Außerordentlicher europäischer Gipfel: Rede von Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments am 23. April 2015 in Brüssel
Sehr geehrte Damen und Herren,
seit 20 Jahren bin ich Abgeordneter im Europäischen Parlament. Und seit 20 Jahren fordert das Europäische Parlament eine echte europäische Asyl- und Migrationspolitik. Heute könnte ich Ihnen dieselben Reden vortragen, die ich bereits vor 20 Jahren gehalten habe. Es ist traurig und tragisch zugleich, dass sich seit dem kaum etwas geändert hat. Vor unseren Augen vollzieht sich immer und wieder dieselbe Tragödie und noch mehr Menschen kommen im Mittelmeer um.
Die Nachricht, dass am letzten Sonntag schon wieder bei einem Schiffbruch vermutlich 800 Flüchtlinge ertrunken sind, hat uns fassungslos gemacht. Diese Flüchtlinge haben ihre Heimat verlassen. Wegen Krieg und Verfolgung. Aus Hungersnot und Armut. Sie kamen nach Europa auf der Suche nach Schutz. In der Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber sie fanden nur den Tod.
Heute ist das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt. Auf jeden Flüchtling, der es an die europäische Küste schafft, kommen Unzählige, die ertrinken – wie viele genau werden wir nie wissen. Jedes vor unserer Küste verlorene Menschenleben ist ein Schandfleck für Europa.
Jedes Mal, wenn ein Boot untergeht und die Menschen schreiend ertrinken, schwören wir: „nie wieder“. Wir halten Schweigeminuten ab. Wir legen Kränze nieder. Wir versprechen, dass ab jetzt alles anders wird. Und dann…
Viele machen „die EU“ für den Tod der Flüchtlinge verantwortlich. Aber es gibt überhaupt keine EU-Migrationspolitik. Es gibt einen Flickenteppich aus 28 verschiedenen einzelstaatlichen Systemen. Über die Migrationspolitik wird nicht in Brüssel entschieden. Die Entscheidungen, ob ein Land Flüchtlinge aus einem Kriegsgebiet aufnimmt, ob Asyl gewährt, eine Rückführung angeordnet oder eine Rettungsmission entsandt wird, fallen in London, Berlin, Paris, Rom, Riga oder Lissabon. Weil in den vergangenen 20 Jahren die Innenminister Ihrer Länder nicht in der Lage oder nicht willens waren, ein europäisches System zu entwickeln. Und weil es keine echt europäische Asyl- und Migrationspolitik gibt, verwandelt sich das Mittelmeer in einen Friedhof.
Unsere dringendste Aufgabe muss es sein, Leben auf See zu retten. Wenn Menschen vor unseren Augen ertrinken, ist es ein Gebot der Menschlichkeit, dass wir unsere Hand ausstrecken und sie retten.
Ich fordere Sie eindringlich auf, im Mittelmeer rasch und verstärkt Such- und Rettungsaktionen durchzuführen. Wir müssen die von Frontex koordinierten gemeinsamen Einsätze Triton und Poseidon im Mittelmeer verstärken, indem wir die Zahl der eingesetzten Schiffe, die Ausrüstungen und die finanziellen Mittel exponentiell erhöhen. Selbstverständlich hätten wir das schon vor Monaten, genauer gesagt, im Oktober letzten Jahres, tun können, als Triton anlief. Diejenigen hier am Tisch, die damals zögerten sich zu beteiligen, werden sich ganz gewiss an diese Diskussion erinnern.
Außerdem müssen wir die Reichweite der Einsätze erhöhen, damit geholfen werden kann, wenn Menschen ertrinken, und es nicht mehr vorkommt, dass es 48 Stunden dauert, bevor die in Seenot geratenen überhaupt erreicht werden. Das Humanitäre Völkerrecht verpflichtet einen jeden, Menschen aus Seenot zu retten. Ich appelliere an Sie: Handeln sie jetzt, damit nicht noch mehr Menschen ihr Leben verlieren!
