Bericht über eine Reise in den Nordirak von 1.-3. Juni 2016
Eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit kommt Hazim Kuli am Freitagmorgen in unser Hotel im nordirakischen Dohuk. Erst am Vorabend war es uns gelungen, ihn telefonisch zu erreichen. Wir waren etwas unsicher, ob es richtig war, ihn zu kontaktieren, aber es schien, als hätte er auf unseren Anruf gewartet. Er sagte uns, dass er sich freue, weil ihn jemand aus Österreich kontaktierte, dem Land, wo am 27. August die Leichen seiner Kinder Elin und Alend und seines Bruders Herish gefunden wurden. Sie waren auf grausame Weise zusammen mit 68 anderen Menschen im August des Vorjahres in dem von Schleppern verschlossenen Kleinlastwagen Nahe dem Ort Parndorf im Burgenland erstickt. Auf seinem Handy hat er sorgfältig alles gespeichert: Fotos seiner Lieben, vom Abschied an der Grenze zur Türkei, die letzte „WhatsApp“-Nachricht aus Serbien. Gegen Ende des Gesprächs zeigt er dann ein besonders bedrückendes Bild. Ich erkannte es sofort, obwohl ich mich damals geweigert hatte, es anzusehen. Es war in der österreichischen Boulevardpresse erschienen. Er wollte wissen, ob es echt sein könnte. Ich bejahte. Aus dem Leichenknäuel ragte eine Hand heraus. Er vergrößerte den Bildausschnitt und zeigte mir zum Vergleich ein Foto der Hände seiner Tochter Elin: „Das ist sie. Wenn ich das gewusst hätte. Aber ich habe es gut gemeint. Meine Kinder sollten eine sichere Zukunft haben. Aber als Jeside muss man hier täglich um sein Leben fürchten. Wir haben unsere Ersparnisse in die Schlepper investiert. Sie haben versprochen, sie sicher nach Deutschland zu bringen.“ Die Tragödie von Parndorf und von Hazim Kuli zeigt, wie nahe die Geschehnisse im Irak sind und uns betreffen.
Der Heilige Berg
Es ist verständlich, dass viele Jesiden ihre angestammte Heimat verlassen wollen. Immer wieder waren sie der Verfolgung ausgesetzt. Ihre Geschichte erzählt von 74 Versuchen, dieses Volk mit einer 4000 Jahre alten Religion auszurotten. Der wohl Schrecklichste ist seit August 2014 im Gang. Die Daesh-Terroristen haben die Jesiden, die sie als Teufelsanbeter denunzieren zur Vernichtung bestimmt. Tausende Ermordete, tausende versklavte Frauen, zwangsislamisierte Kinder so wie hunderttausende Flüchtlinge und Vertriebene sind die schlimme Bilanz. Die Jesiden haben sich tapfer gewehrt. Vor allem im Sindschar Gebirge. Hierhin hatten sich zehntausende Jesiden zurückgezogen, als die kurdischen Peschmerga in jenem schrecklichen, heißen Sommer die seit jeher von religiösen Minderheiten (Jesiden, Christen, Schabak) besiedelte Nineveh Ebene fluchtartig dem Deash/IS überlassen hatten. Sie mussten aus der Luft versorgt werden, bis die der PKK nahestehenden Volksverteidigungseinheiten YPG/PYD den Korridor nach Syrien freikämpften.
Die Stadt Sindschar am Fuß der Berge war ein wichtiger Knotenpunkt für die Terroristen. An der Verbindungslinie zwischen Mossul, der größten von Daesh/IS kontrollierten Stadt und ihrer heimlichen Hauptstadt Raqqa gelegen. Nach intensiven Kämpfen an denen sich, die aus der YPG hervorgegangen YPS, sowie die jesidischen Streitkräfte von Heydar Shesho und die Peschmerga beteiligten, konnte die Stadt Mitte November mit westlicher Luftunterstützung befreit werden. Sie war menschenleer und völlig zerstört. Kyrillische Graffiti erinnern daran, dass sich unter den Terrorbanden auch sogenannte „Foreign Fighters“ befanden, wie Tschetschenen, aber auch einige aus dem westlichen Ausland. Ein Kommandant zeigte mir das Foto einer österreichischen E-Card, die er bei einem getöteten Kämpfer gefunden hatte.
Die Schatten der Verbrechen
Wir waren einen ganzen Tag in den Bergen unterwegs. Vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit. Gut beschützt, weil die Gefahr überall lauerte. Das Niemandsland, das die befreiten Regionen von den Gebieten der Daesh/IS trennt, oft in Sichtweite. Alle waren wir angespannt, auch unsere Beschützer. Wie gerne hätte ich mich an der Schönheit der Landschaft erfreut, aber die Vorstellung, dass hier vor Kurzem schreckliche Dinge passierten – in der Sprache der Juristen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – ließ dies nicht zu. Und dann die Massengräber.
