß es damals. Das dauerte fast zwei Monate. Zu stark war der Druck geworden, über die sozialen Medien hatten sich viral Informationen über die Fluchtwege verbreitet, das Ganze geriet außer Kontrolle. Das wiederum rief kriminelle Schleppernetzwerke auf den Plan. Trittbrettfahrer fühlten sich magisch vom Flüchtlingstreck angezogen. Plötzlich war alles möglich.
Der Türkei- Deal als europäische „Realpolitik“
Schon Ende September begannen die Kommission und einzelne Mitgliedstaaten mit der Türkei über eine Kooperation zu verhandeln, deren Ziel die Eindämmung und Verlangsamung der Flüchtlingsströme aus der Türkei war. Von einer Notbremse war die Rede, das deutsche Wort „Realpolitik“ war plötzlich in aller Munde. Dieser Begriff wird immer dann verwendet, wenn man meint, im Namen politischer Zielsetzungen, moralische Bedenken ignorieren zu müssen. Ohne Zweifel gibt es ernst zu nehmende menschenrechtliche Einwände gegen das, was später als Türkeideal bekannt werden sollte. Eine „Koalition der Willigen“ zu der lange Zeit auch Österreich gehörte, wollte eine europäische Lösung, die auf den Prinzipien Verlangsamung des Zustroms aus der Türkei sowie Verteilung der bereits in Europa befindlichen Flüchtlinge (Relocation) und deren anschließender Integration beruhte. Warum es fast ein halbes Jahr dauerte, bis der Türkei-Deal umgesetzt wurde, hat viele Ursachen. Einmal mussten organisatorische Voraussetzungen geschaffen werden, sogenannte Hotspots, die eine ordnungsgemäße Registrierung ermöglichten. Sowohl in der Türkei als auch in der EU gab es aber auch Bedenken und Widerstände. Viele bezweifelten, ob die Türkei überhaupt paktfähig wäre, andere wollten verhindern, erpressbar zu sein. Nicht wenige bezweifelten, ob es wirklich um eine solidarische europäische Lösung gehen sollte, oder das dominante Deutschland, wie in der Eurokrise bloß seine eigenen Interessen durchsetzen wollte. Das alles ließ viele zögern. Aber je länger nichts passierte, desto mehr wuchs die Ungeduld. Vor allem in den Ländern, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen hatten. Die Integration ging zudem schleppend voran, Asylverfahren wurden hinausgezögert und das Krisenmanagement funktionierte nicht. Und es kam zu spektakulären Vorfällen, wie jene in der Kölner Silvesternacht. Im Jänner 2016 begann die Stimmung zu kippen.
Fake-Politik: „Schließung“ der Balkanroute
Österreich, das noch bei der Ratstagung im Dezember 2015 seine Ständige Vertretung in Brüssel für ein Treffen der „Koalition der Willigen“ zur Verfügung stellte, legte innerhalb von zwei Monaten eine 180 Grad Wende hin. Der unter dem Einfluss des bayerischen Ministerpräsidenten und Merkel Gegenspielers Horst Seehofer stehende Sebastian Kurz hatte seinem Bundeskanzler Werner Faymann das Heft aus der Hand gerissen und sich an die von Viktor Orbán orchestrierte Visegrád Gruppe angedient. Diese Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei) hatten sich seit Anbeginn gegen eine europäische Lösung gestellt. Aus unterschiedlichen Gründen. Ein Motiv war aber überall präsent, die Krise zu nutzen um Stärke zu suggerieren. Um die Lösung der Krise selbst ging es dabei freilich nicht. Wie Anfang März 2016.
Je wahrscheinlicher der Türkeideal wurde, desto größer auch der Drang zu innenpolitisch motiviertem Aktionismus. Drei Wochen vor dem damals schon ausverhandelten Inkrafttreten des Türkei- Abkommens trafen sich auf österreichische Initiative die von der Balkanroute betroffenen Staaten zur Westbalkankonferenz – wohlgemerkt ohne Deutschland und Griechenland – den Protagonisten einer europäischen Lösung. Es dauerte immerhin noch bis zum 9. März, bis Slowenien schließlich die Balkanroute offiziell schloss, nachdem Mazedonien, dem ungarischen Vorbild folgend, schon seit einiger Zeit begonnen hatte den Grenzübertritt durch administrative Maßnahmen zu verzögern. Das war nicht die Lösung des Problems. Der Zustrom nach Europa ließ deswegen schlagartig nach, weil das Türkei-Abkommen am 18. März in Kraft trat. Im Jahresschnitt waren es danach täglich weniger als 100 Personen, die auf den Hotspots der griechischen Inseln registriert wurden. Die medial zelebrierte Schließung der Balkanroute hatte keinerlei Effekt. Sie bewirkte freilich, dass Zehntausende irgendwo auf der Balkanroute hängen blieben und versuchten, trotzdem weiterzukommen.
Eine ideale Grundlage für die Geschäftspraktiken krimineller Menschenschmuggler. Gemäß dem Motto: je dichter der Zaun, desto höher der Preis. Eine unmittelbare Folge des nationalstaatlich motivierten Grenzschließungsreigens war das Ansteigen organisierter Kriminalität. Mädchenhandel, Kinderprostitution und Organhandel waren die Begleiterscheinungen dieser nicht durchdachten Politik. Nicht nur das. Besonders problematisch ist, dass die öffentlich zur Schau gestellte Absicht dieser Maßnahmen, die Menschen an der Einreise nach Österreich zu hindern, gar nicht erfüllt wurde. Zehntausende kamen über die Balkanroute nach Österreich und Deutschland. Man gaukelte also der Bevölkerung mit dramatischen Bildern vor, etwas erreicht zu haben, das in Wirklichkeit gar nicht der Fall war. Die Kosten dieser Maßnahmen fallen unter den Tisch, während man nicht müde wird tagtäglich vorzurechnen, was die Bevölkerung angeblich wegen der Unterstützung der Flüchtlinge verliert. Neidgefühle werden geschürt. Sie sind die Basis für die zerstörerische politische Energie, die sie sich in unserem Land breitgemacht hat und den Blick für die wirklichen Probleme, denen wir uns stellen sollten, vernebelt.