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind heute in Brüssel zusammen gekommen, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen sterben. Aber unsere Verantwortung reicht weiter. Wir tragen auch den Überlebenden gegenüber Verantwortung.
Gemeinsam müssen wir einen humanen und zugleich realistischen Weg finden, wie wir mit Migration umgehen.Unser gemeinsames europäisches Handeln muss im Geiste der Solidarität stehen, und die Verantwortung muss fair auf alle Staaten der EU verteilt werden.
Ich glaube, dass wir, wenn wir uns um eine neue Asyl- und Migrationspolitik bemühen, zunächst einmal ehrlich sein sollten: Es gibt keine einfachen Antworten.
Meine Damen und Herren, Migration betrifft uns alle in unterschiedlicher Art und Weise. Der Druck ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch. Und die Verantwortung ist nicht gleichmäßig verteilt.
Italien, Malta, Griechenland, Zypern und Spanien sind unmittelbar betroffen, wenn Flüchtlinge über das Meer kommen. Weil Ihre Länder die Tore zu Europa sind. Innerhalb eines Jahres konnten dank der italienischen Such- und Rettungsaktion „Mare Nostrum“ mehr als Hunderttausend Menschenleben gerettet werden. Ich kann Italien für diesen humanitären Einsatz nur loben und danken.
Malta, ein Land mit 430.000 Einwohnern, ist für die Koordinierung von Such- und Rettungsaktionen in einem Gebiet von einer Viertelmillion Quadratkilometern zuständig. Eine völlig unverhältnismäßige Aufgabe.
In Deutschland stellt sich die Herausforderung völlig anders dar: Dort sind im letzten Jahr über 200.000. Asylanträge gestellt worden, ein Drittel aller in der EU eingereichten Anträge. In vier Mitgliedstaaten – Deutschland, Schweden, Italien und Frankreich – gingen mehr als zwei Drittel aller Asylanträge ein.
Klar ist: Wir müssen die Verantwortung im Geiste der europäischen Solidarität fair teilen. Denn es ist einfach nicht gerecht, die Mittelmeeranrainerstaaten mit der Migrationsfrage alleine zu lassen. Das Management der EU-Außengrenzen ist eine gemeinsame europäische Aufgabe und nicht Sache Maltas, Griechenlands, Zyperns, Spaniens oder Italiens. Es ist auch nicht fair, dass eine kleine Zahl von Ländern die Mehrheit der Flüchtlinge aufnimmt. Wir brauchen ein System, um die Flüchtlinge gerechter zu verteilen. Ich appelliere an jeden Einzelnen hier am Tisch, sich der Herausforderung zu stellen und seinen Teil der Verantwortung zu übernehmen.
Meine Damen und Herren,
letztes Jahr wurden in den EU-Mitgliedstaaten 626.000 Asylanträge gestellt, so viele wie nie zuvor. Manche behaupten, das seien zu viele. Aber nur in weniger als der Hälfte der Fälle wird Asyl auch gewährt. Vergleicht man diese Zahl mit der Zahl der 507Millionen Europäern, dann relativiert sich das schnell.
Und schauen Sie nur, was unsere Nachbarländer leisten: Nur fünf Prozent der syrischen Flüchtlinge haben Zuflucht in Europa gefunden, während allein der Libanon, ein Land mit fünf Millionen Einwohnern, eine Million Syrer aufgenommen hat. Kürzlich hatte ich Gelegenheit, im Flüchtlingslager Öncüpinar mit syrischen Flüchtlingen, die aus den Konfliktgebieten geflohen waren, zusammenzutreffen. Unter diesen tragischen Umständen war es herzerwärmend, das Lächeln auf den Gesichtern der Kinder zu sehen, die eine ordentliche Schulbildung erhalten. Mein Dank gilt den beeindruckenden Bemühungen der türkischen Regierung, die Menschenwürde dieser Flüchtlinge zu wahren.