Notdürftig umzäunt, um die Hunde daran zu hindern, sich über menschliche Knochen herzumachen. 24 solcher Gräber wurden bisher entdeckt, über 40 werden vermutet. Hier wurden Menschen verscharrt, die man nicht weit entfernt aufgegriffen und nach bestimmten Kriterien wie Geschlecht aussortiert hatte. Buben wurden am Leben gelassen und mitgenommen, um sie unter Zwang zu Muslimen zu machen, Mädchen und Frauen waren für Sklavenmärkte bestimmt und alle Alten und Gebrechlichen wurden ermordet. Noch immer warten die Zuständigen auf die internationale Gemeinschaft, um unter deren Aufsicht die Toten zu exhumieren und Beweismittel für ein künftiges Kriegsverbrechertribunal zu sammeln. Die Gräber werden in ihrem ursprünglichen Zustand belassen, um keine Vorwürfe von Manipulation aufkommen zu lassen. Für einen Neuanfang braucht es einen Schlussstrich. Die Verbrecher müssen vor ein unabhängiges Gericht gestellt werden. Auch jene gehören vor Gericht, die mit Frauen auf Sklavenmärkten gehandelt haben, sie vergewaltigten und ausnutzten, um sich schließlich auch noch am Lösegeld zu bereichern. Am letzten Tag traf ich eine 20-jährige Frau, die von ihrem Bruder ein paar Tage zuvor um über 20.000 Dollar freigekauft worden war. Sie wurde gemeinsam mit ihren Schwestern im August 2014 gefangen genommen und in Raqqa um 300$ an ihren Peiniger verkauft. Insgesamt hat Daesh/IS laut UN Generalsekretär Ban Ki-moon mit Frauen- und Mädchenhandel mindestens 45 Millionen Dollar erpresst.
Vor einem neuen Konflikt?
Ein halbes Jahr ist seit der Befreiung vergangen. Aber normales Leben will noch immer nicht einkehren. Obwohl es nach wie vor zu einzelnen Terroraktionen kommt, ist die militärische Lage weitgehend unter Kontrolle, viele Menschen wollen zurück. Die kurdische Regionalregierung in Erbil kontrolliert den Zugang zum Gebirge und die rivalisierenden Milizen kontrollieren sich gegenseitig. Vor allem aus Ankara wird Druck auf Erbil ausgeübt. Am liebsten möchte man die der PKK nahestehenden Milizen vertreiben. Die Lage ist schwer überblickbar, weil jede Seite eine andere Geschichte erzählt. Wir haben die unterschiedlichen Parteien getroffen und sehr offene Gespräche geführt. Alle sind daran interessiert, ein sicheres Umfeld zu schaffen, um den Jesiden eine rasche Rückkehr zu ermöglichen. Aber sie haben unterschiedliche Vorstellungen und Ansprüche. Vieles scheint unüberbrückbar. Es wäre fatal, wenn nach dem tapferen Kampf der Jesiden in den Bergen jetzt innere Rivalitäten die Zukunft gefährden würden. Die Nervosität ist auch deswegen so groß, weil sich die politische Situation zu ändern beginnt. Es wird wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, bis Daesh/IS aus Falludscha und Raqqa vertrieben sind und dann geht es um die Millionenstadt Mossul. Die darauffolgenden Fluchtbewegungen könnten die Stabilität der Region erneut auf die Probe stellen. Eigentlich sollten schon jetzt Bedingungen dafür geschaffen werden, dass Jesiden und Christen wieder gesichert in ihren angestammten Gebieten leben können. Dafür scheinen sich nur wenige zu interessieren. Es geht vielmehr um Bedienung von partikularen Eigeninteressen. Kurdische Regionalregierung vs. irakischer Zentralstaat, Kurden gegen Jesiden und Christen, Peschmergen gegen PKK, Sunniten gegen Schiiten usw. Dahinter natürlich die Regionalmächte Türkei und Iran. Und auch das nicht immer selbstlose Engagement des Westens zählt da dazu.
Wir brauchen Schutzzonen in den Herkunftsregionen
Es wäre verfehlt, alles dem Zufall zu überlassen und abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Warlords können Kriege gewinnen, aber im Frieden braucht es demokratische Institutionen, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Bei dem Treffen mit der Familie des Mir (der obersten Autorität der Jesiden) dem religiösen Führer, dem Bawa Sheikh, Mitgliedern des Rates und jesidischen Mitgliedern der PDK (Demokratische Partei Kurdistan) haben wir die Situation eingehend besprochen. Damit die Jesiden wieder eine Zukunft im Irak haben, braucht es Garantien für eine autonome Entwicklung: seitens des Iraks, der kurdischen Regionalregierung und der internationalen Gemeinschaft. Dieses Konzept muss auch die verschiedenen christlichen Gemeinschaften und andere Minderheiten mit einschließen. Europa könnte hier von großem Nutzen sein: beim Aufbau demokratischer Strukturen und einer unabhängigen Justiz, besonders bei der Verfolgung der Kriegsverbrechen von Daesh/IS, an denen schließlich auch viele Staatsbürger europäischer Staaten beteiligt waren. Wir waren uns auch darüber einig, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, Versöhnungsschritte gegenüber sunnitischen Arabern einzuleiten. So schwer dies auch angesichts der begangenen Verbrechen sein mag. Und es braucht – schon aus Eigennutz Europas- eine großzügige finanzielle Unterstützung der jesidischen Binnenflüchtlinge (IDPs), Mittel für Wiederaufbau und Schaffung von Wohnraum sowie Investitionen in Bildung und Qualifikationsmaßnahmen. Dabei dürfen wir unsere jesidischen Freunde nicht alleine lassen. Wir müssen partnerschaftliche Strukturen entwickeln. Die Voraussetzungen sind gut, weil es eine sehr gut integrierte jesidische Diaspora in Europa gibt. Vor allem dürfen wir aber die tausenden traumatisierten Jesidinnen, die als Sklavinnen missbraucht wurden, nicht vergessen und müssen gerade ihnen in Europa die Hilfe bieten, die sie benötigen