Ja, wir können mehr tun. Vor allem, wenn wir zusammenarbeiten und unserer Verantwortung gemeinsam tragen.
Wir müssen einen Weg finden, Flüchtlinge fair, anständig und gleich zu behandeln, und zwar unabhängig davon, wohin es sie in Europa verschlägt. Aber heute werden Menschen, die aus denselben Gründen fliehen, in Europa höchst unterschiedlich behandelt – das ist häufig reine Glücksache. Manchen wird Asyl gewährt. Manchen wird gestattet, aus humanitären Gründen vorerst zu bleiben. Andere werden zurückgeschickt oder verbleiben irregulär im Land. Das Dublin-System gibt nach wie vor selbst unseren Gerichten Rätsel auf. Aber es kann doch nicht angehen, dass der Status und die Rechte Einzelner dem Zufall überlassen bleiben. Das ist absurd. Das ist unmenschlich.
Entscheidend ist, dass wir in der gesamten Union die gleichen Verfahrensgarantien haben. Ich möchte Sie, meine Damen und Herren, auffordern, den Mittelmeeranrainerstaaten bei der raschen Bearbeitung der Asylanträge über das europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen Hilfe zu leisten, damit Flüchtlinge nicht auf Dauer in überfüllten Auffangzentren ausharren müssen. Außerdem brauchen wir einen Mechanismus für die Umsiedlung und wir brauchen ihn jetzt.
Asyl ist auch gar nicht das richtige Instrument zum Umgang mit Migration – dafür war es auch nie vorgesehen. Beispielsweise müssen wir bei einem massiven Zustrom von Vertriebenen aus Konfliktgebieten dringend prüfen, ob wir nicht außerordentlichen vorübergehenden Schutz gewähren können – etwa ein verbindlicher Solidaritätsmechanismus und die Ausstellung von humanitären Visa. Das Europäische Parlament hat sich dafür ausgesprochen Menschen, die vor den aktuellen Konflikten fliehen, aus humanitären Gründen Neuansiedlung aus Drittländern zu gewähren. Wir sollten auch die Möglichkeit prüfen, Menschen außerhalb der EU Asyl oder Schutz beantragen zu lassen
Und wir müssen mehr Möglichkeiten für eine legale Einreise in die EU schaffen. Europa ist ein Kontinent der Einwanderung und der Auswanderung – das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Wir müssen uns dieser Realität stellen und eingestehen, dass wir ein EU-weites System brauchen, mittels dessen diejenigen, die kommen und arbeiten wollen,legal einwandern können. In manchen Mitgliedstaaten besteht wegen der alternden Erwerbsbevölkerung dringender Bedarf an Migranten, in anderen Ländern nicht. Wir müssen dieser Tatsache Rechnung tragen. Selbstredend bedeutet eine vernünftige Migrationspolitik für Europa, dass es Regeln gibt, und bei fairen Regeln gibt es nun mal Einschränkungen und Prioritäten. In den Vereinigten Staaten, in Kanada oder Neuseeland gibt es ein System für die legale Zuwanderung. Ein System mit klaren Kriterien: Wer darf kommen und wer nicht.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Europa braucht eine kohärente und berechenbare Strategie in Sachen Asyl und Migration. Der Zehn-Punkte-Plan der Kommission, der von allen Außen- und Innenministern am Montag dieser Woche unterstützt wurde, ist ein positiver Anfang. Das Europäische Parlament erwartet jetzt von der Kommission, dass sie nächsten Monat einen ehrgeizigen und umfassenden Vorschlag sowohl für die Asyl- als auch für die Migrationspolitik vorlegt. Herr Juncker, einige Minuten, bevor Sie am 15. Juli letzten Jahres vom Europäischen Parlament zum Kommissionspräsidenten gewählt wurden, sagten Sie in Ihrer Rede vor dem Plenum, in Ihrer Amtszeit werde die Migration „eine Priorität“ sein. Wir erwarten jetzt, dass Sie Ihrem Versprechen Taten folgen lassen!
Meine Damen und Herren,
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft – von Libyen bis zur Ukraine, von Gaza bis Irak und Syrien – sind wir mit humanitären Krisen nie dagewesenen Ausmaßes konfrontiert, die die Folge von Bürgerkriegen, Konflikten und Auflösung staatlicher Strukturen sind. Und wir sind gefordert, mehr zu tun.
Wir müssen die Ursachen der Migration bekämpfen, nicht die Migranten. Das heißt, wir müssen unter anderem im Wege von Abkommen über Migrationssteuerung und Mobilitätspartnerschaften enger mit den Herkunfts- und den Transitländern zusammenarbeiten. Die fortdauernde Instabilität in Libyen hat dazu geführt, dass der Menschenhandel vortrefflich gedeiht. Er hat sich zu einem Geschäftsmodell entwickelt, mit dem Abermillionen Dollar verdient werden! Diese kriminellen Menschenhändler schlagen Profit aus dem Elend der Menschen und gefährden deren Leben, indem sie sie in völlig morschen Booten auf die gefährliche Reise übers Mittelmeer schicken.
Gegen die Netzwerke des Menschenhandels muss etwas unternommen werden. Wir müssen jetzt unser Äußerstes geben, um auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft kriminelle Menschenhändler zu bekämpfen.
Aber dies kann nur ein Teil der Lösung sein – die Menschenhändler werden nämlich andere Routen auftun, solange die Nachfrage groß ist und Menschen glauben, dass sei ihre beste Chance. Wir müssen die Gespräche, die derzeit unter der Federführung der UNSMIL zwischen den politischen Kräften in Libyen geführt werden, unterstützen und die diplomatischen Vertreter der Maghreb-Staaten darin einbinden. Es steht zu hoffen, dass diese Bemühungen der regionalen Mächte und die der UN in Libyen zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit führen werden. Dies ist der Schlüssel für die Stabilisierung des Landes und die EU muss hierbei umfassende Hilfe leisten, nicht zuletzt bei der Reform im Sicherheitsbereich.
Natürlich ist es gut und richtig, die Ursachen für die Flucht aus den Herkunftsländern bekämpfen zu wollen. Man darf allerdings die Aufrichtigkeit dieses Ziels durchaus in Zweifel ziehen, wenn gleichzeitig die internationale Hilfe gekürzt wird, wie im letzten MFR geschehen. Unter den Fraktionschefs sind heute Stimmen laut geworden die grundlegende Erhöhung der Mittel für internationale und humanitäre Zusammenarbeit zur Bedingung für die Zustimmung zum EU Haushalt 2016 zu machen. Abgesehen davon darf die Debatte über diese langfristige Zielsetzung keine Ausflucht dafür sein, den dringenden Bedarf an Soforthilfe zu ignorieren.
Das Europäische Parlament ist der Ansicht, dass die EU Migration, humanitäre Hilfe, Entwicklung und Sicherheit besser miteinander verzahnen muss. Aber auf keinen Fall dürfen wie bisher häufig geschehen die verschiedenen Politikbereiche gegeneinander ausgespielt werden. Die Mittel müssen gezielter eingesetzt und gebündelt werden
Ich versichere Ihnen, dass sich das Europäische Parlament in der laufenden Debatte über Asyl- und Migrationspolitik stets für Solidarität einsetzen wird. Wir werden konstruktiv an Maßnahmen arbeiten, die human und realistisch zugleich sind und auf unseren europäischen Werten gründen. Und wir stehen jetzt, da Sie diesen Europäischen Rat einberufen haben, an Ihrer Seite, wenn Sie heute eine Asyl- und Migrationspolitik auf den Weg bringen, die den Erfordernissen der Zeit auf humane und effektive Weise gerecht wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.